Zwei Kolumbianer in New York

Jorge Francos Roman »Paraíso Travel« zeigt den Alltag illegaler kolumbianischer Einwanderer in New York. von knut henkel

Das Pärchen Reina und Marlon aus Medellin träumt von einem besseren Leben in den USA. Die dubiose Schleuseragentur »Paraiso Travel« verspricht, die beiden über Guatemala und Mexiko in die USA zu bringen. Gegen harte Dollar versteht sich, die sie einem Verwandten klauen. Treibende Kraft ist dabei die resolute Reina, die Marlon zu seinem vermeintlichen Glück beinahe zwingen muss. Doch als die beiden endlich und mit den letzten Dollars in New York angekommen sind, werden Marlon schon die ersten Schritte vor die Tür der Absteige zum Verhängnis. Als ihm ein Polizist die Hand auf die Schulter legt, gerät er in Panik, flieht, hetzt durch die Straßen und verliert die Orientierung und damit auch Reina, die er im Zimmer zurückgelassen hat. Durch die Straßen New Yorks irrt der junge Kolumbianer auf der Suche nach der Geliebten, bettelnd, verwahrlost, bis er das Lokal »Tierra Colombiana« entdeckt und dort aufgenommen wird.

Als er das erste Mal ins Restaurant hineinstolpert, verschreckt er die Gäste, fliegt in hohem Bogen wieder raus und lässt sich an der nächsten Straßenecke nieder. Doch er hat Glück. Schon am ersten Tag versorgt die Frau des Restaurantbesitzers den Verwahrlosten mit Essen, am vierten Tag hat sie sich gegen ihren Mann durchgesetzt und bringt den »Haufen Lumpen, der das Gleichgewicht zu halten« versucht, in einem Verschlag im Keller unter. Als er nach wenigen Tagen leidlich wiederhergestellt ist, beginnt er, im »Tierra Colombiana« die Toiletten zu putzen – der erste Job für den jungen Mann aus Medellín im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Ein typischer Start für die Emigranten aus Kolumbien, die es ohne Papiere in die USA schaffen. Auswandern und dann ganz unten anfangen – eine Entscheidung, die viele Kolumbianer in den letzten Jahren für sich getroffen haben. Rund fünf Millionen sollen es offiziellen Schätzungen zufolge sein, die ihrem Land den Rücken gekehrt haben und in Venezuela, Mexiko, den USA oder Spanien leben, oft ohne Papiere, ohne Rechte und gewöhnlich am unteren Ende der sozialen Hierarchie.

Für den 1962 in Medellin geborenen Schriftsteller ist das eine bittere Erkenntnis. Zwei Monate hat Jorge Franco im New Yorker Stadtteil Queens für seinen Roman »Paraíso Travel« recherchiert und sich mit dem Alltag, den Ängsten, Träumen und Schicksalsschlägen der Emigranten vertraut gemacht. »Hart ist es zu sehen, dass die Jugend meines Landes es vorzieht zu emigrieren, um in einem Land der ersten Welt Pissoirs zu schrubben«, so Franco. Eine der Folgen von Perspektivlosigkeit, Bürgerkrieg und Rechtlosigkeit in einem zerrütteten Land, das der Jugend kaum etwas zu bieten hat. Arbeitsplätze sind chronisch knapp; auch Marlon hält sich nur mit Gelegenheitsjobs über Wasser und hat keinen Schimmer, was ihm die Zukunft in Medellín bringen könnte. Typisch für die Situation in Francos Heimatstadt, wo Auftragskiller schon mal wegen unbezahlter Rechnungen in Marsch gesetzt werden und Jugendliche sich den Drogenbaronen, aber auch den Paramilitärs oder der Guerilla andienen.

Diesen Realitäten hat sich Franco verschrieben, der die Situation in seinem Herkunftsland schildert, statt sie zu verklären. Damit hat er sich nicht nur den Respekt vom Altmeister Gabriel García Marquez erschrieben, sondern auch ein hohes Maß an Popularität zwischen Barranquilla und Bogotá. Vor allem die Jugend hat den Autoren für sich entdeckt. In Kolumbien ist »Paraíso Travel« längst ein Bestseller, der für die junge Garde der Schriftsteller steht, die die Nachfolge von García Marquez und Álvaro Mutis angetreten hat und sich vom Alltag in den Metropolen wie Bogotá, Medellín und Cali inspirieren lässt.

Franco geht dabei von den Verhältnissen in Medellín aus. In seinem Debütroman »Die Scherenfrau« schildert er das Leben einer Auftragskillerin und ihrer beiden Freunde aus gutbürgerlichem Haus. In »Paraíso Travel« dient Medellín hingegen nur als Sprungbrett in eine bessere Zukunft.

Die unglückliche Liebesgeschichte von Reina und Marlon steht im Zentrum des zweiten Romans von Jorge Franco. Sie dient ihm als Fokus, um die Lebensumstände der illegalen Latino-Community in New York zu betrachten. Deren Nöte, Ängste und Träume lässt er Marlon durchleben. Mitten in der Nacht muss er seine Bleibe fluchtartig verlassen, weil die Polizei anrückt, um einen Mord zu untersuchen. Papierlos gleich rechtlos – das ist die Realität, mit der Marlon konfrontiert ist; schon das Wort Polizei löst bei ihm eine Gänsehaut aus. Sei es im Bus nach Miami, wo der Fahrer auf seine guten Kontakte zur Polizei hinweist, um seine Passagiere einzuschüchtern und um sie zu zwingen, sich an seine Regeln zu halten; sei es in der U-Bahn in New York. Marlon landet ganz unten und ist auf die Hilfe seiner Landsleute im Mikrokosmos von New York angewiesen.

Der Alltag unterscheidet sich nicht wesentlich von dem in Kolumbien. »In Queens funktioniert alles nach den gleichen Regeln, und es gibt die gleichen Probleme, die ich aus Medellín oder Bogotá bestens kenne«, erklärt Franco das Ergebnis seiner Recherchen mitten in New York. »Paramilitärs, Guerilla oder Drogenhändler sind in Queens genauso präsent wie Entführung und Erpressung, aber auch die Solidarität und gegenseitige Hilfe.« Von dieser profitiert Marlon bei seiner Suche nach Reina immer wieder. Er findet sie am Ende des Romans schließlich in Miami.

Doch für ein Happy End, die Verwirklichung des amerikanischen Traums auf kolumbianisch, ist in Francos »Paraíso Travel« kein Platz. Er schaut der harten Realität ins Auge und hat genau damit in Kolumbien viele Fans gewonnen. Unter anderem auch Pop-Sänger Juanes, den »Die Scherenfrau« zu einem Song inspirierte und der »Paraíso Travel« zu seinen Lieblingsbüchern zählt. »Weil es eindringlich zeigt, dass die Flucht ins Ausland keine Lösung der persönlichen Probleme mit sich bringt.« Ein Dilemma, dass Franco eindringlich schildert, ohne den Leser mit Belehrungen zu nerven. Ein spannender Roman über den amerikanischen Traum, der sich in einen Alptraum für die illegalen Einwanderer verwandelt.

Jorge Franco: Paraíso Travel. Aus dem Spanischen von Susanne Mende. Unionsverlag, Zürich 2005, 280 S., 19,90 Euro