Ey, hast du Krebs?

Revolte und Regression

von carlos kunze

Die Revolte in den französischen Vorstädten war alles andere als unvorhersehbar. Bereits vor einem guten halben Jahr warnte amnesty international in einem Bericht davor, dass die Banlieues explodieren würden, sollten die polizeilichen Übergriffe nicht gestoppt werden. Die Dynamik, die die Revolte seit anderthalb Wochen entfaltet hat, scheint unaufhaltsam. Die rein polizeiliche Verwaltung der Krise in den Banlieues wird durch die Revolte selbst in die Krise gestürzt. Das erklärt die hilflose Panik, die in den französischen Regierungskreisen ausbricht. Mehr von dem gleichen repressiven Placebo: Das ist die staatliche Antwort.

Die Nerven liegen blank, wie es eine Reportage über eine Lyoner Vorstadt auf dem Fernsehkanal TF 1 am Sonntagabend zeigte, die im Internet gepostet wurde. Bei einer polizeilichen Identitätskontrolle kommt es zu einem Wortwechsel zwischen einem Jugendlichen und einem Flic. »Ey, hast du Krebs? Hast du deshalb ’ne Glatze?« wird dem Flic zugerufen. »Was ist los? ! ... Wir werden dich in einen Trafo stecken!« lautet die Antwort. Darauf die Replik: »He! Aber, meine Herren, so wird die Ruhe nicht wieder einkehren …« Und der Flic meint: «Die Ruhe ist uns scheißegal! Wenn es hier chaotisch ist, ist es umso besser für uns. Wir sind keine Sozialarbeiter.«

Das sind sie tatsächlich nicht. Und auch die Akteure der Revolte sind keine reinen Engel, deren Aktionen unmittelbar auf eine emanzipatorische Revolution verweisen. Es sind männliche Jugendliche, denen die Gesellschaft keine Perspektive bietet. Sie schlagen sich durch: mit Sozialknete, mit prekären Jobs in ihren so genannten Communitys, in denen ihnen die Drecksarbeit zugeschanzt wird, unter Bedingungen, die jeden Gedanken an auch nur gewerkschaftliche Organisierung zunichte machen. Sie jobben in den illegalen Kreisläufen, in denen nur den Skrupellosesten der Aufstieg gelingt. Ein Teil der Ökonomie in den Banlieues wird von Banden und Rackets bestimmt. Die bürgerlichen Verkehrsformen, zu denen auch der durch einen Arbeitsvertrag bestimmte Verkauf der Arbeitskraft gehört, haben sich in den Vorstädten zum Teil zugunsten unmittelbarer Gewaltverhältnisse aufgelöst.

Die gesellschaftliche Hierarchie reproduziert sich auch in den Banlieues, und härter noch als in den besser gestellten Vierteln. Davon zeugt schon die Existenz der Organisation »Ni putes ni soumises« (Weder Huren noch Unterworfene), in der sich Frauen gegen die ausufernde, oft islamisch aufgeladene machistische Gewalt wehren – sicher unter sozialdemokratischen Vorzeichen, aber das ist immer noch besser als die geballte Ignoranz vieler Linker gegenüber diesem Problem. Die Steinigung einer jungen Frau durch drei Jugendliche hinter einem Supermarkt in Marseille im vergangenen Jahr zeigt, wie sich die Verhältnisse verschärft haben. Auf einer anderen Ebene belegt ein Vorfall im Frühjahr, dass aus den Banlieues auch die reine Regression kommen kann: 800 bis 1 000 Jugendliche überfielen damals eine Schülerdemonstration, um sich Handys, Geld und Markenklamotten anzueignen. Alle gegen alle, war da die Devise, und wer schwach ist, gilt als Freiwild.

Durch die Revolte ist offensichtlich geworden, was zuvor verdeckt war: Die schon immer zweifelhafte »Integration« in und durch die Lohnarbeit hat sich in den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit erledigt. Die irrationalen und selbstzerstörerischen Züge, die die Rebellion auch trägt, verweisen darauf, dass nicht nur aus dem staatlichen Vorgehen, sondern auch aus ihr selbst eine weitere Verhärtung der gesellschaftlichen Verhältnisse resultieren kann.