Die sanfte Landung

Von der kollektiven Hysterie nach der Bundestagswahl zur klaglosen Akzeptanz der großen Koalition: Die SPD ist wieder bei sich selbst angekommen. von felix klopotek

War da was? Am Nachmittag des 31. Oktober stand die Bundesrepublik mal wieder vor einer großen Krise. Franz Müntefering trat von seinem Posten als Vorsitzender der SPD zurück, und alles schien gefährdet: die SPD, die große Koalition, die Zukunft Deutschlands. Einen Tag später war Matthias Platzeck als Nachfolger Münteferings gekürt, zehn Tage später der Koalitionsvertrag unter Dach und Fach, zwei Wochen nach jenem Montag stimmte der Parteitag der SPD den ausgehandelten Ergebnissen zu und wählte Platzeck mit annähernd 100 Prozent zum neuen Vorsitzenden. Krise? Das war gestern.

Das Tempo von Krise, Gegenreaktion und Aufbruch beeindruckt und weckt den Verdacht, dass alles ein abgekartetes Spiel mit drei absehbaren Resultaten gewesen sein könnte. Erstes Resultat: Der alte Müntefering ist als Vizekanzler und Arbeitsminister ein Mann des Übergangs. Er hat keine politische Zukunft mehr und dürfte allein deshalb jede Menge Drecksarbeit zur Durchsetzung neuer sozialer Grausamkeiten übernehmen, während im Hintergrund und dabei an zentraler Stelle der jüngere Matthias Platzeck zum Kanzlerkandidaten reifen kann.

Zweites Resultat: Sollte die so genannte SPD-Linke tatsächlich der Illusion gefolgt sein, mit der möglichen Wahl von Andrea Nahles zur Generalsekretärin der Hegemonie in der Partei näher zu kommen, um so die mittelfristig angestrebte rot-rot-grüne Koalition vorzubereiten, dürfte sie nun endgültig düpiert und in aller Öffentlichkeit diskreditiert sein.

Drittes Ergebnis: Die Parteistrategen dürften genüsslich beobachtet haben, dass letztlich doch die Presse nach den Maßgaben der Politik ihre Hysterie ausagiert. Am 1. November waren die Zeitungen noch in heller Aufregung, während mit der Nominierung Platzecks schlagartig und wie auf Befehl Ruhe einkehrte.

Aber die Krise der SPD und ihre schnelle Überwindung war nicht nur ein Spiel, um Machtpositionen auszuhandeln und abzusichern, sondern bringt die Widersprüche in der SPD in eine Form, die die Partei zunächst ruhigstellen dürfte. In der SPD herrschen zwei unterschiedliche, sich durchaus widersprechende Arten von Gerede. Das eine sagt, es gebe in Deutschland erstmals eine linke Mehrheit; die SPD brauche, um zu regieren, keinen bürgerlichen Koalitionspartner mehr. Das andere Gerede fordert dagegen: »Wir dürfen uns nicht drücken! Wir müssen Verantwortung übernehmen!« Die SPD müsse mit der anderen Volkspartei in einem beispiellosen Kraftakt« Deutschland »wieder nach vorne bringen«.

Mit dem Übergang von Müntefering zu Platzeck gibt man zu erkennen, dass die alte, unter Rot-Grün bereits regierende Garde noch den Weg in die große Koalition antritt, während Platzeck den Neuanfang vorbereiten soll. Tatsächlich hat er auf dem Parteitag von der »linken Mitte« gesprochen und davon, dass Deutschlands Zukunft rot sei.

Dabei ist Platzeck kein Linker in der SPD, sondern ein am ostdeutschen Elend geschulter Pragmatiker. Als brandenburgischer Ministerpräsident trauert er keinem »rheinischen Kapitalismus« hinterher, weil er seit jeher den Abbau industrieller Strukturen, massenhafte Arbeitslosigkeit und Abwanderung der Bevölkerung, eben den sozialen Abstieg einer ganzen Region zu verwalten hat. Es ist anzunehmen, dass ein möglicher zukünftiger Kanzler Platzeck, darin Angela Merkel ähnlich, keine westdeutsch geprägten Sentimentalitäten bei der weiteren Demontage sozialer Sicherungssysteme zeigen würde. Die Kahlschlagpolitik auf dem Gebiet der früheren DDR holt irgendwann vielleicht die ganze Bevölkerung ein.

In Platzeck finden die widersprüchlichen Überzeugungen in der Partei zur Synthese: Er steht für einen Neuanfang, für die Option auf die linke Mehrheit, und gleichzeitig ist er Pragmatiker, ein Technokrat und Manager des Elends. Dazu passt, dass sein Aufstieg mit seinem Engagement während der Oderflut vor acht Jahren begann.

»Soft landing« hat Finanzminister Peer Steinbrück den Vorgang genannt, den die SPD mit ihrem Parteitag abgeschlossen hat und der den Weg von der kollektiven Hysterie auf den Wahlpartys der SPD zur klaglosen Akzeptanz einer großen Koalition unter Führung der CDU beschreibt. Unfreiwillig bringt er den Zustand moderner Gefolgschaften auf den Punkt: Sie müssen in der Schwebe von Besinnungslosigkeit und Ernüchterung gehalten werden, und zwar so, dass sie hinterher nicht über ihre Besinnungslosigkeit nachzudenken brauchen und ihre Ernüchterung als Aufbruchsstimmung verstehen. Die Stimmung auf dem SPD-Parteitag war jedenfalls durchweg dufte.

Selbstverständlich sind die Ereignisse der vergangenen drei Wochen, der Zeitspanne zwischen Münteferings Sturz und der Besiegelung des Koalitionsvertrags, eine Einübung der Bevölkerung in den gegenwärtigen und vor allem zukünftigen Zustand der Gesellschaft. Wenn einerseits die linke Mehrheit in Deutschland konstatiert wird (sie verspricht ja ein Revival des Sozialstaats), andererseits die SPD eben davon souverän keinen Gebrauch macht, dann heißt das, dass es die SPD sein dürfte, die die Bedingungen definiert, unter denen eine linke Mehrheit sich zur Regierungsmacht formiert. Und diese Bedingungen leiten sich aus der Kontinuität der rot-grünen und jetzt schwarz-roten Sozialdemontage ab. Die SPD dürfte also nur dann von der linken Mehrheit Gebrauch machen, wenn die Linkspartei sich von Anfang an bereit zeigt, klein beizugeben.

Letztlich bekämpft die SPD ihre eigenen Chimären. Sie ist im parlamentarischen System Deutschlands angeblich dazu da, sich um die Belange der kleinen Leute, der Lohnabhängigen, zu kümmern. Die kleinen Leute sollen sich via Bildung, jahrzehntelang der SPD-Fetisch schlechthin, Mitbestimmung und Arbeiterstolz nach oben rackern können. (Man denke dabei nur an Schröders Aufstieg aus dem Subproletariat.) Das Engagement für diese Klientel findet seine Grenzen jedoch in den Erfordernissen des nationalen Kapitals. Deswegen zieht jede Regierungsmannschaft der SPD irgendwann den Zorn ihrer Basis auf sich, die sich etwas mehr Betreuung wünscht. Die SPD erhält ihre produktive wie autodestruktive Energie aus der Spannung, die dieser Differenz zugrunde liegt.

Münteferings Abgang kommt einer neuerlichen Spannungsentladung zuvor; mit Platzeck ist jemand gefunden, der in sich die Hoffnung auf einen Aufbruch und die vermeintliche Einsicht, dass es nur noch auf die knallharten Pragmatiker ankommt, vereinigt. Ihm zur Seite stehen die technokratischen »Netzwerker«, etwa die Clique um Sigmar Gabriel, und die unterwürfige Linke, die durch die Wahl von Andrea Nahles in den Parteivorstand großzügig wieder eingemeindet wurde.

Damit werden die Realpolitik und die Utopie in der SPD versöhnt. Die Basis wird so schnell nicht wieder rumoren, es sei denn, Platzeck unterlaufen wider Erwarten grobe machtstrategische Schnitzer. Sollte demnächst bei den Lohnabhängigen hierzulande der Wunsch nach sozialer Sicherheit und einer Zukunftsperspektive wachsen, dann besteht immerhin die Chance, dass er sich nicht mehr an die SPD richtet.