Serie über den Rock der siebziger Jahre, Teil drei

Das große Missverständnis

Von Uli Krug

Kraut-Rock oder warum sich das musikalisch wüsteste Kapitel der Rockgeschichte ausgerechnet in Westdeutschland abspielte.

Das große, psychedelische Experiment 1967/68 gab den Startschuss für viele bis­herige Entwicklungsländer der Rockmusik: In Deutschland und Italien kam es zu einer regelrechten subkulturellen Eruption, wie es sie in diesem Ausmaß seit den ästhetisch-habituellen Umwälzungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs nicht mehr gegeben hatte. Der Musikhistoriker Piero Scaruffi sagt dazu: »Italien hatte keine nennenswerte Rocktradition. Der Progressive-Boom war vielmehr die unbeabsichtigte Folge zweier Phänomene: einer großen Zunahme von mit der Klassik vertrauten Musikern und der Studentenrevolte 1968. Ein Jahr später, 1969, strotzte Italien vor jungen, gebildeten Musikern, die die Welt aus den Angeln heben woll­ten. Sie identifizierten sich mit der Hippie-Ideolo­gie, hielten aber an der Bach­­schen Musiksprache fest. Genau aus diesem Gegensatz entstand der italienische Progressive Rock.« Dem erfolgreichsten seiner zahlreichen Exponenten, Premiata Forneria Marconi, sollte es 1972 als erster einheimischer Rockgruppe gelingen, die LP-Charts des Landes anzuführen.

Und der »Kraut-Rock«, der als Sammelbegriff für recht verschiedene Strömungen des Progres­sive Rock in der Bundesrepublik steht? Zwischen seinen Protagonisten und der politischen Revolte bestand auch eine enge, aber selten textlich artikulierte Verbindung: »Die radikale Erweiterung des musikalischen Materials, freie Improvisationen etc. wurden auch in politischen Dimensionen verstanden, bei Musikern wie bei Hörern. Dissonanzen, pfeifende Rückkopplungen vor dem Hintergrund von Demonstrationen, Sit-Ins, Straßenschlachten mit der Polizei. Die Musik lieferten sehr häufig Bands, die ohne Texte arbeiteten wie Agitation Free« oder die frühen Embryo (beides absolute Klassiker des jazzigen Space-Rock), rekapituliert Tibor Kneifs Standardwerk »Rock in den 70ern«. Tatsächlich fiel der deutsche Progressive Rock ästhetisch häufig viel radikaler – man kann auch sagen: provokanter, aggressiver, ex­perimenteller, kompromissloser – aus als in anderen europäischen Ländern.

Das hat durchaus gesellschaftliche Gründe: Nirgends in Europa war der »Folk« versauter, somit – anders als in England – nur als Negativfolie zu gebrauchen (Adorno: »Die vorindustriellen Momente der Volksmusik haben gerade im Deutschland des Faschismus der postindividuellen Organisation sich geliehen; das Primitive und Infantile macht sich fest als böser Einspruch gegen die Zi­vilisation«). Nirgendwo auch mehr als hier kam der avantgardistischen E-Musik – insbe­sondere der elektronischen – und den freien Spielarten des Jazz die Rolle einer unausgesprochenen Opposition zu gegen Furtwängler, Karajan & Co. Häufig waren es denn auch Einflüsse aus dem Free Jazz und der Elektronik, die man mit der im­portierten psychedelischen Musik zu verknüpfen suchte.

Von der übernahm man nur das Härteste: Bands wie Annexus Quam, Gila und Can, die legendäre Band von Stockhausen-Studen­ten, machten konsequent da weiter, wo Pink Floyd nach dem Ausscheiden Syd Barretts 1969 aufgehört hatten: mit verfremdetem, trippigen Collagen-Rock (Can entwickelten einen Stil der reduzierten harmonischen Strukturen, auf die die polyphonen Melo­dien der Instrumente kaum Rücksicht nahmen). Die Münchener Musik-Kommunarden von Amon Düül (ab 1969: Amon Düül II), unter ihnen einige Free-Jazz-Pioniere, adap­tierten hingegen die länglichen Improvisationen von Grateful Dead; während die aber mit großer Virtuosität dargeboten wurden, verknüpften die Düüls diesen Stil mit den dilettantischen Perkussions-Singsang-LSD-Gruppenritualen von Hapsash & The Coloured Coat. Ähnliche Desaster vermieden die frühen Amon Düül oft nur mit knapper Not, weswegen ihre Musik heute hauptsächlich durch den Charme einer überaus drogenfreundlichen Grundeinstellung besticht (was übrigens auch für Guru Guru gilt).

Aber auch am britischen Prog orientierte Gruppen wie die Blasphemiker von Birth Control leisteten sich Exzentrizitäten wie ein wortloses Gesangssolo im Stück »Gamma Ray«, das 1973 zu der Kraut-Rock-Erken­nungs­melodie wurde – vier Jahre zuvor hatte man sich noch als Begleitband für Michael Holm verdingen müssen. Der Sound von Emerson, Lake & Palmer inspirierte viele: Gute Alben gelangen Abacus, Sixty Nine, Amos Key, Triumvirat und Satin Whale. Rufus Zuphall und McChurch Soundroom gaben hingegen die Hardcore-Variante von Jethro Tull; alle genannten Bands zeigten stets mehr oder weniger »touches of angst, weird psychedelic and space-rock«, wie die Freeman-Brüder in ihrer Kraut-Rock-Enzyklopädie »The Crack In The Cosmic Egg« anmerken. Auf »angst« hingegen verzichteten weitgehend jene, die sich am britischen Jazz-Rock orientierten: Xhol Caravan, Os Mundi, Emergency, Altona, Missus Beastly und Lucifer’s Friend veröffentlichten eigenwillige, absolut gelungene Platten.

Ganz eigene Stile entwickelten sich dagegen im Bereich der Elektronik, die manche der Pro­tagonisten weltberühmt machten. Tangerine Dream (inklusive Klaus Schulze) wandten sich vom Free-Jazz ab, nachdem sie im Berliner Electronic-Beat-Studio vom E-Musiker Thomas Kessler in elektronischer Klangerzeugung angeleitet worden waren. Beeinflusst von Lige­tis Komposition »Atmosphères« (1961), die fast vollständig auf Melodie, Harmonie und Rhythmus zugunsten der Klangfarbenvariation verzichtete, entstand »kosmische Musik, die Vorgänge hörbar zu machen versucht, die am Rande der wahrscheinlichen Vorstellungskraft des Menschen liegen«, wie die Gruppe 1971 verlautbarte. »Erhabenes Dösen« löse das aus, spottete dagegen Tibor Kneif. Tatsächlich machten Tangerine Dream allzu konsequent Gebrauch von den neuen Möglichkeiten des Synthesizers, nämlich leicht und fehlerfrei auto­matisierbaren Vorgängen, und repetierten end­los simple Intervalle.

Cluster und Neu! arbeiteten hingegen an einer eher kühlen Fusion von Rock und Elektronik: »transparente Musik«, die sich sowohl von Tan­gerine Dreams Mystik wie von den Exzessen der Düüls absetzen wollte. Wesentlich trug dazu der hyperexakte, auf jegliches Filling verzichtende Neu!-Drummer Klaus Dinger bei. Seine ehemalige Band Kraftwerk hatte sich da bereits für eine Erfolgsformel entschieden (an der sich auch die Elektronik-Pioniere von Ashra versuchten), die sie 1974 erstmals in die Single-Charts bringen und Jahre später zu Idolen der »hyper-hedonis­tischen Tanz-Pop-Crowd« (Scaruffi) machen sollte: Je banaler die musikalische Idee, desto avancierter die elektronische Realisierung.

Die »kosmische« Elektronik hat also gar nicht so viel dazu beigetragen, dass der Kraut-Rock zum musikalisch wüstesten Kapitel der Rockgeschichte wurde; noch weniger der deut­sche Käufergeschmack, der eindeutig Hardrock á la Deep Purple favorisierte. Die Flut gewagter U-Mu­sik verdankt sich schlicht einem millionenschweren Missverständnis der Musikindustrie. Die Anfänge waren jedoch mühsam: Es bedurfte Enthusiasten wie des Nürnberger Millionenerben Jonas Porst (»Photo-Porst«), der sein Vermögen im Tonstudio Hiltpoltstein verlor, das unzählige Kraut-Rock-Platten professionell produzierte. Er förderte auch Bands wie die deutsch singenden Ihre Kinder, die nur bei Kuckuck in Schwabing, dem ersten unabhängigen Label der Republik, unterkommen konn­ten, wo später auch Hanuman und Lied des Teufels erschienen. Die Texte dieser Bands lassen wegen ihrer zeitgeistig-progressiven Clichéhaftigkeit schmun­zeln, der musikalische Wagemut überzeugt, ganz besonders der der wenig und englisch singenden Jazz-Rocker Out Of Focus.

Der E-Musik-Verlag Deutsche Grammophon nahm 1970 Kuckuck in sein Vertriebsnetz auf. Weil auch andere Branchengrößen im kaufkräftigen Pop-Niemandsland Westdeutschland eine speziell deutsche Rockmusik etablieren und exploitieren wollten, kam es bald zu weiteren Kooperationen mit experimentierfreudigen Kraut-Labels. Metronome leistete sich Brain, Intercord Spiegelei, Bellaphon Bacillus, BASF Pilz – sicher eines der desas­trösesten Geschäfte der Konzerngeschichte. Die große Mehrheit der deutschen Popkonsumenten nämlich vertrug die Musik dieser Labels schlecht bis gar nicht. Als dieses Missverständnis, über dessen musikalische Hinterlassenschaften man noch heute ins Schwärmen geraten kann, sich aufklärte, war das Kapitel Kraut-Rock beendet. Es begann die Ära des Deutsch-Rock: Böhse Onkelz statt Ihre Kinder.

Der vierte und letzte Teil der Reihe führt vom krautrockenden Schwabing nach Canterbury (Grafschaft Kent).

Premiata Forneria Marconi: Storia Di Un Minuto, 1972

Agitation Free: Malesch, 1972

Embryo: Embryos Rache, 1971

Annexus Quam: Osmose, 1970

Gila: Free Electric Sound, 1971

Can: Ege Bamyasi, 1972

Grateful Dead: Live Dead, 1970

Hapsash & The Coloured Coat: Featuring The Human Host And The Heavy Metal Kids, 1967

Amon Düül II: Yeti, 1970

Guru Guru: Ufo, 1970

Birth Control: Hoodoo Man, 1973

Abacus: Abacus, 1971

Amos Key: First Key, 1973

Sixty Nine: Circle Of The Crayfish, 1973

Triumvirat: Illusions On A Double Dimple, 1974

Satin Whale: Desert Places, 1974 Rufus Zuphall: Phallobst, 1971

McChurch Soundroom: Delusion, 1971 Xhol Caravan: Electrip, 1969

Os Mundi: 43 Minuten, 1972

Altona: Altona, 1974

Emergency: No Compromise, 1974

Missus Beastly: Missus Beastly, 1974

Lucifer’s Friend: Banquet, 1974

Tangerine Dream: Zeit, 1972

Klaus Schulze: Moondawn, 1976

Cluster: I, 1971

Neu!: Neu!, 1972

Ashra: Correlations, 1979

Kraftwerk: Autobahn, 1974

Ihre Kinder: Wehrdohl, 1971

Hanuman: Hanuman, 1971

Lied Des Teufels: Lied Des Teufels, 1973

Out Of Focus: Four Letter Monday Afternoon, 1972