Das blaue Paket

Werner Hamacher und Franz Kaltenbeck über die Gedichte von Jean Daive und Reinhard Priessnitz. Von Stefan Ripplinger

»Vergessen wir nicht den Klassenkampf«, sagte Mao. »Vergessen wir nicht die Psychoanalyse«, sagte Derrida. »Vergessen wir nicht Lacan«, sagen eine Aufsatzsammlung und ein Essay, die gerade erschienen sind. Die eine, von Franz Kaltenbeck, sagt es, indem sie die Gedichte von Reinhard Priessnitz mit Jacques Lacan untersucht. Der andere, von Werner Hamacher, sagt es, indem er in seinen Anmerkungen zu Jean Daives Zyklus »W« den Namen des Analytikers so vernehmlich verschweigt, dass er in den Ohren gellt.

»Er stellte einen Spiegel / zwischen seinen Vater und seine Kindheit.« Lacan ist bei Daive mitunter so nah, dass der Leser seinen Atem im Nacken spürt. Antwortet »barre / la source«, »sperrt / die Quelle«, auf »l’arbre / entre nous«, »der Baum / zwischen uns«, wie einst »barre« auf »arbre« in Lacans »L’instance de la lettre«? Hamacher lässt, vielleicht weil er selbst eine ganz eigenständige und scharfsinnige sprachphilosophische Auslegung der Psychoanalyse bietet, den Analytiker schweigen, wie dieser bei seinen Sitzungen zu schweigen pflegte.

Kaltenbeck wiederum, der selbst beim alten Lacan eine Lehranalyse durchlaufen hat, glaubt Zuflucht zu dem Hinweis nehmen zu müssen, Priessnitz sei bei einer Psychoanalytikerin ein und aus gegangen. Doch während die »Besserwisser-Wissenschaft« (Hamacher) Psychoanalyse in dessen »postexperimenteller« Dichtung keine markanten Spuren hinterlassen hat, ist sie bei Daive auf jeder Seite gegenwärtig. Das »Hawelka« und das »Trzesniewski«, die versal aus seinem Zyklus ragen, mögen lediglich bekannte Lokale in Wien sein, Dorotheagasse, Fleischmarkt, Wollzeile sind vielleicht nur die Straßen, über die Lisi Misera, eine Wiener Künstlerin, die ebenfalls durch die Gedichte geistert, oft gelaufen ist. Aber mit der Berggasse, in der Sigmund Freud seine Praxis führte, mit der »Sphinx«, die in seinem Behandlungszimmer gleich zweimal vertreten war, ist das Universum doch bezeichnet, vor welchem die »rote Couch«, die »Sitzungen« erst begreiflich und Daives Urszenen kenntlich werden.

Doch ist das »W« im Französischen nicht umsonst ein »double v«, als dass es nur Wien bedeuten sollte, es verdoppelt, es vervielfacht sich wie Lisi Misera, die in ihrem Verschwinden erst eine, bald eine zweite Kopie ihrer selbst zeugt. Das »W« ist proteisch wie ein Buchstabe, doch nicht flach wie ein solcher, es spannt einen Raum auf, es steckt in manchen Namen ebenso wie in den Paketen, die in diesen Gedichten unablässig aufgegeben und empfangen werden, und zwar stets um Viertel vor acht, kurz nach dem Aufstehen und noch von schweren Träumen beladen. Es sind diese Träume, die die »Erzählung des Gleichgewichts« immer wieder aus dem Gleichgewicht bringen.

Schauplatz scheint Wien indessen auch bei Reinhard Priessnitz zu sein, der bis zu seinem Tod die Stadt nur selten verlassen hat. Den Auswärtigen verblüfft Kaltenbecks ortskundige Anmerkung zu der Reihung »hutsalon eisrevue« aus Priessnitzens »kleiner genesis«: »In Wien verwandelten sich mit der warmen Jahreszeit auf magische Art und Weise manche Pelzwarengeschäfte, in denen man ja auch von Zeit zu Zeit Hüte verkaufte, in Eissalons. Dort kaufte man sich zumindest am Sonntag einen Becher oder eine Tüte Eis. Die geheimnisvolle Metamorphose des Pelzfetischs oder der Hüte, unter denen ja auch die Frauenhaare hervorquellen, zum phallischen Eis könnte die Brücke zwischen ›hutsalon‹ und ›eisrevue‹ geschlagen haben, um den oralen Genuss der Eis­tüte zu chiffrieren.«

Dass ich über diese Brücke gerne ginge, kann ich nicht behaupten. Aber es gibt auch Brücken, die einer vorsichtshalber nicht betritt, sondern nur ob ihrer architektonischen Kühnheit bewundert. Kaltenbeck sieht seinen Dienst am Dichter vor allem in der Entschlüsselung. Mit seiner intimen Kenntnis von Leben und Werk Priessnitzens kann er immer wieder hilfreiche Winke geben. Dankbar bin ich ihm etwa für den Nachweis, dass in dem Gedicht »+++« ein Kindsmord dargestellt wird. Das wäre mir nicht aufgefallen; zu sehr schlug mich die Sprache in Bann, als dass ich angenommen hätte, »sei / ne wei / ch / eeeee / keh / le« meine eine andere als die weiche Kehle des Dichters selbst.

Auf die Kehle, die Artikulation oder vielmehr ihr Misslingen, hat der Entschlüsseler andererseits zu wenig Acht. Die häufigen Interjektionen, das logo­rrhöetische Stottern in Floskeln und Stereotypien, das der Vortrag des Dichters noch auffälliger machte, erwähnt er, ohne sie länger zu bedenken. Wie kommt es aber zu dieser sonderbaren Annäherung von Dichtung und Sprachstörung? Das kann wiederum Hamacher an Daive erläutern, dessen immer neu ansetzende (»anataktische«), immer wieder abbrechende Syntax an die des Broca-Aphasikers erinnert. »Nicht nur Demosthenes trägt im Mund einen Kiesel, der ihm das Stottern abnehmen soll«, schreibt Hamacher, »Sprache ist immer zunächst eine Sprache für den, der noch keine hat, sie ist Sprache für den, der erst zur Sprache kommt, und also die Sprache nur dieses Kommens zur Sprache.« Sprache tritt erst bei denen ins Bewusstsein, die nach Worten ringen, bei den Dichtern und den Stotterern, sie gewinnt existenziellen Wert erst als verfehlte, abwesende, ankommende.

Hamacher wählt das Kaltenbecks genau entgegengesetzte Verfahren. Wo dieser eine hinter dem Sprachexperiment verborgene Erzählung freilegt, zeigt jener die sprachlichen Verschiebungen hinter der »Erzählung des Gleichgewichts«: »Erst wo (die Sprache) ihr Nicht als das Andere ihrer selbst in ihr zur Sprache kommen läßt, tritt sie aus ihrem Autismus heraus, wird sich ein Anderes und anders als ein bloß sprachlich verfasstes Anderes und kann, in der Entfernung zu sich, sprechen.« Diesen Satz hätte ich gern in Kaltenbecks ansonsten sehr sorgfältiger und lohnender Exegese von Priessnitzens »blauem wunsch« wiedergefunden. »dass das zu schreibende ein anderes wäre, / so wie das andere das zu schreibende ist, / wie es auch beginne, dem gleichenden zu / lauten; laufen, dass das zu schreibende // dieses sei, anders als dieses«.

Kaltenbeck aber will in »dem zu schreibenden« ein Gesetz des Über-Ichs erkennen. Warum darf sich in diesem fieberhaften Haschen nach dem, was geschrieben und »gelautet« wer­den wird, nicht einfach ein »blauer wunsch« des Sprechenden, der Sprache artikulieren? Sie läuft auf das Nicht ihrer selbst, das Andere zu, obwohl sie nicht ankommen, dem »Gleichenden nicht lauten« und dem Lautenden nicht gleichen wird.

Doch obwohl er so viel Sinn für die Umwege von Kommunikation und das Andere der Übertragung beweist, sieht Hamacher Daives Pakete, die abgesandt und empfangen werden und »strahlend vom Traum zurückprallen«, die dröh­nen und explodieren, in denen das Fleisch von Schwester und Bruder stecken kann, aber auch die Asche des Vaters, in »den Krieg und den Tod« gehen. Doch könnte, wie er an anderer Stelle eingesteht, auf jedem einzelnen dieser Pakete die Adresse des Lesers stehen und, wie mit Priessnitz hinzuzufügen wäre, in einem jeden ein blauer Wunsch eingewickelt sein.

Es ist nicht die geringste Stärke der brillanten Essays von Hamacher und Kaltenbeck, den Leser gelegentlich zum Widerspruch zu reizen und ihn so ins Werk von Jean Daive und Reinhard Priessnitz zu führen, denen, bei all ihrer offenkundigen Unterschiedlichkeit, doch dies gemeinsam ist, dass sie vom Widerspruch leben.

Jean Daive: Erzählung des Gleichgewichts 4. Französisch und Deutsch. Übersetzt und mit einem Essay von Werner Hamacher. Urs Engeler Editor, Basel/Weil 2006, 181 Seiten, 19 Euro

Franz Kaltenbeck: Reinhard Priessnitz. Der stille Rebell. Aufsätze zu seinem Werk. Literaturverlag Droschl, Wien 2006, 148 Seiten, 13,60 Euro