Die mit dem Buena Vista

Vor 20 Jahren wurde World Circuit aufgebaut. Heute zählt das Unternehmen zu den guten Adressen des Genres Weltmusik. nick gold über die Geschichte des Labels

Zum 20. Jubiläum von World Circuit haben Sie im Archiv gewühlt und 28 Raritäten und den Gassenhauer »Chan Chan« auf zwei CDs gepresst. Warum musste die Supermarkthymne auch aufs Jubiläumsalbum?

Unser Toningenieur Jerry Boys, mit dem ich die Auswahl getroffen habe, war sehr entschieden. Er pochte darauf, dass »Chan Chan« der Opener sein müsse und auch andere Hits auf die Platte müssten, damit die Leute die Platte in Bezug zum Label setzen. »Ach ja, das sind die mit dem Buena Vista Club, die haben auch Ali Farka Touré präsentiert.« Es soll klingeln im Kopf der Hörer, sagte Jerry Boys damals.

Aber war es nicht schwierig, die Songs aufeinander abzustimmen?

Ja, immer wieder tauchte die Frage auf: »Und nun? Was passt denn jetzt?« Und dann begann die Sucherei von neuem. Dabei stießen wir auf die Stücke von Mustapha Baqbou, dem marokkanischen Musiker, die ich längst vergessen hatte. Und es tauchten andere Stücke von Dimi Mint Abba auf und auch ein schöner Song von Afel Bocoum. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als wir bei ihm waren und der Strom plötzlich ausfiel. Wir saßen damals vor seinem Haus und beratschlagten, was wir tun sollten.

Also sind Sie schon damals mit dem ganzen Equipment in die Heimatländer der Musiker gefahren?

Ja, wir haben es recht oft gemacht, das ist richtig.

Für andere Labels ist das eher untypisch. Warum ist es für World Circuit beinahe schon die Regel?

Für uns war es oft von Vorteil. So hatten wir in Kuba die ganzen Musiker vor Ort, und es wäre viel teurer gewesen, die Leute hierher nach London zu bringen. Und wir hätten dieses phantastische Studio in Havanna nie erleben können. Ich bin sicher, es hätte alles anders geklungen. Und natürlich ist es auch nett, in Havanna zu sein.

Um mit Ali Farka Touré zu arbeiten, mussten Sie nach Niafunke fahren.

Ja, das stimmt. Als wir das erste Mal nach Niafunke kamen, gab es dafür zwei zentrale Gründe. Ali hat damals all seine Energie darauf gerichtet, das Land zu bestellen, es zu bewässern. Er wollte Mali nicht verlassen, um in London oder wo auch immer eine Platte aufzunehmen. Also mussten wir zu ihm gehen, denn wir wollten etwas von ihm aufnehmen – das war schnell klar. Der andere Grund, weshalb wir in Niafunke aufnahmen, war der, dass dort fast alle Musiker waren. Wenn Sie eine Band nach London bringen wollen, haben Sie unendliche Probleme mit den Einwanderungsbehören – das wird immer schlimmer. Die Musiker müssen belegen, dass sie Musiker sind; müssen Visa, Papiere und sonst etwas vorlegen, so dass man sie kaum noch nach London bringen kann. Das erfordert eine unheimliche logistische Arbeit, und man kann nicht sicher sein, dass es trotz allen Aufwands auch klappt. Aus dieser Perspektive ist es beinahe einfacher, an Ort und Stelle aufzunehmen, auch wenn dort dann andere logistische Probleme auftauchen.

Spielen die Musiker zu Hause anders als im Studio in London, Los Angeles oder Paris?

Nein, ich bin nicht der Ansicht, wie so oft behauptet wird, dass die Musiker zu Hause, in ihrem Umfeld anders klingen. Ali Farka Touré ist Ali Farka Touré. Er spielt den gleichen Blues im Studio in London, in Bamako oder Niafunke. Das klingt nicht sonderlich romantisch, aber es waren immer logistische Probleme, die dazu geführt haben, vor Ort aufzunehmen. Für mich ist es sicherlich romantisch, denn ich sitze schließlich in Niafunke unter einem Sternenhimmel und höre den Niger plätschern.

Lernen Sie bei solchen Aufnahmen in der Wüste Facetten des Landes kennen, die auf die Arbeit Einfluss haben?

Klar, das stimmt. Ich lerne bei so einer Reise dazu. Ich sehe, woher die Musiker kommen, kann hinterher vieles besser einschätzen und bekomme auch ganz andere Sachen zu hören. Einmal saß ich mit Ali abends in seinem Haus, er spielte einen Song und sang mit leiser Stimmer dazu. Am nächsten Tag fragte ich ihn im Studio, ob er den Song noch einmal spielen könnte. Und er sagte, klar, griff beherzt in die Saiten und begann, laut zu singen. Doch das war nicht das, was ich wollte. Ich wollte die leise Version hören. Und er sagte, nein, das habe ich für mich selbst gesungen, das will ich nicht. Und ich bat ihn, flehte ihn an, mir den Gefallen zu tun. Schließlich willigte er ein.

Sind Sie aufgrund Ihrer Vorliebe für afrikanische Musik auch zum Studium der afrikanischen Geschichte gekommen?

Oh nein, das war ein Zufall, ich begann mein Studium mit englischer Geschichte.

Haben Sie durch das Studium die Musik des Kontinents entdeckt?

Ja, im Laufe des Studiums, aber ich war damals schon ein großer Plattenfan. Ich sammelte Jazz-, frühe Reggae- und Rock Steady-, aber auch Soul-Platten. Ich hatte eine große Plattensammlung, arbeitete in Plattenläden, und dann kamen die ersten Tapes aus Afrika in meine Hände. Das Orchestra Baobab faszinierte mich. Ich verliebte mich in diesen Sound und machte mich auf die Suche nach dieser Musik, fand aber kaum etwas in England.

Heute zählt das Orchestra Baobab zu den Aushängeschildern von World Circuit. Sie waren für die Reunion der Band verantwortlich. Haben Sie damals schon an die Neuauflage der legendären LP »Pirates Choice« gedacht?

Nein, ich habe diesen Sound einfach genossen und habe dieses Tape meinen Freunden vorgespielt. Ständig war ich auf der Suche nach neuen Veröffentlichungen aus Ghana und dem Senegal. Dann habe ich die ersten Island-Samp­ler gehört, das war dann mein Einstieg in die afrikanische Musik.

Und dann folgte der Einstieg ins Musikgeschäft?

Klingt großartig, war aber nicht so. Als ich begann, für die Firma – es war eine Promotionagentur für Künstler aus aller Welt – zu arbeiten, wurde ich zunächst in die Küche verbannt. Es gab keinen Platz für mich in dem Büro, ich saß mit meiner Schreibmaschine und dem Telefon in der Küche. Meine Aufgabe war es, ein Label als zweites Standbein für die Agentur aufzubauen.

Scheint nicht gerade Priorität gehabt zu haben …

Oh, nein. Und einige Jahre später – ich hatte den Namen und das Geschäft World Circuit übernommen – arbeitete ich von zu Hause aus. Später waren wir zu zweit, und auch als die Arbeit am Buena Vista Social Club begann, waren wir nur zwei. Dann kam der Boom, und es blieb keine andere Möglichkeit, als Leute einzustellen. Derzeit sind wir acht, und ich denke, dass wir derzeit die richtige Größe haben.

Waren Sie überrascht, als Sie feststellten, dass das 20. Jubiläum ansteht?

Das war eine echte Überraschung, und es fühlt sich auch nicht an wie 20 Jahre. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, wenn nicht die Leute im Büro gesagt hätten: Ja, es ist der 20. Geburts­tag. Für mich kommt das zu schnell.

Während der ersten 20 Jahre hat sich World Circuit fast ausschließlich auf Musik aus Westafrika und Kuba konzentriert. Warum?

Tiefere Einblicke in die kubanische Musik habe ich durch die Band Sierra Maestra und den Sänger Juan de Marcos González erhalten. Wegen ihm bin ich zum Fan des Komponisten Arsenio Rodriguez geworden, und eines Tages haben wir entschieden, etwas mehr davon zu machen. Juan de Marcos war begeistert und erzählte, dass viele der Musiker, die mit dem in den siebziger Jahren verstorbenen Arsenio zusammengearbeitet haben, immer noch spielen. Er hatte vor, diese alte Garde gemeinsam mit einigen jungen Musikern ins Studio zu bringen und etwas Neues zu entwickeln. So kamen wir überein, zwei Platten zu machen.

Ich wollte den Sound des kubanischen Ostens, die Guajira, mit dem Gitarrensound Malis zusammenbringen, eine Brücke bauen, und ich dachte, das sei eine einfache Sache. Also lud ich zwei Gitarristen aus Mali ein und wollte die mit Eliades Ochoa und Babarito Torres, zwei kubanischen Saitenvirtuosen, zusammenbringen.

Halten Sie Ausschau nach derartigen Kooperationsmöglichkeiten?

Ich habe in Mali viel kubanische Musik gehört und dachte einfach, das passt.

Aber es kam anders …

Ja, in Havanna – wir hatten das erste Album »A todo Cuba le gusta« bereits aufgenommen – erhielt ich die Nachricht, dass die beiden Musiker aus Mali nicht kommen würden. Ihre Pässe waren in der Post verloren gegangen. Sie hatten sie verschickt, um Visa zu bekommen. Wenig später erfuhr ich, dass sie für Kuba gar keine Visa gebraucht hätten – ein schlechter Witz. Uns blieb aber noch eine Woche Studiozeit, und die mussten wir nun anderweitig nutzen. Also fragten wir Juan de Marcos, ob wir nicht noch etwas mit den älteren Musikern machen könnten. Er sagte, klar, und hat uns Rubén González präsentiert. Dann hat er weitere Musiker ausfindig gemacht und ins Studio gelotst. Juan de Marcos ist ein Macher, er wurde sofort aktiv und hat den Buena Vista Social Club erst ermöglicht. Ohnehin ist die Platte letztlich ein Produkt von Zufällen und ähnlich gelagerten musikalischen Interessen gewesen. Zwischenzeitlich stand das ganze Projekt auf Messers Schneide – beide Aufnahmegeräte hatten den Geist aufgegeben. Doch auch das Problem wurde gelöst, und als I-Tüpfelchen präsentierte uns Juan de Marcos dann noch Compay Segundo.

Wurden die Stücke denn alle gemeinsam eingespielt?

Anfangs ja. Jerry hatte die Mikros sehr hoch gehängt, und die 18 Musiker saßen gespannt da und warteten. Wir haben sie dann später in kleinere Gruppen aufgeteilt, die schweren Percussions, vor allem Timbales und Congas, nahezu verbannt und dem Ganzen einen etwas intimeren Charakter gegeben. Dazu kam Ry Cooders Rhythmusgitarre und Joaquin Cooders Percussions. So haben wir dann einfach aufgenommen, aufgenommen und nochmals aufgenommen – den ganzen Tag. Auch Ibrahím Ferrer war schnell dabei, denn wir brauchten jemanden mit einer weichen Stimme, und ich fragte Juan de Marcos. Er sagte nur »ja«, verließ das Studio und kam zwei Stunden später mit Ibrahím wieder. Ibrahím hatte eine spezielle Aura und war sofort mittendrin. Und er freute sich riesig, dass er Boleros singen sollte, was ihm in seiner Karriere immer verwehrt worden war.

Hat Sie der Erfolg der Platte überrascht?

Ich war mir sicher, dass wir mit diesem Album erfolgreich sein würden, aber dieser massive Erfolg hat mich doch überrascht. Aber schon die Atmosphäre im Studio war so elektrisierend, dass ich mir sicher war: Das wird ein großes Album. Doch manchmal ist es sehr schwer, so etwas einzufangen. Als wir dann zurück in London waren und das erste Album mixten, ging alles ganz schnell und glatt. Die erste Platte von den Afro Cuban All Stars ging locker von der Hand, weil Juan de Marcos so gute Arbeit geleistet hatte. Beim Buena Vista Social Club war es viel schwerer – wir haben es viermal gemischt, bis wir sicher waren, die Atmosphäre im Studio halbwegs drauf zu haben. Und als dann »A toda Cuba le gusta« herauskam und einschlug, sorgte Juan de Marcos schnell dafür, dass die Afro Cuban All Stars auch auf Tour gehen konnten.

Der Boden für den Buena Vista Social Club war bereitet. Auch weil der Gitarrist und Komponist Ry Cooder Interviews gab und aus seiner Begeisterung für das Album keinen Hehl machte. Das hat die Pressepräsenz enorm gesteigert, und dann kamen die großen Konzerte in Amsterdam und in London. Das Ganze bekam ein unglaubliche Dynamik. Die steigerte sich mit dem Wim-Wenders-Film immer weiter, und es kam zum Buena-Vista-Boom.

Und auf einmal wurde aus World Circuit eine richtige Firma?

Ja, wir mussten Leute einstellen, ein richtiges Büro einrichten.

Der Boom ist längst Geschichte. Was kommt in den nächsten 20 Jahren von World Circuit?

Ich bin für alles offen, aber gleichzeitig vollkommen ignorant, wenn ich gerade mit etwas beschäftigt bin. Ich habe in Mali und Kuba etwas über Musik gelernt, und da wir nur vier Platten im Jahr machen, bleibt kaum Zeit, um andere Regionen der Welt zu entdecken.

Die erfolgreichsten Künstler Ihres Labels, Ibrahím Ferrer und Ali Farka Touré, verstarben in den letzten zwölf Monaten. Muss sich World Circuit zum 20. Geburtstag neu orientieren?

Ja, das ist seltsam. Wenn man zurückblickt und sich bewusst wird, mit so großartigen Typen wie Ali, Ibrahím, Rubén und all den anderen gearbeitet zu haben, dann ist das unglaublich. Es tut weh, sie zu verlieren. Aus ökonomischer Perspektive waren Ibrahím und Ali die Zugpferde von World Circuit, und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was jetzt kommt. Das ist eine Tragödie – auf der anderen Seite haben wir gerade Ibrahíms letztes Projekt, das Bolero-Album, beinahe abgeschlossen. Erst vor wenigen Monaten tauchten die letzten Tapes, die schon verloren schienen, wieder auf, und mit diesem Material können wir das Album abschließen. Und es ist ausgesprochen seltsam, an diesem Album, diesem Vermächtnis und Traum eines großen Sängers, zu arbeiten. Und auch vom Orchestra Baobab wird es noch etwas Neues geben. Aber was als Nächstes kommt, mit wem wir ins Studio gehen, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Sorry, das ist kein guter Businessplan.

Sehen Sie sich denn als Unternehmer?

Nein, eher als Musikliebhaber.

Und welche Bedeutung hat der Umgang mit Musikern für Sie?

Dem Musiker muss klar sein, dass ich seine Arbeit schätze, sie für wichtig halte und sie so aufnehmen werde, wie sie am besten zur Geltung kommt. Das ist eine gute Arbeitsgrundlage für beide Seiten, der Respekt für Kunst ist eine wesentliche Basis. Ich habe einmal Rubén González gefragt, was ihm am besten an den Konzerten in Europa gefällt. Er hat geantwortet: »Die Leute hören mir richtig zu. Sie konzentrieren sich darauf, mich zu hören.« In Kuba hatte er oft in Hotels und Nachtclubs gespielt und oft nur den Klangteppich geliefert; hier lauschten die Leute ergriffen einem Virtuosen am Klavier, und darüber hat er sich sehr gefreut.

interview: knut henkel