»Es liegt an der Türkei, die Chance zu nutzen«

Ozan Ceyhun

Mangelhaft, ungenügend! Wenn die EU-Kommission in dieser Woche ihren Fortschrittsbericht über die Türkei veröffentlicht, wird der ewige Kandidat wieder einmal miese Noten erhalten: Die Armee sei zu einflussreich, nach wie vor herrsche Folter, die Meinungs­freiheit sei nicht gewährleistet, und einiges mehr. Ist ein EU-Beitritt der Türkei noch realistisch?

Ozan Ceyhun war von 1998 bis 2004 Mitglied des Euro­pa­-Parlaments, in dieser Zeit wechselte er von den Grünen zur SPD. Im Jahr 2000 gab er eine Broschüre über Islamismus in Deutsch­land heraus, wofür er von der Islamischen Föderation Berlin als »Mörder« beschimpft wurde. Der Konflikt wurde vor Gericht ausgetragen, Ceyhun gewann. Derzeit arbeitet er für die Hessische Landesvertretung in Brüssel. Mit ihm sprach Deniz Yücel.

Wie gewöhnungsbedürftig ist es für Sie, nach Ihrer Tätigkeit als Abgeordneter wieder als Angestellter zu arbeiten?

Das ist eine ganz normale Angelegenheit. Man wird nicht als Abgeordneter geboren, sondern wird für eine bestimmte Zeit gewählt. Durch das schlechte Ergebnis, das meine Partei bei der letzten Europawahl erzielt hat, habe ich mein Mandat leider verloren. So bin ich zu meinem Job zurückgekehrt. Und ich beantworte Ihre Fragen als Abgeord­neter des Kreistages von Groß-Gerau.

Im Kreistag wird über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei beraten?

Doch natürlich, in unserem Kreis leben sehr viele Türken, nicht zuletzt auch in meiner Heimatstadt Rüsselsheim. Schon deshalb müssen wir uns als Kreistagsabgeordnete der Frage stellen, was mit Europa passiert und was aus der Türkei wird.

Die EU-Kommission hält die Reformen in der Türkei für unzureichend. Ist diese Kritik berechtigt?

Ganz offensichtlich gibt es in der Türkei einen Reformstau. Und niemand darf sich darüber ärgern, wenn die Kommission ihrer Aufgabe nachkommt und die Probleme benennt.

Was sind die Ursachen für diese Probleme?

Die türkische Regierung will zum einen unbedingt das Land an die EU heranführen, zum anderen will sie bestimmte innenpoliti­sche Ziele verwirklichen, darunter auch welche, die den Laizismus und die Strukturen der Republik betreffen. Dabei stößt sie auf Widerstand. Und unter diesen innenpolitischen Konflikten leiden auch die Angelegenheiten, die die EU betreffen.

Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan will eine Islamisierung der Gesellschaft?

Sie würde dieser Annahme widersprechen. Dennoch denke ich, dass daran etwas Wahres ist. Wenn man sieht, welche Möglichkeiten die Regierung den Absolventen von Religionsschulen einräumen will oder dass sie immer wieder versucht, das Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben – all dies deutet darauf, dass ihr Weltbild in mancher Hinsicht dem historischen Selbstverständnis der Türkischen Republik widerspricht.

Ein Jahr nach dem Beginn der Verhandlungen ist nur eines von 35 Kapiteln abgeschlossen, nämlich das unproblematische über Wissenschaft und Forschung. Bei diesem Tempo dürften die Verhandlungen mindestens 60 Jahre dauern.

Die Türkei ist ein großes Land, in dem viele Menschen aus sehr unterschiedlichen Kulturen leben. Istanbul ist eine andere Türkei als Diyarbakir oder Konya. Darum sind Verhandlungen mit ihr komplizierter als welche mit Malta. Und sie werden länger dauern, auch wenn ich davon ausgehe, dass es keine 60 Jahre, sondern etwa zehn Jahre dauern wird.

In der vorigen Woche richtete Josep Borrell, der Präsident des Europa-Parlaments, deutliche Worte an die Türkei. Warum steigt unter europäischen Politikern die Skepsis gegenüber der Türkei?

Skepsis gab es schon immer, solche Äußerungen und Stellungnahmen ebenfalls. Man muss sachlich bleiben und sich mit den Verhandlungen beschäftigen.

Zumindest hört man die Befürworter weniger deutlich als vor ein paar Jahren.

Aber die Befürworter hatten ja Recht. Man hatte der Türkei jahrelang gesagt, dass sie die Chance habe, Mitglied der Europäischen Union zu werden Aber bis zum Beschluss von Helsinki Ende 1999 hatte sie nie die Gelegenheit erhalten, diese Chance zu nutzen. Das ist seit Helsinki der Fall. Nun liegt es an der Türkei, ob sie diese Chance nutzt oder nicht.

Hat sich seither auf Seiten der EU etwas geändert? Im vorigen Jahr hat sich die EU vorbehalten, die Aufnahme der Türkei nicht nur von der Erfüllung der Beitrittskriterien, sondern auch von ihrer »Aufnahmefähigkeit« abhängig zu machen.

Es gibt keinen Beschluss, der über die Entscheidung von Helsinki hinausginge. Alles andere sind Erwartungen und Äußerungen. Ansonsten aber hat sich auf der europäischen Seite natürlich einiges geändert. Man hat gesehen, dass die Erweiterung zu schnell gelaufen ist, die Volksabstimmungen über die Verfassung haben gezeigt, dass man die EU nur ausbauen kann, wenn die Bevölkerung dies unterstützt. Und kaum einer der Staats- und Ministerpräsidenten, die den Beschluss von Helsinki gefasst haben, ist noch im Amt.

Neben der Türkei-Entscheidung wurde in Helsinki beschlossen, eine europäische Armee aufzubauen. Gab es einen Zusammenhang zwischen beiden Beschlüssen? Und liegt das nachlassende Interesse an der Türkei daran, dass eine europäische Außen- und Verteidi­gungspolitik vorläufig gescheitert ist?

Die militärische Zusammenarbeit mit der Türkei ist wertvoll. Aber sie gibt es ohnehin, etwa in Afghanistan. Wenn die Europäer nur militärische Interessen an der Türkei hätten, bräuch­ten wir nicht über einen EU-Beitritt zu reden.

Wird die Türkei jemals aufgenommen werden?

Ich will daran glauben, aber man muss realistisch sein. Es wird sehr schwierig. Und eine der vielen offenen Fragen ist die, ob die Mehrheit der türkischen Bevölkerung dies auch in Zukunft wollen wird.

Das ist in der Tat fraglich. Selbst viele Befürworter sind resigniert und glauben, dass es die EU nicht ernst meint und deshalb immer wieder neue Forderungen stellt.

Ich kann es nachvollziehen, dass die Leute sauer werden, wenn etwa manche Mitglieder des Europäischen Parlaments die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern zur Bedingung eines Beitritts machen wollen. Derartiges ist in der Vereinbarung von Helsinki nicht vorgesehen. Oder wenn die berechtigten Anliegen der türkischen Zyprioten übergangen werden, obwohl sie, im Gegensatz zu den griechischen, dem Friedensplan von Kofi Annan zugestimmt haben. So weit ist die Kritik berechtigt, und ich kann es nachvollziehen, wenn diese Dinge zu einer gewissen Resignation führen.

Andererseits muss man jedem in der Türkei immer wieder erklären, dass die Mitgliedschaft in der EU mehr erfordert, als ein paar Gesetze zu verabschieden. Man muss diese Gesetze auch anwenden. Und Gesetze wie jenes über die »Verunglimpfung des Türkentums«, das immer wieder zu Anklagen gegen Schriftsteller und Journalisten führt, sind der europäischen Öffentlichkeit nicht zu vermitteln.

Die Ernüchterung über die EU hat zu einem Erstarken des Nationalismus in der Türkei beigetragen.

Diese Leute nutzen die Probleme des Beitrittsprozesses aus. Aber dass in der Türkei der Nationalismus wächst, liegt nicht nur an der EU. Das Problem ist, dass die Mehrheit der türkischen Bevölkerung leicht für nationalistische Stimmungen zu gewinnen ist.

Auch viele türkische Linke lehnen einen EU-Beitritt ab, nicht aus nationalistischen Gründen, sondern weil sie soziale Nachteile befürchten. Was sagen Sie als jemand, der selbst aus der außerparlamentarischen Linken der Türkei stammt, zu diesen Befürchtungen?

Ich sehe keine realistische Möglichkeit dafür, dass sich in der Türkei ohne eine Anbindung an die EU, sei es als Mitglied oder als priviligierter Nachbar, demokratische und sozialstaatliche Strukturen entwickeln. Dafür braucht die Türkei die Verhandlungen mit der EU, die die notwendigen Reformen ermöglichen.