No Way Out

Aus dem Kampf gegen die US-Truppen im Irak ist ein Vielfrontenkrieg geworden. Weder die US-Regierung noch ihre Kritiker wissen, wie er beendet werden kann. von jörn schulz

Sadr al-Din al-Qubanji hat nachgezählt. Allein in den vergangenen zwei Monaten wurden 7 000 Iraker, seit dem US-Einmarsch vor mehr als dreieinhalb Jahren aber »nur« 2 876 ausländische Soldaten getötet. »Ist das Widerstand oder ein Massaker am irakischen Volk?« fragte Qubanji, ein schiitischer Geistlicher und Mitglied des Obersten Rats der islamischen Revolution (Sciri) während der Freitagspredigt in Najaf.

Qubanji erwähnte nicht, dass die Miliz seiner Partei, die Badr-Brigaden, einen nicht unwesentlichen Beitrag zu diesem Massaker geleistet hat. Der Sciri nutzte die Kontrolle über das Innenministerium, um seine Milizionäre mit Polizeiuniformen zu versehen. Sie werden für zahlreiche Entführungen und Morde verantwortlich gemacht. Der seit Juni amtierende Innenminister Jawad al-Bulani gilt als unabhängig, doch weiterhin fühlen sich viele Polizisten eher ihrer Partei verpflichtet als dem Gesetz.

Der Kampf gegen die US-Truppen spielt derzeit eine untergeordnete Rolle. Schiitische und sunnitische Milizen konzentrieren sich darauf, Zivilisten anderer Konfessionen zu massakrieren, und die meisten ihrer Führer sitzen im Parlament oder sind mit einer Parlamentsfraktion verbunden. Doch es kommt auch zu Kämpfen zwischen schiitischen Milizen, die sich nur einig darüber sind, dass ihre islamistische Doktrin gegenüber der Bevölkerung durchgesetzt werden muss. Vor allem aber führt der Zerfall staatlicher Strukturen dazu, dass sich der Terror mehr und mehr verselbständigt. Viele bewaffnete Gruppen arbeiten mittlerweile auf eigene Rechnung.

Bereits Anfang September hatte sich Ayatollah Ali al-Sistani, der angesehenste schiitische Geistliche des Irak, zurückgezogen, weil niemand mehr seinen Friedensappellen Gehör schenken wollte. Nun scheint auch der schiitische Islamist Muqtada al-Sadr die Kontrolle über seine Milizionäre zu verlieren. »Tut nichts, ohne zuvor die Hawza (das theologische Seminar in Najaf) gefragt zu haben«, befahl er nach der Serie von Autobombenanschlägen in der vergangenen Woche seinen Anhängern, die sich dennoch an Racheaktionen beteiligten.

Mit einem Bürgerkrieg, in dem es geordnete Fronten gibt, hat die Situation im Großraum Bagdad, wo etwa 20 Prozent der Bevölkerung leben, nur wenig zu tun. Auch die Einwohner wissen nicht immer, wo die unsichtbaren Grenzen verlaufen, die zu überschreiten tödlich sein kann. Wer es vermeiden kann, geht nicht auf die Straße. »Meine Tochter lebt wie in einem Gefängnis. Eingeschlossen im eigenen Haus, sind ihre einzigen Beschäftigungen fernsehen oder im Internet surfen – wenn es denn mal Strom gibt. Ihre Freunde kann sie nicht treffen. Es wäre viel zu gefährlich, sie zu besuchen«, sagt die Ärztin Rajaa al-Khuzai, Parlamentsabgeordnete und Präsidentin der Iraqi Widow Organization, der Jungle World.

Noch ist die Situation vor allem im Norden des Landes besser. »Hier liegen noch keine Leichen auf den Straßen«, berichtet eine Bloggerin aus dem von kurdischen und arabischen Parteien beanspruchten Kirkuk, in dessen Umgebung sich die nordirakischen Ölfelder befinden. »Wir Frauen können noch immer mit T-Shirts und Make-up zum Markt gehen, ohne Schleierzwang.« Doch nach aller bisherigen Erfahrung aus vergleichbaren Konflikten wird sich die Warlordisierung ausbreiten.

Hätte alles auch ganz anders kommen können? Als während des Aufstands im Frühjahr 1991 (Jungle World, 32/00) nach dem zweiten Golfkrieg 14 der 18 Provinzen des Irak von der Herrschaft Saddam Husseins befreit worden waren, übernahmen zunächst revolutionäre Komitees die Verwaltung. Es kam in einigen Fällen zu Kämpfen, als bald darauf die Oppositionsparteien die Führung beanspruchten, doch gab es weder konfessionelle Konflikte noch »ethnische Säuberungen«.

Zwar vermag niemand zu sagen, ob es nicht doch zum Bürgerkrieg gekommen wäre, wenn die Aufständischen gesiegt hätten. Zweifellos aber hätte die Erfahrung des gemeinsamen erfolgreichen Kampfes gegen die Diktatur bessere Voraussetzungen für die Demokratisierung und den Zusammenhalt des Landes geboten als die US-Invasion zwölf Jahre später. Die US-Regierung verweigerte damals nicht nur dem Aufstand jegliche Unterstützung, sondern begünstigte sogar dessen Niederschlagung. Vor allem mit Rücksicht auf ihre Verbündeten im Nahen Osten zogen die USA die fortdauernde Herrschaft Saddam Husseins einer Revolution vor.

»Das Außenministerium ist misstrauisch gegenüber unordentlichen neuen Demokratien«, stellte der US-Journalist William Safire damals fest. Zwölf Jahre später kam Verteidigungs­minister Donald Rumsfeld dann zu dem Schluss: »Freiheit ist unordentlich.« Dass die Regierung George W. Bushs sich spätestens im Herbst 2002 entschied, die Unordnung der harten Hand Saddam Husseins vorzuziehen, war sicherlich nicht in erster Linie die Folge einer in der Zwischenzeit entdeckten Liebe zur Demokratie. Es ging vor allem darum, die politische Hegemonie in der Golfregion zurückzugewinnen. Es war jedoch nie beabsichtigt, ein neokoloniales Marionettenregime einzusetzen. Diese Strategie, Saddam Hussein durch einen den USA freundlicher gesonnenen Diktator zu ersetzen, hatte die CIA während der neunziger Jahre bereits erfolglos erprobt.

Stattdessen verständigte sich die US-Regierung vor Kriegsbeginn mit den wichtigsten Oppositionsgruppen, den kurdischen Parteien KDP und Puk sowie den schiitischen Organisationen Sciri und Da’wa. Es gelang auch, Ayatollah Ali al-Sistani, den einflussreichsten schiitischen Geistlichen des Landes, für eine Koopera­tion zu gewinnen. Damit war von Anfang an klar, dass die Besatzungsmacht sich vornehmlich auf schiitische Kräfte stützen würde, die nur aus taktischen Gründen bereit waren, für eine gewisse Periode mehr oder minder eng mit den USA zusammenzuarbeiten, und denen man bedeutende Zugeständnisse machen musste. Doch die Integration der von diesen Kräften vermeintlich repräsentierten 60 Prozent der Bevölkerung schien diesen Preis wert zu sein, und eine Alternative gab es ohnehin nicht.

Die Aussagen an der Planung des Feldzugs beteiligter Politiker deuten darauf hin, dass die US-Regierung nach dem Sturz Saddam Husseins keinen ernsthaften militärischen Widerstand erwartete und, wohl beeinflusst vom Idealismus der Neokonservativen, die Anziehungskraft demokratischer Werte für eine ausreichende Grundlage des nation building hielt. Wenn in den USA nun die unübersehbare Tatsache debattiert wird, dass diese Annahmen falsch waren, gilt den meisten Kritikern aus dem politischen und militärischen Establishment Donald Rumsfeld, der kurz nach den Kongresswahlen zurücktreten musste, als der Hauptverantwortliche für das Debakel.

Kritisiert wird vor allem das Konzept des »schlanken Kriegs«. Nach Ansicht zahlreicher Militärexperten hätte Rumsfeld weit mehr Soldaten einsetzen müssen, um die Kontrolle zu wahren. Ein »fetter Krieg« nach den Wünschen der Experten hätte jedoch weit höhere Verluste und Kriegskosten zur Folge gehabt. Der Verteidigungsminister führte den Krieg, den sich die USA politisch und finanziell gerade noch leisten konnten.

Zusätzliche 200 000 Soldaten in den Irak zu schicken, um das Blatt vielleicht doch noch zu wenden, wäre innenpolitisch nicht durchsetzbar. Bedeutsamer für die Zukunft ist daher die Debatte über politische Fehlentscheidungen. Viele Kritiker halten es im Nachhinein für falsch, dass die Besatzungsverwaltung sich so stark auf die schiitischen Organisationen stützte und die De­ba’a­thi­sie­rung, die Entlassung der Kader Saddam Hus­seins aus Verwaltung und Militär, durchsetzte. In diesem Punkt wurde ein Wandel bereits eingeleitet. Die US-Regierung drängt auf eine stärkere Beteiligung von Vertretern der Sunniten an der Regierung, selbst wenn diese Verbindungen zum bewaffneten »Widerstand« haben, und auf die Entlassung schiitischer Milizionäre aus dem Polizeidienst.

Der Trend geht zu einer Politik, die nicht nur in den USA für Realismus gehalten wird: eine offenherzige Zusammenarbeit mit rechtsextremen Organisationen und Regierungen sowie einen Verzicht auf die Demokratisierungsrhetorik. Dies wird von der Iraq Study Group und den meisten anderen empfohlen, die berufen wurden oder sich berufen fühlen, strategische Ratschläge zu erteilen. Doch ohne die De­ba’a­thi­sie­rung wäre es wahrscheinlich schon weit frü­her zu Kämpfen zwischen einem dann weiterhin überwiegend sunnitischen Militär und schiitischen Milizen gekommen. Der Versuch, sunnitische Organisationen zu integrieren, bringt nun die schiitischen Parteien gegen die USA auf, der Milizenführer Muq­tada al-Sadr drohte in der vergangenen Woche, die Regierungskoalition zu verlassen. Zudem ist fraglich, ob die umworbenen Sunniten, die die Wende zu Recht als Ausdruck der Schwäche werten, es den USA danken werden.

Ähnliche Probleme dürfte der zweite derzeit im US-Establishment kursierende Vorschlag mit sich bringen, die Annäherung an die bislang häufig als »Schurkenstaaten« geschmähten Nachbarländer Syrien und Iran. Den Herrschern beider Staaten wäre klar, dass die US-Regierung aus einer defensiven Position an sie herantritt. Wenn sie sich überhaupt zu Zugeständnissen herablassen, werden sie bedeutende Gegenleistungen fordern. Und es ist fraglich, ob sie den gewünschten stabilisierenden Einfluss überhaupt ausüben können.

Bessere Grenzkontrollen in Syrien könnten den Zustrom an Jihadisten mindern, doch die Landgrenzen des Irak zu versiegeln, dürfte sich als unmöglich erweisen. Die schiitischen Organisationen des Irak waren immer auf ihre Unabhängigkeit bedacht, auch wenn sie gerne Waffen und Geld aus dem Iran annahmen. Ihre Milizionäre, die nicht auf den angesehensten Ayatollah des Landes hören, dürften sich von einem Machtwort aus dem Iran kaum beeindrucken lassen.

Die Warlordisierung wird sich auf diese »realpolitische« Weise nicht zurückdrängen lassen. Möglicherweise ist es dafür bereits zu spät. Der Zerfall der irakischen Gesellschaft in Clans und bewaffnete Banden begann lange vor dem Angriff der US-Truppen. Kanan Makiya stellte in seinem 1989 erschienen Buch »Republik der Angst« fest, dass das Regime mit extremer Gewalttätigkeit die Bevölkerung atomisiert hat, um sie im Sinne seiner Ideologie neu zusammenzusetzen. Diese Transformation »von Klassen zu Massen« habe die individuelle und soziale Moral zerstört und jedes Verbrechen möglich gemacht. Embargo und Kriegswirtschaft begünstigten nach 1991 die Fragmentierung der irakischen Gesellschaft. Mehr und mehr stützten sich die Menschen auf Clans und Verwandtschaftsgruppen, die einzigen sozialen Organisationsformen, die das Regime nicht vollständig zerschlagen konnte.

Auf der politischen Ebene werden ethnisch-konfessionelle Unterschiede für den Verteilungskampf instrumentalisiert. Kurden und Schiiten, die unter Saddam Hussein politisch und ökonomisch benachteiligt waren, fordern einen höheren Anteil an den Ressourcen. Darüber kann verhandelt, gestritten und im Extremfall auch gekämpft werden. Doch wenn entführte Zivilisten mit Bohrmaschinen zu Tode gefoltert oder lebendig verbrannt werden, geht es nicht mehr um Geld oder theologische Differenzen. Eine traumatisierte Gesellschaft bringt zwangsläufig eine hohe Zahl von Gewalttätern hervor, die derzeit weder von moralischen Schranken und sozialen Bindungen noch von staatlicher Repres­sion an ihren Verbrechen gehindert werden.

Die Gewalt könnte aber zumindest gemindert werden, wenn es gelänge, die gesellschaftliche Fragmentierung wenigstens teilweise wieder aufzuheben. Es gilt im Westen als unschicklich, den Kapitalismus als Klassengesellschaft zu bezeichnen. Doch nation building im bürgerlichen Sinne, der Aufbau einer parlamentarischen Demokratie, erfordert eine Stärkung der Klassenstrukturen. Eine bürgerliche Demokratie kann mit regionalistischen Parteien leben, die sich auf besondere ethnisch-religiöse Traditionen berufen wie etwa die CSU. Im Irak gibt es jedoch keine großen auf nationaler Ebene agierenden Parteien, die soziale Interessen vertreten.

Weit bedeutsamer als politische und militärische Fehlentscheidungen der USA war das Fehlen jeglicher Konzepte, die über den Aufbau von Institutionen und die Machtverteilung zwischen ethnisch-konfessionellen Parteien hinausgehen. Statt beim Wiederaufbau das Wachstum einer irakischen Bourgeoisie zu fördern, die aus eigenem Interesse kooperieren würde, schanzte die US-Regierung staatsnahen Konzernen wie Halliburton die lukrativsten Aufträge zu. Das repressive Arbeitsrecht wurde von der Deba’athisierung ausgenommen, doch ohne starke Gewerkschaften können sich die Lohnabhängigen keine Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum erkämpfen. Die soziale Perspektivlosigkeit ist die ökonomische Grundlage der Warlordisierung, viele Männer schließen sich nur deshalb einer Miliz an, weil sie sich auf andere Weise keinen Lebensunterhalt verdienen können.

Jede Bemühung zur Stabilisierung der Verhältnisse müsste sich zudem auf jene 60 Prozent der Gesellschaft stützen, die unabhängig von ihrer ethnisch-konfessionellen Zugehörigkeit den friedlichs­ten Teil der irakischen Gesellschaft bilden: die Frau­en. Der Schleierzwang und andere Formen eines extrem repressiven Patriarchats sind nicht, wie »Realpo­litiker« nun wieder unverdrossen behaupten, kulturelle Besonderheiten, die man achten müsse, um die bärtigen Männer nicht zu verärgern. Individuelle Freiheit ist kein Luxus, den man sich nach gelungenem nation building bei Bedarf leisten kann, sondern eine Voraussetzung für die Demokratisierung.

Es ist fraglich, ob die zwangsläufig autoritären Maßnahmen ausländischer Besatzungs- und Interventionsmächte überhaupt eine halbwegs stabile Demokratie hervorbringen können. Andere staatliche Akteure haben in Afghanistan und afrikanischen Bürgerkriegsstaaten ebenso versagt wie die USA im Irak. Die von Bush und Rumsfeld zu verantwortenden Folterpraktiken und Bombardierungen sowie zahlreiche politische Fehlentscheidungen haben zur Eskalation beigetragen.

Andererseits ist es bestenfalls naiv zu glauben, nach dem Abzug der US-Truppen würde es den Irakern leichter fallen, ihre Streitigkeiten beizulegen. Auch die Spaltung des Landes in einen kurdischen, einen schiitischen und einen sunnitischen Teil ist keine Alternative. Die Fronten sind längst viel verworrener, und kaum jemand würde sich mit dem zufrieden geben, was ihm bei einer Teilung zugesprochen wird. »Der Versuch würde nur weiteren Krieg und weiteres Leid bedeuten«, urteilt die Abgeordnete Rajaa al-Khuzai. Mit einer bei westlichen Politikern selten zu findenden Ehrlichkeit gibt sie zu: »Welche Lösungen es für einen friedlichen Irak geben könnte, weiß ich nicht.«

Mitarbeit: Benjamin Engbrocks