Natural Born Killer

Ein Psychiater soll das zweite Gutachten zur Gefährlichkeit Christian Klars erstellen. Im Strafrecht werden die Täter immer häufiger pathologisiert. von stefan krauth

Der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP) will ein weiteres Gutachten über Christian Klars Gefährlichkeit einholen. Der Grund ist dessen Grußbotschaft an die so genannte Rosa-Luxemburg-Konferenz vom 13. Januar. Wegen Klars Schreiben habe sich eine neue Situation ergeben, meint Goll. »Die irritierenden Aussagen des Gefangenen stellen zum Teil das Ergebnis des bereits vorher fertiggestellten Lockerungsgutachtens in Frage. Wir halten eine neue Begutachtung aus einer zweiten Perspektive für erforderlich, um Klarheit über die Frage einer fortwährenden Gefährlichkeit des Gefangenen Klar zu bekommen«, sagte der Minister im Fe­bruar.

Klar sitzt derzeit wegen mehrerer gemeinschaftlich verübter Morde in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal. Im Januar 2009 läuft seine Mindesthaftdauer aus. Derzeit wird geprüft, ob er in den Genuss von Hafterleichterungen kommen kann, die seine mögliche Entlassung auf Bewährung vorbereiten sollen. Diese Erleichterungen umfassen zum Beispiel das begleitete Verlassen der Anstalt oder den unbegleiteten Ausgang. Es geht darum, den Gefangenen nach 24 Jahren Haft vorsichtig an ein Leben außerhalb der Gefängnismauern zu gewöhnen.

Nach dem Strafvollzugsgesetz setzt dies allerdings voraus, dass nicht zu befürchten ist, »dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen« werde. Um dies zu überprüfen, greifen Justizbehörden zuweilen auf Gutachten von Sachverständigen zurück. Der Kriminologe Helmut Kury hatte das erste Gutachten über Klar erstellt. Am 9. März gab ein Sprecher des baden-württembergischen Justizministeriums bekannt, dass der Psychiater Hans-Ludwig Kröber, der Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin, das zweite Gutachten vorlegen werde.

Zunächst verwundert es, dass eine harmlose Grußadresse das Ergebnis eines zuvor verfassten, umfassenden Gutachtens in Frage zu stellen vermag. Wozu ein zweites Gutachten? Das erste kriminologische Gutachten konnte jene »umstrittenen Äußerungen« Klars nicht mehr berücksichtigen. Deshalb wird der Eindruck erweckt, Kröber habe nun Klars politische Äußerungen aus psychiatrischer Sicht zu bewerten. Die Feststellung einer psychischen Krankheit kann dazu dienen, staatliche Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen. Das ist zunächst alles andere als selbstverständlich, da Gegenstand des Strafrechts schuldhafte, d.h. einem Menschen vorzuwerfende und freie Handlungen sind, die in der Vergangenheit liegen und im Strafprozess aufzuklären sind.

Im Kern muss das Strafrecht so beschaffen sein, dass die Bürger wissen können, wie der Staat auf ihr Handeln reagieren wird. Diese Erwartung dient als Grundlage ihres Handelns. Daher wird im Strafprozess ein in der Vergangenheit liegender Bruch der Norm behandelt, um zu zeigen, dass trotz der Tat an der Norm festgehalten wird. Die Philosophie der Aufklärung propagierte in diesem Zusammenhang ein Menschenbild, das die Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung universal unterstellte und mit dem moralischen Zwang verknüpfte, die innere Natur erfolgreich zu beherrschen. Hegel ehrte den Verbrecher, an dem die Strafe die Geltung der Vernunft demonstriere, als »vernünftig«.

Heute wird das etwas nüchterner, wenn auch nicht weniger sozialtechnologisch gesehen. Der strafbare Mensch, der homo penalis, gilt im Kern als homo oeconomicus: als Individuum, das nur insoweit regierbar ist, als es als ökonomisch handelnder Akteur begriffen wird. Der Verbrecher werde »nur wie irgendeine beliebige Person behandelt, die in eine Handlung investiert, die sich einen Ertrag davon erhofft und die das Risiko des Verlustes akzeptiert«, schreibt Michel Foucault.

Diese ökonomische Betrachtungsweise des Verbrechens geht davon aus, »dass die Kontaktfläche zwischen dem Individuum und der Macht auf das Individuum nur dieses Raster des homo oeconomicus sein wird«. Diese »Kontaktfläche« verschwindet bei psychisch Kranken und bei politischen Straftätern. Psychisch Kranke sind von der Strafe nicht erreichbar, weil sie für nicht ansprechbar gehalten werden. Politische Täter hingegen akzeptieren die Geltung der Norm nicht.

So öffnet sich die zweite Ebene der strafrechtlichen Sozialkontrolle, die auf psychiatrischen Klassifikationen basierenden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Es geht dabei weniger um die Aufklärung eines in der Vergangenheit liegenden Geschehens als um die Einschätzung, ob der fragliche Mensch gefährlich ist. Gefährlich heißt: Es muss mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass künftig abweichendes Verhalten zu erwarten ist, weil Normen nicht die erforderte Wirksamkeit entfalten. Dies ist die Aufgabe von Kröber und anderen vor Gericht tätigen Psychiatern. Die Anwendung ihres Wissens führt zu oftmals einschneidenderen Maßnahmen, als es die Anwendung »normalen« Strafrechts erlaubte.

Die Sicherungsverwahrung etwa sieht vor, dass Gefangene noch nach Verbüßung ihrer Strafe im Gefängnis behalten werden, wenn ihre Gefährlichkeit durch Gutachter festgestellt wird. Da diese Maßnahme zeitlich unbestimmt ist, gilt sie als schärfere Sanktion als die lebenslange Freiheitsstrafe. Waren im Jahr 1996 noch 176 Personen von der Anordnung betroffen, so waren es Ende 2006 bereits 398 Personen. Ebenso deutlich sind die Zahlen in den Fällen, da Personen wegen eines Strafurteils in der Psychiatrie untergebracht werden. Im Juni 1996 waren 2 956 Personen wegen ihrer »Gefährlichkeit für die Allgemeinheit« zwangsweise in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Im Jahr 2006 waren es bereits 5 917.

In einem Aufsatz, der im Jahr 2004 in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform erschien, beschäftigte sich Kröber mit der Frage, wann der »Persönlichkeitsdefekt«, der die Gefährlichkeit begründe, vorliege und wann noch von einer »normalen Tat« auszugehen sei. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, von einem »Defekt« dann auszugehen, wenn die Taten keine »Ratio­nalität« erkennen lassen. »Der Gutachter wie der Richter hat sich also immer auch mit der Rationalität der Straftaten zu befassen; es kann bisweilen in dessen Situation für den Angeklagten durchaus sinnvoller gewesen sein, weiter zu delinquieren, als sich den Normansprüchen zu unterwerfen.« Kröber fasst selbst »gefährliche« Berufsverbrecher noch in den Koordinaten des »normalen« Strafrechts, denn: »Die Tatentschlüsse beruhen auf klaren Kosten-Nutzen-Abwägungen.«

Klars angebliche Unbelehrbarkeit dient dazu, drohend vorzuführen, was mit denen zu geschehen habe, die aus der verordneten Vernunft ausscheren – selbst wenn es vordergründig nur um eine Hafterleichterung geht. Dass Klar das Spiel von Besserung und Reue nicht einmal zum Schein mitspielt, wird ihm nicht verziehen. Als irrationaler Akteur ist er Gegenstand psychiatrischer Begutachtung und moralischer Abrechnung zugleich.