Die Schmach überwinden

Im Streit um die Erinnerungspolitik hat der Westen sich gegen Russland auf die Seite Estlands gestellt. Präsident Putin reagierte mit scharfer Kritik an den USA. von ute weinmann

Revanchisten und jene, die schon immer wussten, dass Russland auch nach dem Ende des Kalten Krieges ein Imperium des Bösen geblieben ist, dürften derzeit allen Anlass haben zu frohlocken. Was noch vor wenigen Jahren eine zwischenstaatliche Angelegenheit geblieben wäre, weitete sich zum internationalen Skandal aus. Die Verlegung eines Bronzedenkmals zum Gedenken an die Befreiung Estlands durch die sowjetische Armee führte Ende April in Tallinn zu gewaltsamen Unruhen mit einem Todesopfer.

Der Zeitpunkt erwies sich als günstig. Estland kann sich als EU-Mitglied nicht nur der Unterstützung aus Europa und den USA sicher sein, sondern schuf den Anlass für die jüngste politische Krise mit seinem russischen Nachbarn just in dem Moment, da sich der Westen offenbar entschieden hat, einen kritischeren Ton gegenüber Russland und seinem lange hofierten Präsidenten Wladimir Putin anzuschlagen.

Die USA planen den Ausbau ihres Raketenabwehrsystems in Osteuropa, und der Streit dürfte auch auf dem in dieser Woche beginnenden Gipfeltreffen mit EU-Politikern im russischen Samara weitergeführt werden. Der Präsident des Europa-Parlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU), machte deutlich, dass die EU auf Seiten Estlands stehe und Putin sich mit seiner Forderung nach Absetzung der estnischen Regierung zurückhalten und sich nicht in estnische Angelegenheiten einmischen solle. Der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hingegen wies beschwichtigend darauf hin, dass die baltischen Staaten für die Großmacht Russland schließlich keine Bedrohung darstellten.

Allerdings geht dies am Kern der Sache vorbei. Hinter dem Konflikt verbirgt sich nämlich unter anderem der Versuch einer Neudefinition der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs. Sie dient weniger einer kritischen Geschichtsaufarbeitung, die ja die sowjetische Politik im Baltikum thematisieren könnte, ohne nationalsozialistische Verbrechen zu relativieren. Vielmehr soll die Schmach der Westmächte, die den Sieg über Deutschland nur mit Hilfe der Sowjetunion erringen konnten, überwunden werden. Insofern steht für Russlands Rolle in Zukunft mehr auf dem Spiel als auf den ersten Blick ersichtlich.

Der 9. Mai, der wichtigste nationale Feiertag in Russland, der als Tag des Sieges praktisch die gesamte Bevölkerung eint, gleichzeitig aber auch ein willkommener Anlass zur Propagierung nationalistischer Ziele ist, stand demnach ganz im Zeichen der außenpolitischen Spannungen. Putin hielt sich in seiner traditionellen Rede auf dem Roten Platz zwar mit Kritik an der EU zurück, dafür ging er mit Estland und den USA umso härter ins Gericht. »Wer Denkmäler für die Kriegshelden schändet, der beleidigt sein eigenes Volk und sät Zwietracht und neues Misstrauen zwischen Staaten und Menschen.« Deutlicher hätte Putin wohl kaum werden können. Seine Kritik an der amerikanischen Kriegspolitik kam einer Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus recht nahe, er unterstellte den USA »wie zu Zeiten des Dritten Reichs dieselbe Geringschätzung menschlichen Lebens, die gleichen Ansprüche auf Einzigartigkeit in der Welt und das alleinige Diktat«. Am selben Tag marschierten russische Rechtsex­tremisten mit antisemitischen Parolen ungestört durch Moskau.

An den Gedenkfeierlichkeiten in Estland am 8. Mai nahm der russische Botschafter dieses Jahr demonstrativ nicht teil, trotz der offiziellen Kranzniederlegung an dem neuen Standort des sowjetischen Bronzesoldaten durch den estnischen Ministerpräsidenten Andrus Ansip. Das berühmte Denkmal könnte indes bald unter der estnischen Bezeichnung »Pronkssodur« zur Handelsmarke für diverse Produkte wie Wodka und Kleidung werden. Das plant der estnische Konditoreikonzern Kalev, dessen Erzeugnisse allerdings derzeit in Russland boykottiert werden.