Der schwedische Wasserfall

Trotz der Unfälle in schwedischen Atomkraftwerken ist die Vormachtstellung des Staatsbetriebs Vattenfall in dem Land unumstritten. Atomenergie gilt trotz aller Störfälle als Garant für den Klimaschutz. von bernd parusel, stockholm

Hier ein Windrad, dort Pläne für ein neues Wasserkraftwerk. In Schweden arbeitet der Konzern Vattenfall eifrig an seinem Vorhaben, auf dem nordischen Energiemarkt die »Nummer eins für die Umwelt« zu werden. Vattenfalls Öko-Profil gehört zu den fünf »strategischen Ambitionen«, die sich das Management um den Vorstandsvorsitzenden Lars Göran Josefsson verordnet hat. Die anderen vier sind, ein »attraktiver Arbeitgeber« zu sein, das Wachstum des Konzerns fort­zusetzen, den Kundenstamm zu erweitern und Maßstäbe für die gesamte Energiebranche im Norden zu setzen. So steht es in einem Anfang Juli erschienenen Bericht des Stockholmer Finanzministeriums über die Tätigkeit der staatlichen Betriebe. Vattenfall dürfte daher viel daran gelegen sein, die für das Image schädliche Debatte um die Pannen in den von dem deutschen Tochterunternehmen Vattenfall Europe betriebenen Kernkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel schnell hinter sich zu lassen.

Die Geschichte des Vattenfall-Konzerns begann vor rund 100 Jahren mit dem Bau von Stauseen und Wasserkraftanlagen in Mittel- und Nordschweden. Daher hat das Unternehmen seinen poetischen Namen (»Wasserfall«). Seit 1992 ist es als Aktiengesellschaft organisiert, aber immer noch im Vollbesitz des Staats. Die Umstrukturierung sollte ermöglichen, neue Märkte im Ausland zu erschließen. Vattenfall ging in die Nachbarländer sowie nach Polen und Deutschland, kaufte sich in die »Hamburgischen Electricitätswerke« ein, in die ostdeutsche Braunkohleindus­trie und übernahm später auch die Berliner Bewag. Zudem bekam der Konzern die Betriebserlaubnis für die Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel. Dank des deutschen Tochterunternehmens gelang es, die Gewinne zu steigern. Vattenfall ist heute sogar das profitabelste unter den staatlichen Unternehmen Schwedens. Im Jahr 2006 wurden 7,5 Milliarden Kronen, über 800 Millionen Euro, an die Staatskasse ausgeschüttet. Vor ein paar Jahren bekam Vattenfall von der Regierung den Auftrag, das »leitende Unternehmen bei der Umstellung auf ein ökologisch und ökonomisch nachhaltiges schwedisches Energiesystem« zu werden. Konzernchef Josefsson reist seitdem als eine Art »Öko-Botschafter« um die Welt. Bundeskanzlerin Angela Merkel ernannte ihn vor Beginn der deutschen G8- und EU-Präsidentschaft zu einem von zwei persönlichen »Klimaschutzratgebern«.

Wegen der Braunkohleförderung in der Lausitz und dem für das Klima schädlichen Verheizen der Ressource in den Kraftwerken Jänschwalde, Schwarze Pumpe und Boxberg bezeichnete Greenpeace die Berufung Josefssons jedoch als »Affront« und »Realsatire«. In Schweden bekam der Konzernchef von Umweltschützern schon vor Jahren den Beinamen »Braunkohlen-Josef«. Die Vattenfall-Hauptversammlungen in Stockholm wurden von Protesten begleitet. Die Reaktionen der Medien darauf fielen allerdings meistens gering aus. Aus schwedischer Sicht sind die deutschen Dörfer, die den Vattenfall-Baggern weichen mussten, weit weg.

Das Braunkohle-Problem macht Lars G. Josefsson bislang also wenig Probleme. Nun aber, seit dem Unfall im schwedischen Atomkraftwerk Forsmark vor knapp einem Jahr und seit den Pannen in Brunsbüttel und Krümmel, steht sein guter Ruf auf dem Spiel. Sowohl in der Bundesrepublik als auch im eigenen Land betreibt Vattenfall Atomkraftwerke, die 30 Jahre alt und buchstäblich nicht mehr ganz dicht sind. Im ersten Reaktorblock in Forsmark war am 25. Juli 2006 nach einem Kurzschluss in einem Umspannwerk die Stromversorgung zusammengebrochen, zwei von drei Reservegeneratoren sprangen nicht an, und Kontrollinstrumente fielen aus. Das Personal hatte minutenlang keine Kontrolle über die Notabschaltung des Reaktors. In den Wochen danach waren ständig neue Mängel entdeckt worden, etwa schadhafte Dichtungen am Reaktortank. Forsmark stand monatelang still, auch in den AKW Oskarshamn und Ringhals mussten Schäden repariert werden. Im Februar gelangte ein interner Vattenfall-Bericht an die Öffentlichkeit, in dem die Pannen als »Höhepunkt einer seit längerem verfallenden Sicherheitskultur« bezeichnet wurden.

Obwohl nun vieles dafür spricht, dass dies auch für die deutschen Vattenfall-Reaktoren gelten könnte, hat die Empörung über Vattenfall in Deutschland wenig Resonanz im Herkunftsland des Energiekonzerns. Krümmel und Brunsbüttel wurden in der Presse zwar erwähnt, kritische Fragen an den Konzernchef gab es aber kaum.

Erklärungen dafür gibt es viele. Zum einen steht eine Mehrheit der Schweden der Atomkraft positiv gegenüber und will keinen Ausstieg mehr. Gründe dafür sind die in den vergangenen Jahren gestiegenen Strompreise, das Argument der Betreiber, ohne Atomstrom seien Klimaschutzziele nicht zu erreichen, die überwiegend atomkraftfreundliche Haltung einflussreicher Medien und die intensive Lobbyarbeit der Energiekonzerne. Zum anderen haben viele Schweden generell ein vertrauensvolles Verhältnis zu Staat, Behörden und staatlichen Betrieben. Ein Beleg dafür ist, dass es Vattenfall trotz des Forsmark-Unfalls gelungen ist, seinen Kundenstamm im Lauf des vorigen Jahres zu vergrößern. Seit das Management im Februar den Chef der zum Konzern gehörenden Betreibergesellschaft in Forsmark, Lars Fagerberg, entließ, wird in den Zeitungen kaum mehr über die Sicherheitsprobleme berichtet. Die Regierung erwähnt Forsmark in ihrem Bericht über die staatlichen Unternehmen lediglich mit zwei Sätzen. Der »ernste Zwischenfall« habe das wirtschaftliche Resultat belastet, und in den AKW laufe eine »intensive Arbeit, um die Sicherheit zu verbessern«.

Dieser Prozess ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Im Juni besuchte eine Delegation der internationalen Atomenergiebehörde IAEA Forsmark. Im Februar 2008 soll dann ein zwölfköp­figes IAEA-Expertenteam die Sicherheit aller schwe­dischen AKW untersuchen. Auch die Staats­anwaltschaft in Stockholm ermittelt noch, unter anderem wegen des Verdachts auf eine zu späte Notabschaltung des Reaktors. Die Atomaufsichts­behörde SKI hält unterdessen noch immer nicht alle Probleme in Forsmark für gelöst. Im Juni kritisierte die SKI, das AKW habe keinen »eigenen Experten«, der für eine optimale Ausstattung der Kontrollräume sorgen könne und dafür, dass die Mitarbeiter Fehler schnell erkennen. Die Betreiber hielten dem entgegen, man arbeite eng mit Hochschulen und Universitäten zusammen. Kritikern zufolge reicht es jedoch nicht aus, Fachwissen von außen anzufordern. »Die Kompetenz muss ständig vor Ort sein«, sagte Tommy Eriksson Wikén von der Behörde für Arbeitssicherheit im schwedischen Radio.

Auch wenn die Zwischenfälle in Forsmark, Krüm­mel und Brunsbüttel Vattenfalls Image be­ein­träch­tigen – in Schweden ist die Stellung des Konzerns vorerst unangefochten. Die Regierung will trotz des Ausstiegsbeschlusses von 1980 in den nächsten Jahren kein Atomkraftwerk vom Netz nehmen, und in Deutschland darf Vattenfall offenbar schalten und walten, ohne dass sich die Regierung zu Kommentaren gedrängt fühlt. Dabei ist die Bundesrepublik heute Vattenfalls größ­ter Markt. Mehr als die Hälfte seiner Vor-Steuer-Gewinne (rund 1,2 Milliarden Euro) erwirtschaftete der Konzern im ersten Quartal 2007 in der Bundesrepublik (641 Millionen Euro). Die öffentliche Hand kann dieses Geld gut gebrauchen, etwa um ein »ökologisch und ökonomisch nachhaltiges Energiesystem« zu schaffen – oder das, was sie dafür hält.