Vulkan hinkt

Die Sprache gehört allen, aber nicht allen steht sie zu Gebote. Es ist merkwürdig, dass ausgerechnet diejenigen, denen höchste Beherrschung der Sprache nachgesagt wird, mit ihr nicht fertig werden. Als ob Wörter stets an ihr Ziel kämen, nur nicht im Gedicht. Als ob alle Welt im Takt spräche und nur die Dichter aus dem Takt fielen. Als ob nur sie die Taktlosigkeit besäßen, daran zu erinnern, dass Sprache aus Wörtern gemacht ist. Über eine Verwandtschaft der Dichter und der Stammler. von stefan ripplinger

Ein großer Schriftsteller stirbt. Nachrufe erscheinen. In einem von ihnen heißt es: »Er konnte schreiben.« Nach­gerufene Sätze haben immer etwas Verkehrtes, aber dieser ist schlicht falsch. Der Schriftsteller konnte etwas schreiben, das wohl, etwas ganz Bestimmtes, aber der Satz »Er kann schrei­ben« meint etwas anderes. Er meint eine Disposition, eine fitness im wörtlichen Sinn. Der Journalist kann schreiben. Aber konnte Kafka schreiben? Konnte Artaud schreiben? Beckett? Unica Zürn? Christine Lavant? Konnte Ghérasim Luca schreiben? Oder Emily Dickinson?

Schreiben kann der Dienstleister, der content provider. Der Dichter kann nicht schreiben. Er schreibt. Aber er schreibt nicht deshalb, weil ihm der Austausch leicht fiele, sondern als ob er darüber nachdächte, weshalb er ihm so schwer fällt. Nicht verstehen können, nicht sich artikulieren können, nicht schreiben können, bleibt sein Motiv, in beiderlei Sinn. Sein Gott ist der humpelnde Vulkanus, so wie Karl Philipp Moritz ihn in seiner »Götterlehre« (1791) gemalt hat: »Das Mühsame und Beschwerliche der Arbeit in der mit Rauch und Dampf erfüllten Werkstatt, zusammengedacht mit der erhabnen Kunst, die unermüdet hier mit schaffendem Geiste wirkt, hüllte die Phantasie der Alten in eine eigene hohe Götterbildung ein, bei welcher alle Kraft sich in den mächtigen Arm vereint, der den gewaltigen Hammer auf dem Ambos führt, indeß die gelähmten Füße hinken.«

Vulkan oder Hephaistos ist der Gott des Feuers und ein Schmied. Schwächlich bei Geburt, zog er erst den Hass der Mutter, Juno, die ihn aussetzen wollte, dann den des Vaters, Jupiter, auf sich, der ihn am Fuß packte und den Himmel hinunterschleuderte. Seither hinkt Vulkan. Auf dem Olymp, im Aetna und auf Lemnos sind seine Werkstätten, die Zyklopen stehen ihm zu Diensten. Er ist Handwerker und Künstler.

In der Gestalt dieses Künstlergotts verbinden sich Macht und Ohnmacht, vielmehr widersprechen sie einander; der mächtige Arm, die gelähmten Füße. Als Mundschenk der Götter dient Vulkan deren derber Lustbarkeit. Es fehlt ihm an Beweglichkeit auf ihrem Parkett. In Gesellschaft humpelt, schlittert er, rutscht er aus. Er ist ein Kauz, eine Witzfigur und lächelt selbst darüber. Doch dieselbe Ungeschicklichkeit macht ihn in seiner abgeschiedenen Höhle geschickt zu einer Arbeit, die außer ihm niemand verrichten könnte und wollte.

Moritz urteilt sogar, es sei »gleichsam das Mangelhafte«, wodurch er den andern ebenbürtig werde. – Ein Urteil, das merkwürdig genug ist bei einem Ästhetiker, der »das Wesen des Schönen in seiner Vollendung in sich selbst« sah. Hat die in sich beschlossene Schönheit, die sich gegen die Welt abdichtet, ihren Ursprung in einem Mangel, der den Künstler von der Welt isoliert? Dann gründete auch das Vollkommene im Mangelhaften und auch das Schöne im Häss­lichen. Die Psychologie des Vulkan legt eine solche Ästhetik nahe: Nur weil er nicht gehen kann, bleibt er stehen, konzentriert sich auf den Stoff, den er sich mühsam zurechtbiegt.

»The crippled girl hobbles / Painfully in the new depths / Of the subway«, beschreibt ­George Oppen in »Vulcan« (1962) eine moderne Nachfahrin. Das Mädchen hinkt die Treppen zur U-Bahnstation hinunter und taucht auf dem Weg nach unten ein in immer schwärzere Tiefen von Arbeit und Geschäftigkeit, selbst die »black walls contain / Labor before her birth«. Aber die Verkrüppelte selbst »sits / Quiet, her eyes still«. Diese unbewegten Augen beginnen zu sehen. »Slowly / Deliberately she sees … « Sie sieht die Arbeit, die in allem steckt, Arbeit, die sie nicht leisten kann, Arbeit, die vor der Katastrophe ihrer Geburt geleistet worden ist. Ihre Macht ist es zu sehen, was zu schaffen sie ohnmächtig ist. Nur weil sie ohnmächtig ist, wächst ihr diese Macht der Vorstellung zu. Und selbst noch in das sprach­liche Bild dieses Mädchens schreibt der Dichter ein Straucheln und Stammeln ein, »the crippled girl hobbles«. Wenn Schriftsteller über Vulkan schreiben, schreiben sie manchmal über sich selbst.

Vulkan leidet unter dem Makel seiner Geburt. Aphrodite, die Schönheit, geht ihm mit Ares fremd, der kein Künstler ist, sondern Soldat, dafür hübsch und gut zu Fuß. Bei Homer schreit der von der Schönheit verlassene Künstler in Hexametern zum Himmel: »Vater Zeus, und ihr andern, unsterbliche selige Götter! / Kommt und schaut den abscheulichen unausstehlichen Frevel: / Wie mich lahmen Mann die Tochter Zeus’ Aphrodite / Jetzo auf immer beschimpft, und Ares den Bösewicht herzet; / Darum, weil jener schön ist und grade von Beinen, ich aber / Solche Krüppelgestalt! Doch keiner ist schuld an der Lähmung, / Als die Eltern allein! O hätten sie nimmer gezeuget!« (»Odyssee«, VIII, 306-312)

Also schlägt er den Ares in unsichtbare Fesseln. Vulkan fesselt, und das ist seine Kunstfertigkeit. Er lässt stocken, weil er selbst nicht vo­ran­kommt. Und so erzeugt er eine eigene, sprödere Schönheit. Es ist eine Schönheit jenseits von Arbeit und Geschäftigkeit. Seine düstere Ahnung aber, dass seine »twisted / Precarious birth«, wie es bei Oppen heißt, ihn für immer von den »men / Laborious, burly« trennt, täuscht ihn nicht. Die schwierige Geburt des Dichters ist sein Erlernen der Sprache. Auch die hübschen, kräftigen Kerle wie Ares haben einmal stammelnd sprechen gelernt, und auch Aphrodite, die Schönheit, kommt wie wir alle aus dem Schleim. Doch allein Vulkan vergisst das nie, er bleibt auch als Künstler ein Invalide und auch als Sänger ein Stammler, für immer gezeichnet von seiner Herkunft. Er ist ein ungewolltes Kind der Sprache.

Der Weg nach unten

Alle plaudern, plappern vor sich hin. Zweien fällt das nicht so leicht: dem Stammler und dem Dichter. Nur diese beiden können nicht mehr davon absehen, dass es eine Sprache ist, die sie sprechen. Sowohl der Dichter wie der Sprachgestörte ist gezwungen, sich auf den Stoff der Sprache zu konzentrieren. Sie können nicht gehen, also bleiben sie stehen. Sie konzentrieren sich auf den Stoff.

Der wichtigste Linguist des Jahrhunderts, Roman Jakobson, hat sich mit dem Dichter sowohl wie mit dem Stammler befasst, aber eine Verwandtschaft zwischen beiden nicht erkennen wollen. Was den Dichter betrifft, hat er sich einer Generation würdig erwiesen, die wissen wollte, wie »Gogols ›Mantel‹ gemacht ist«. Die Sprache der Poeten ist die gewöhnliche und die »poetische Funktion«, die Jakobson dem Organon-Modell Karl Bühlers angliederte, ist jedermanns Werkzeug. Es ist die Einstellung auf die Botschaft als solche, die Einstellung auf ihre Stofflichkeit, ihre Machart, ihre Musik.

Wir ordnen unsere Wörter rhythmisch an, wir fügen sie in Alliterationen und Assonanzen zusammen, suchen die Wiederholung, die Akkumulation, manchmal gar den Reim. All diese rhetorischen Figuren sind Schmuckformen, aber sie tragen zugleich mitten in die Kommunikation etwas zutiefst Unkommunikatives hinein. Hier teilt sich nichts mit. Hier spricht die Sprache, der Stoff selbst.

Jakobson gibt unter anderem dieses drollige Beispiel: »Ein Mädchen pflegte vom ›ekligen Erik‹ zu sprechen. ›Warum eklig?‹ ›Weil ich ihn hasse.‹ ›Aber warum nicht scheußlich, schrecklich, furchtbar, fies?‹ ›Ich weiß nicht wieso, aber eklig paßt besser zu ihm.‹ Intuitiv hielt sie sich an das poetische Verfahren der Paronomasie.«

Unheimlich wird es, wenn wir an die rhetorischen Figuren denken, die ihren Ursprung im Stammeln, im Abbrechen, in der Verwechslung und im Fehler haben. Der Anakoluth bezeichnet einen unvollendeten Satz, die Inversion die Umstellung, die Ellipse lässt Satzteile aus, Oxymoron, Katachrese und Zeugma fügen Ungefüges, Nichtzusammengehöriges. Die Interjektion unterbricht die wohlgeordnete Rede durch Schrei und Laut, die Junktur treibt einen Keil in sie, die Pause kann Abflauen sein, Anstauen, Damm und Bruch.

Diese Mittel der Alltagspoetik sublimieren die Erfahrungen, die wir machen, wenn wir in einer fremden Sprache reden oder unsere eigene uns zu einer fremden wird. Erfahrungen, die wir machen, wenn wir aufgeregt, verlegen oder betrunken sind. Wir beginnen zu lallen, Wortfindungsstörungen werden häufig, Perserveration bestimmter Wörter oder Klänge schleicht sich ein, Substitutionen sollen Leerstellen schlie­ßen, bis hin zu Passepartouts, »der Dings und Dings und Dingsbums, Dings«, phonematische und semantische Paraphasien, vulgo Versprecher oder Verwechslungen, sorgen für Heiterkeit, Infinitive ersetzen flektierte Formen, und rasch baut auch der Satz ab. Die Rede, durchschossen von Interjektionen, wird brüchig, sie läuft leer. Es sind Erfahrungen, die der an einer Aphasie Erkrankte täglich machen muss.

Auch die Aphasie hat Jakobson untersucht, auch ihr hat er eine Form gegeben. Die Laute, die der Sprechende zuerst erwirbt, verliert er zuletzt. Mit Heraklit und Cassirer gesagt: »Der Weg nach oben und der Weg nach unten ist derselbe.« Und doch will Jakobson die aphasische Dysfunktion von der poetischen Funktion strikt unterschieden wissen. Auch wenn die Dichtung sich einer Antigrammatik befleißige, verfalle sie doch nicht in einen Agrammatismus, »der die Beziehung zwischen Laut und grammatischer Struktur untergräbt«. Solch eine Grenze wird niemand mit Bestimmtheit ziehen wollen, der August Stramm oder Ghérasim Luca gelesen hat.

Außertheoretische Überlegungen mögen Jakobson zu dieser heiklen Grenzziehung bewogen haben. Kranke und Künstler miteinander zu vergleichen, wird niemand leichthin unternehmen, der sich des totalitären Terrors erinnert. Das Pathologisieren der Avantgarde war gewöhn­liche Praxis sowohl in Nazi-Deutschland wie in Sowjet-Russland.

Aber was, wenn die Krankheit der Sprache, von der hier die Rede ist, gar nicht das Leid bloß einiger Schlaganfall- und Tumorpatienten wäre? Was, wenn sich dieses Auseinanderfallen von Wort und Welt am Ursprung jedes Spracherwerbs befände? Wenn dieses Ringen nach dem Wort, das Stammeln des Kindes, zwar bald vom Geplapper und der Geläufigkeit überdeckt wäre, aber nie ganz verloren ginge? Was, wenn der Riss zwischen Ego und Alter, den wir als Sprachlernende alle mit Schrecken erfahren haben, sich von Zeit zu Zeit in Erinnerung brächte wie eine Decke, durch die bei Unwettern das Wasser tropft? Der Weg nach oben und der Weg nach unten ist derselbe.

Irgendwas an irgendwas in irgendwas

Die Aphasie führt uns noch einmal hinab an unsere Anfänge, wir begegnen dem Stammeln des Kindes wieder. Ulisse Dogà macht auf ein Interview aufmerksam, das Andrea Zanzotto im Jahr 1965 gegeben hat: »Kindheitsdichtung ist nicht länger etwas, das dem Paradiesischen und Naiven zugeschlagen wird. (Man sperrt es auch nicht mehr nach Art des frühen 20. Jahrhunderts in die Kategorie des ›unvollkommenes Sprechens‹.) Sie bezeichnet vielmehr eine Anspannung, die auf Entwicklung, auf Ausdruck und deshalb auch auf Mündigkeit abzielt. Trotz allem. Am Anfang fehlen die rechten Wörter, aber das entscheidende Ja und Nein ist doch bekannt. Am Anfang verfügt man über sein eigenes Stammeln. Wie ja übrigens heute alles stammelt, was nicht feierlich salbadert oder sich hinterhältig ausschweigt. Aber dies wird kein Stammeln des Greises sein, keines des schlechten Gewissens oder der Lähmung. Es handelt sich vielmehr um ein Vorstürmen, das nicht ans Ziel gelangt. Es ist nicht zu unterdrücken, es strahlt, und es staunt zugleich über sich selbst, darüber, dass es aus dem Nein hervorgeht, demselben Nein, das uns heute erstickt, das stets jeglichen Ursprung und jegliches Keimen des Wirklichen bedroht hat.«

Die Begegnung mit dem Anfang der Sprache ist also auch eine Begegnung mit ihrer Auflösung. Es ist eine Begegnung mit dem Nein. Und doch ist das, was aus diesem Nein und Nicht hervorbricht, aufregend, stürmisch, anspannend, poetisch. Ist es eine Erfahrung des Dichters allein? Wohl kaum.

»Wer spricht, spricht mit seiner Aphasie«, bemerkte Werner Hamacher. Aber nur die Dichtung, eine bestimmte Dichtung, sei redlich genug, die Aphasie mitsprechen zu lassen. Die Aphasie, die Sprachstörung und Sprachlosigkeit, das Stammeln wäre als Bedrohung, Rest und Rand in jeglicher Sprachäußerung enthalten, nur in der der Dichter oder bestimmter Dichter gäbe sie sich zu erkennen.

Jeder, der sprechen oder schreiben kann, konnte irgendwann, vor kurzer oder langer Zeit, nicht sprechen und nicht schreiben. Jeder, der sprechen oder schreiben kann, wird irgendwann, in kurzer oder langer Zeit, aufhören zu sprechen und zu schreiben. Die meisten vergessen diese Endlichkeit, dieses Unvermögen. Andere nicht. Wieder andere nehmen dieses Unvermögen, diese Endlichkeit als ihren Horizont an. Wann immer sie eine Rede anbahnen, dann durchaus im Zweifel darüber, ob sie ihr Ziel erreichen wird. Das hält sie nicht davon ab, sich zu äußern, gerade im Gegenteil, aber es gibt ihren Äußerungen doch einen Abwärtsdrall.

Das kann eine dichterische Erfahrung sein, das scheint eine dichterische Erfahrung zu sein. Nicht immer wird sie im Gedicht manifest. Aber sie kann manifest werden, bis hin zur Evokation des aphasischen Zustands in voller Blüte. Ghérasim Luca schrieb: »je t’ai je t’aime je / je je jet je t’ai jetez / je t’aime passioném t’aime / je t’aime je je jeu passion j’aime / passionné éé ém émer … «

Reinhard Priessnitz schrieb: »na & irgendwas an irgendwas in irgendwas / & wieder irgendwas hinter irgendwas irgend / wasirgendwas jajaj um irgendwas zu irgendwas / über irgendwas auf irgendwas irgendwas & / während irgend­was wo irgendwas so irgendwas / zwischen irgendwas&irgendwas neben oder / irgendwas auch irgendwas nach irgendwas nach … «

Lucas Verse führen so folgerichtig phonematische Paraphasien, also Wortentstellungen, her­bei, als ob es sich um eine Feldstudie der Broca-Aphasie handelte. Dieser Typ der Sprachstörung ist durch eine erhebliche Sprachanstrengung, ein mühsames Tasten und gieriges Greifen nach den Lauten gekennzeichnet. Schwierigkeit bietet weniger das Wort als die Artikulation.

Betrachtet man das Gedicht so, sind die Wörter, ist der Satz dem Sprechenden zwar wohl bekannt: »Je t’aime passionément«. Aber der Satz zerbricht, gerade in dem Moment, in dem der Sprecher nach ihm greift. Inszeniert wird eine syntagmatische Störung, die Wörter fügen sich nicht länger. Es sind deshalb vor allem Omissionsparaphasien, die an dieser Stelle wirksam werden, das heißt, einzelne Silben werden herausgebrochen, »je t’aime« wird zu »je t’ai« oder gar zu »jet«, »passionément« zu »passioném«.

Die Verse von Priessnitz bieten genau das entgegengesetzte Bild. Hier ist der Redefluss, sind Satz und Syntagma erhalten, ein grammatisches Gerüst samt Präpositionalgefüge ist errichtet, allein, es fehlt das gesuchte Wort. Wie in der Wernicke-Aphasie wird das Fehlende durch Substitutionen zu einer vielmaligen, leer laufenden Wiederholung gesteigert. Wir bewegen uns in einer entkernten Welt. Die äußere Form, der Satz, ist in Grundzügen erhalten, aber es fehlt die Prädikation. Die extreme Kontextabhängigkeit dieser Kranken gibt sich durch eine Vielzahl von Pronomen und Präpositionen zu erkennen. Aber dieser Kontext, in dem sie hilflos umherirren, verweist nur mehr auf sich selbst, ist eine nach außen abgedichtete Welt. Abstraktionen sind nicht mehr möglich. Substantive weichen den Floskeln.

Es wird an dieser Stelle sofort begreiflich, was verloren geht, wenn solche Gedichte lediglich auf coole Kombinationen abgeklopft werden: die Sprachnot; etwas sagen wollen, aber es nicht sagen können. Keineswegs soll behauptet werden, Luca oder Priessnitz hätten sich, als sie schrieben, in einer akuten Sprachnot befunden. Aber einen Zustand der Sprachnot gestalten und evozieren sie doch, und höchst virtuos. Das gibt diesen Gedichten ihre Prägung und verleiht ihnen ihre Kraft.

Auch feinere Ähnlichkeiten zur Symptomatik können, nicht nur bei diesen beiden Dichtern, entdeckt werden. Schon das Enjambement, das die natürliche Einheit des Satzes zerbricht, bezeichnete dann einen Haarriss im Gefüge. Die Metrik wäre nicht nur eine Musikalisierung der Sprache, sondern auch ein Verfehlen der gewöhnlichen Intonation. Das in der modernen Dichtung häufige Verfahren der Permutation könnte dann nicht bloß als eine Rekombination von Satzteilen, sondern auch als eine Suchbewegung gelesen werden. Es wäre die abstrakte Fassung einer paradigmatischen Störung. Jede bewusste Beschränkung von Vokabular und Grammatik, etwa im Anagrammgedicht, vollzöge, so gesehen, auch einen sprachlichen Notstand nach. Indem, wenn auch spielerisch, die Sprache behindert wird, erweist diese, wenn auch reizvoll, ihren behindernden Charakter. Was im Gespräch falsch ist, würde wahr im Gedicht.

Die zweite Fassung von Hölderlins »Mnemosyne« beginnt so: »Ein Zeichen sind wir, deu­tungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren. / Wenn nämlich über Menschen / Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig / Die Monde gehen, so redet / Das Meer auch und Ströme müssen / Den Pfad sich suchen. Zweifellos / Ist aber Einer. Der / kann täglich es ändern. Kaum bedarf er / Gesetz. Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben / Den Firnen. Denn nicht vermögen / Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen / Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo, / Mit diesen. Lang ist / Die Zeit, es ereignet sich aber / Das Wahre.« Dass wir fast die Sprache in der Fremde verloren haben, den Pfad uns suchen müssen, an den Abgrund reichen, sagt dieses Gedicht nicht nur, es drückt es, in seinen Spaltungen und arhythmischen Verschiebungen, auch aus. Es hat die Erfahrung des Stammelns und Verstummens hinter sich und vor sich.

»Shame deflects the pen«, schreibt Basil Bunting in »Briggflatts«, und das ist ein Vers, der vieles erklärt, was in diesem Gedicht geschieht. Christine Lavant spricht vom »Kehlkopf, der schon verholzt ist«. »Adlergelasse / Saerge des All / Alles Rege das / seg’le als Ader. / Lasse der Alge / das Esel-Lager«, liest Unica Zürn am Grunde eines leeren Glases, nämlich in der Fügung »Das leere Glas«. »Aus allen Winkeln gellen Fürch­te Wollen / Kreisch / Peitscht / Das Leben / Vor / Sich / Her / Den keuchen Tod / Die Himmel fetzen. / Blinde schlächert wildum das Entsetzen«, reagiert August Stramm auf einen Sturmangriff. »ro ro ro / a o / mmm /  / ram / om om / r o r o«, kaut bp Nichol auf den Wörtern »roam« und »room« herum. »ratara ratara ratara / atara tatara rana«, heißt es schon bei Antonin Artaud. »Ni widi tschen lali gan demi detti / La bade schon wette wett wum wum / Goli wudi bum bim wuschi wuschi sitz wetz / Sussi sussi sussi witschi schrumm«, übersetzt Karl Valentin aus dem Chinesischen. »Muter gond stu dehst sto sille / Wurch die Wochenalbend hin«, lockert sich das Volkslied in Raoul Hausmanns »Sprechspänen«. Bei Oswald Egger schließlich lallt das Lied: »Wie die von / Trollblumen / Schem’ene / Naht-Schnurpf schnurrl’t«.

Wie die Kinder

Gewiss, der Aphasiker entstellt, der Dichter schafft das Wort. Neologismus (Neuschöpfung) und Paraphasie (Entstellung) sind ganz unterschiedlicher Herkunft. Für die Neuschöpfungen des Dichters gibt es kein Reparandum. Er verfehlt nicht das Alte, er will das Neue. Der Aphasiker oder das Kind wollen durchaus ein Wort der alten Sprache artikulieren, doch nur sie allein wissen, was sie mit »Bulme«, »Bansane« oder »Kugelschrauber« meinen, und erzeugen so doch eine neue. Hier Schaffen, da Verfehlen, aber der Zuhörer erkennt den Unterschied nicht, in seinem Lexikon sind weder die Neologismen des Dichters noch die Paraphasien des Aphasikers oder des Kindes verzeichnet. Er erkennt Ähnlichkeiten und Abweichungen. Er genießt die Friktion der neuen Sprache mit seiner alten, eine Reibung und Spannung, die der Dichter absichtsvoll herstellt, der Aphasiker oder das Kind aber manchmal ebenfalls erreichen.

»Die wohlgeformte Rede war nie das Besondere noch die eigentliche Sache großer Schriftsteller«, urteilt Gilles Deleuze. Der stotternde Dichter bringe die Sprache selbst zum Stottern, er sei ein Stotterer der Sprache und nicht irgendeiner Botschaft, erkennt der Philosoph. Doch will er in der Dichtung »langue«, also das abstrakte Sprachsystem, von »parole«, also dem Sprechakt, klar scheiden. Beruht aber das Stottern des Dichters nicht gerade auf dem Stottern des Sprechers? Hebt die Dichtung nicht die frustrierenden Erfahrungen des Gesprächs auf? In der Dichtung kann die aphasische Erfahrung aufscheinen, die eine Erfahrung der Nichtkommunikation in der Kommunikation ist. Wenn das aber so ist, bleibt das Gedicht, wenn auch indirekt, noch immer auf die »parole« bezogen. Spricht der Dichter noch? Aber ja. Er spricht aus, dass er nicht sprechen kann. Die Götter lachen über Vulkan, weil sie in seiner Unfähigkeit ihre eigene wiedererkennen.

Deleuze scheint sich seiner Sache ohnehin nicht sicher. An anderer Stelle hat er, angeregt von Alfred Jarry, schließlich doch »parole« und »langue« aufeinander bezogen. Um zu erklären, wie dichterische Sprache oder eine bestimmte dichterische Sprache entsteht, schlägt er dieses Schema vor: »Der Affekt (A) erzeugt in der Normalsprache (B) eine Art Stockung, Stottern oder hartnäckiges Tamtam, gleichsam eine Wiederholung, die fortwährend etwas Neues (C) erschaf­fen soll. Unter dem Zwang des Affekts fängt unsere Sprache an zu wirbeln und bildet in diesem Wirbel eine Sprache der Zukunft: Man könnte sagen eine Fremdsprache, ein ewiges Wiederkehren, das aber springt und hüpft.«

Affekt, Stockung, Wiederholung, neue, fremde Sprache, poetische Sprache. Die »parole« schüttelt die »langue« durch. Zu diesem Eindruck kann einer bei der Lektüre aufregender neuer Dichtung gelangen. Aber der Affekt, von dem die Rede ist, der Affekt, der die Störung und Umformung erst verursacht – woher kommt er? Und erhält er sich? Oder verpufft er im Sprechakt?

Der Affekt könnte ein Sagen-Wollen sein, etwas, das Jakobson als das Phatische gefasst hat. Deshalb muss seine Feststellung bezweifelt werden, in der Dichtung sei die phatische Funktion die schwächste. Den Begriff des Phatischen bezog er aus der Ethnologie Bronisław Malinowskis. Der einzige Zweck des Phatischen besteht darin, Kommunikationen zu verlängern. »›Well!‹ the young man said. ›Well!‹ she said. ›Well, here we are,‹ he said. ›Here we are,‹ she said, ›Aren’t we?‹ ›I should say we were,‹ he said, ›Eeyop! Here we are.‹ ›Well!‹ she said. ›Well!‹ he said, ›well.‹«

Das Beispiel entnimmt Jakobson zwar der Erzählung »Here We Are« von Dorothy Parker. Dennoch will er als Champions der phatischen Funktion nicht Erzählerinnen und Lyriker, sondern Papageien und Kleinkinder sehen: »Das Bestreben, Kommunikation zu erstellen und zu verlängern, ist typisch für sprechende Vögel; die phatische Funktion der Sprache ist so die einzige, die sie mit menschlichen Lebewesen teilen. Sie ist auch die erste, die das Kleinkind erwirbt; es neigt dazu, Kommunikation herzustellen, bevor es informative Kommunikation senden oder empfangen kann.«

Es versteht sich, dass Parkers Erzählung die phatische Funktion nur darstellt, nicht selbst sich in einem phatischen Modus befindet. Aber wenn Jakobson das Kleinkind erwähnt, das vorerst gar nichts mitteilen kann, aber doch mit all seiner Energie um Kontakt ringt, kommt sogleich Zanzottos prägnante Schilderung des Vorgangs in den Sinn.

Eine auffällige Verschiebung deutet sich hier an. Wenn Dichtung sich aus den Erfahrungen der »parole« bedient, scheint das Verhältnis von Schrift und gesprochenem Wort verkehrt. Auch wenn das moderne Gedicht noch geschrie­ben wird, scheint doch das Sprechen – man denke nur an Bunting, Luca oder Oskar Pas­tior – die angemessene Präsentation zu sein.

Doch aus einer vulkanischen Vogelperspektive gilt es, eine Ergänzung zu machen. Schrift besitzt ihren Wert in der Differenz. Sie bringt zu Bewusst­sein, dass Wort und Sprecher, Wort und Ding nicht dasselbe sind, dass das Zeichen immer woanders ist. Sie löscht den Kitsch der Präsenz. Genau diesen Effekt erzielt aber auch die misslingende Rede. Selten macht sich die Zeichenhaftigkeit des Wortes deutlicher kenntlich als in dem Moment, in dem es nicht gefunden, nicht ausgesprochen werden kann. Es mag sein, dass das gesprochene Wort viele Dichter inspiriert, aber hier geht es um das gesprochene verfehlte Wort.

Diese Erfahrung kann im Schreiben sogar noch eindringlicher sein als im Sprechen. Dieter Roth hat sie mit dem ersten Band seiner »Scheiße«-Gedichte praktisch nachvollzogen. Die Gedichte selbst sind, obwohl sie sich auf seltsame Weise mit der Welt überworfen haben, formal nicht sehr auffällig. Wilhelm Busch stand dieser Dichtung Pate, nicht die Wiener Gruppe. Auffällig ist aber das Verfahren, dem Roth seine Gedichte unterwarf. Er dachte da als der Künstler, der er war, aber vielleicht auch als der Renegat einer Konkreten Poesie. Er ließ die Gedichte von seinen amerikanischen Studenten, die allesamt des Deutschen nicht mächtig waren, setzen. Resultat war eine Vielzahl von Fehlern und Verhebungen, die Roth in alle späteren Ausgaben seiner »Scheiße« getreulich übernahm. Wie für Chlebnikow war auch für ihn der Druckfehler ein Leckerbissen.

Das Verhältnis der Dichtung mit der »parole« besteht in einer schwierigen Erfahrung mit der sprachlichen Produktion, ob Schrift oder Rede. Im Reden und Schreiben erst erkennen wir die Insuffizienz der Wörter.

Im Stammeln des Kindes, des Aphasikers und des Dichters drängt etwas an, strahlt etwas auf, das weder fertig noch am Ziel ist, aber doch ernst genommen werden muss. Sie wollen etwas sagen und verfehlen es doch. Die dichterische Sprache schließlich ist der Schauplatz, auf dem das Drama der misslingenden Sprache aufgeführt wird. Als Leser oder Hörer erkennen wir in der Dichtung das Misslingen, unsere eigene Aphasie, die Endlichkeit und Ohnmacht unserer eigenen Sprache, wieder. Wie jedes Drama können wir auch dieses genießen, denn es handelt nicht nur von der Not, es überwindet sie auch, denn es spottet ihrer und befreit von den Zumutungen der gelingenden Kommunikation.

In seiner Predigt über den Hl. Franz von Sales ruft Bossuet aus: »Du hast es gewusst, großer Paulus, der du so oft aus dem dritten Himmel herabgestiegen bist, um mit den Kindern zu stammeln.« Von einem, der in den dritten Himmel entrückt worden ist, berichtet Paulus im zweiten Korintherbrief. Nicht im Zustand des Entrückt- und Entzücktseins hat er gestammelt, gestammelt hat er, als er aus dem dritten Himmel zu den Menschen, zu den Kindern zurückkehrte. Diesen Zustand hält Bossuet fest, nicht das fromme Schweigen oder das Reden in Zungen. Kaum anders bei Dante, der in den Himmeln die Sprache schweigen lässt. Aber dass er auf dem Weg durch die Hölle den Stotterern gelauscht hat, ist schon Ossip Mandelstam aufgefallen. »Mir scheint«, schrieb Mandelstam, »Dante habe aufmerksam alle Sprachdefekte studiert, den Stotterern gelauscht, den Lisplern, den Näselnden, allen Aussprachefehlern, und habe viel von ihnen gelernt.«

Bei Bossuet, Dante, Moritz klingt es schon an. Aber erst die Dichter nach Chlebnikow, allen voran Mandelstams eigene Generation, waren in der Lage, diesem Umstand die gebührende Beachtung zu schenken. Wie uns die atonale Musik lehrt, die tonale anders zu hören, wie die abstrakte Malerei den Blick auf die Faktur der figurativen lenkt, so hat uns die poetische Avantgarde vor Augen geführt, dass Vulkan hinkt.

Bei diesem Text handelt es sich um eine für den Druck völlig überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der ­Autor am 29. August 2007 auf den Kulturtagen in Lana, »Zur Poetik«, gehalten hat.

Literatur:

Jacques-Bénigne Bossuet: »Panégyrique du bienheureux François de Sales«. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. Abbé Velat und Yvonne Champailler. Paris 1961

Basil Bunting: »Briggflatts«. In: Ders.: Complete Poems. Hg. v. Richard Caddel. Newcastle upon Tyne 2000

Ernst Cassirer: »Zur Pathologie des Symbolbewußtseins«. In: Ders.: Philosophie der symbolischen Formen. Band 3, Kapitel VI. Darmstadt 1990 (Nachdruck der zweiten Auflage 1954)

Gilles Deleuze: Kritik und Klinik. Aus dem Französischen von Joseph Vogl. Frankfurt / M. 2000

Ulisse Dogà: »‹Et le poème de bégayer … › Archi-écriture chez Andrea Zanzotto«. www.atopia.tk

Oswald Egger: nihilum album. Lieder und Gedichte. Frankfurt / M. 2007

Karl Glonig, Wolfgang U. Dressler, Hg.: Paraphasie. Untersuchungen zum Problem lexikalischer Fehlleistungen. München 1980

Werner Hamacher: »Anataxis. Komma. Balance. Anmerkungen zu Jean Daives W«. In: Jean Daive: Erzählung des Gleichgewichts 4. W. Übers. v. Werner Hamacher. Basel, Weil 2006

Raoul Hausmann: Sprechspäne. Flensburg / Glücksburg 1962

Friedrich Hölderlin: Gedichte. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt / M. 1969

Homer: Ilias. Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Frankfurt / M. 1990

Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt / M. 1979

Ders.: »Der grammatische Aufbau der Kindersprache«. In: Elmar Holenstein: Von der Hintergehbarkeit der Sprache. Kognitive Unterlagen der Sprache. Frankfurt / M. 1980

Ders.: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt / M. 1992

Ders.: »Two Aspects of Language and Two Types of Aphasic Disturbances«. In: Ders. u. Morris Halle: Fundamentals of Language. Berlin, New York 2002 (Nachdruck der zweiten Auflage 1971)

Julia Kristeva: La Révolution du langage poétique. 2 Bde. Paris 1974

Christine Lavant: Spindel im Mond. Gedichte. 5. Aufl. Salzburg 1995

Ghérasim Luca: Lapsus Linguae / Das Körperecho. Französisch / Deutsch. Übers. v. Mirko Bonné, Michael Hammerschmid, Theresia Prammer. Wien, Basel, Weil 2004

Ossip Mandelstam: »Gespräch über Dante«. In: Ders.: Gespräch über Dante. Gesammelte Essays II. 1925-1935. Übers. u. hg. v. Ralph Dutli. Zürich 1991

Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin 1791

Ders.: Beiträge zur Ästhetik. Hg. v. Hans-Joachim Schrimpf und Hans Adler. Mainz 1989

George Oppen: »Vulcan«. In: Ders.: New Collected Poems. Hg. v. Michael Davidson. Manchester 2003

Günter Peuser: Aphasie. Eine Einführung in die Patholinguistik. München 1978

Reinhard Priessnitz: vierundvierzig gedichte. Linz, Wien 1986

Dieter Roth: Scheisse. Vollständige Sammlung der Scheisse-Gedichte mit allen Illustrationen. Gesammelte Werke, Bd. 13. London, Reykjavik 1972

Christian Scholz, Urs Engeler, Hg.: Fümms bö wö tää zää Uu. Stimmen und Klänge der Lautpoesie. Basel, Weil 2002

Schuldt, Hg.: Glossolalie. »Stammelheft / tritt an die Stelle der Nr. 18 des / Literaturmagazins«. Rowohlt Literaturmagazin, 18 / 1986

August Stramm: »Sturmangriff«. In: Dramen und Gedichte. Hg. v. René Radrizzani. Stuttgart 1979

Andrea Zanzotto: »L’Elegia in petèl / Die lallende Elegie«. In: Ders.: La Beltà / Pracht. Gedichte. Italienisch / Deutsch. Übers. v. Donatella Capaldi, Maria Fehringer, Ludwig Paulmichl und Peter Waterhouse. Wien, Basel, Weil 2001