Tränen um das Amselfeld

Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nähert Serbiens Ministerpräsident Kostunica sich den Radikalen an und löst die Regierung auf. von boris kanzleiter, belgrad

Für Serbien wird am Eurovision Song Contest in diesem Jahr die Sängerin Jelena Tomaševic teil­nehmen. Ihr Auftritt bei der Vorentscheidung vergangene Woche überzeugte die Juroren. In einem blutroten Kostüm sang die 25jährige mit sanfter, aber eindringlicher Stimme vom Vidovdan, dem Tag der Schlacht auf dem Amselfeld im Kosovo im Jahr 1389. Echte Tränen rannen über die Wangen vieler Zuhörerinnen und Zuhörer.

Der European Song Contest wird dieses Jahr am 24. Mai in Belgrad stattfinden. Und aller Voraussicht nach wird es dann nicht weniger Emo­tionen geben, wenn vom Kosovo gesungen wird. Tomaševic trifft mit ihrem Lied die Stimmung nach der Unabhängigkeitserklärung der Provinz durch albanische Nationalisten. Für viele Serben ist der Kampf noch nicht vorbei.

Hinzu kommt, dass Ministerpräsident Vojislav Kostunica, der Vorsitzende der nationalkonserva­tiven Demokratischen Partei Serbiens (DSS), vergangene Woche die Regierung aufgelöst hat. Er will eine weitere Annäherung Serbiens an die EU nur dann zulassen, wenn diese auf eine Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo verzich­tet. Die bisherigen, prowestlichen Koalitionspart­ner der DSS aus den Reihen der Demokratischen Partei (DS) und der neoliberalen G17 lehnen dagegen eine Kopplung der europäischen Integra­tion an das Kosovo-Problem ab. Kostunica sah nur einen Ausweg aus der Krise: Neuwahlen, die für den 11. Mai anberaumt wurden.

Die jüngste Entwicklung bestätigt nun, was sich schon seit Monaten abzeichnete. Kostunica geht im Kosovo-Konflikt aufs Ganze. Denn seine Entscheidung bedeutet keinen Rückzug von der Macht. Er sucht vielmehr ein Bündnis mit der rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei (SRS). Ganz offen kündigte dies sein Verbündeter, der bisherige Minister für Kapitalinvestitionen, Velimir Ilic, an. »Wenn das Volk die Radikalen wählt, sind sie im Spiel«, erklärte er in Hinblick auf eine künftige Regierung. Die Radikalen haben bereits zu verstehengegeben, dass sie einverstanden sind. Er schließe »eine Koalition mit der DSS nicht aus«, sagte SRS-Generalsekretär Aleksandar Vucic.

Es zeichnet sich also eine Wiederholung des polar­isierenden Wahlkampfs während der Präsidentschaftswahl ab, bei der sich am 20. Januar der pro­westliche Boris Tadic nur knapp gegen den Spitzenkandidaten der Radikalen, Tomislav Nikolic, durchsetzen konnte. Nach Kostunicas Abschied aus dem »demokratischen Block« der ehemaligen Anti-Milosevic-Opposition stehen die Chancen der Radikalen dieses Mal aber besser. Denn nachdem wichtige EU-Länder wie Deutschland, Frank­reich und Großbritannien die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo anerkannt haben, hat Tadics Versprechen, gleichzeitig »für Kosovo und Europa« zu kämpfen, erheblich an Glaubwürdigkeit verloren.

Kostunica hat bereits angekündigt, die Parlamentswahlen auch in den serbischen Landkreisen im Kosovo durchführen zu wollen. Das wiederum kann die kosovarische Regierung nicht erlau­ben, will sie mit der Unabhängigkeitserklärung ernst genommen werden. Es zeichnet sich also ein offener Machtkampf um die tatsächliche Kon­trolle des Territoriums ab, der bisher ausgeblieben ist.

Wie weit die Eskalation getrieben wird, ist freilich fraglich. Zwar lehnt die große Mehrheit der Serben die Unabhängigkeit des Kosovo ab, aber nur wenige wollen für die Provinz in einen neuen Krieg ziehen. Eine »Rückkehr in die neunziger Jahre«, wie sie in diesen Tagen von der serbischen Regierung befürchtet wird, erscheint als Horror­szenario.

Erinnerungen an schlimme Zeiten weckte der Auftakt des Prozesses gegen den kroatischen General Ante Gotovina vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Ihm und weiteren Angeklag­ten werden »ethnische Säuberungen« und »Verbrechen gegen die Menschheit« vorgeworfen. Im August 1995 hatte die kroatische Armee mehr als 150 000 serbische Zivilisten aus der Krajina-Region in Kroatien vertrieben. Die Bilder der Flücht­lingstrecks sind in Serbien bis heute nicht vergessen. Sie sind eine Warnung vor den Gefahren auch im Kosovo.