Die vergessene Frau unter den niederländischen Rätekommunisten

Eine fehlt

Illustre Namen finden sich unter den Rätekommunisten: Franz Jung, Oskar Kanehl, Otto Rühle, Anton Pannekoek. Aber wer kennt hierzulande eigentlich Henriette Roland Holst?

Es ist wenig bekannt, aber als Paul Levi auf einem Kongress der gerade einmal ein Jahr alten Kommunistischen Partei Deutschlands diejenigen hinauskomplimentierte, die sich mit den leninistischen Regeln des so genannten demokratischen Zentralismus und der Weisungsgebundenheit an die Komintern nicht abfinden wollten, kostete das der junge Partei mehr als die Häl­fte ihrer Mitglieder. Aus den Reihen der Hinausgeworfenen gründete sich im April 1920 die Kom­munistische Arbeiterpartei Deutschlands, die KAPD, die für einige Jahre Furore machte: So gingen noch im selben Jahr der Schriftsteller Franz Jung und Jan Appel an Bord des Schiffes »Senator Schröder«, das eigentlich zum Fischfang nach Island wollte. Unter maßgeblicher Mitwirkung des Matrosen Knüfgen und einer Mannschaft, die mit der KAPD sympathisierte, zwangen Jung und Appel den Kapitän zur Kursänderung Richtung Leningrad. Von dort ging es auf dem Landweg wei­ter nach Moskau, denn Jung und Appel wollten mit Lenin persönlich über alle Fragen diskutieren, die ihnen auf den Nägeln brannten. Der zeigte sich konziliant, fühlte sich aber, nachdem die bei­den Hitzköpfe wieder abgereist waren, angeregt zu seiner Schrift »Der Linksradikalismus. Die Kin­der­krankheit des Kommunismus«, die im Juni 1920 erschien und bei den daheim gebliebenen Mitgliedern der KAPD für Empörung sorgte. Zu Recht, denn sie waren gemeint.
Illustre Namen finden sich – zumindest zeitweise – unter ihnen: Eben der bereits erwähnte Franz Jung, der Leiter des mitteldeutschen Aufstan­des, Max Hölz, auch er aus keinem weichen Holz geschnitzt, der Herausgeber der künstlerischen und politischen Avantgarde-Zeitschrift Die Aktion, Franz Pfemfert, der Lyriker Oskar Kanehl oder auch der Reformpädagoge Otto Rühle, der seinerseits im Juni 1920 in die Sowjetunion reiste, wo man ihm die »Leitsätze über die Grundaufgaben der Kommunistischen Internationale« zur Unter­schrift vorlegte, deren Anerkennung gleichbedeutend mit einer Selbstauflösung der KAPD gewesen wäre. Rühle kehrte erschüttert nach Deutsch­land zurück und behielt die Eindrücke, die er im jungen Sowjetstaat gewonnen hatte, für sich: »Die Räte (…) sind in Russland nur Schat­ten. Ein Feigenblatt für die Bürokratie der Parteidiktatur. Indem sich aber Russland auf die Bürokratie stützt, kommt es zu einer politischen und wirtschaftlichen Karikatur des Kommunismus. […] Für die KAPD ist – im Gegensatz zu Moskau – die Revolution keine Parteisache, die Partei keine autoritäre Organisation von oben nach unten, der Führer kein militärischer Vorgesetzter, die Masse keine zu Kadavergehorsam verurteilte Armee, die Diktatur des Proletariats keine Despotie eines Führerklüngels, der Kommunismus kein Sprungbrett für das Aufkommen einer neuen Sowjet-Bourgeoisie.«
Doch nicht alle KAPDler ließen sich schon zu diesem Zeitpunkt von Rühles Einschätzung über­zeugen; eine dritte Delegation, an der der Niederländer Hermann Gorter und der Schriftsteller Karl Schröder teilnahmen, brach im November des­selben Jahres nach Moskau auf. Gorter und Schrö­der ließen sich dazu überreden, dass ihre Partei der Komintern zumindest als sympathisierende Partei beitrat. Das sorgte bei den Daheimgeblie­benen natürlich für Unmut, man stritt sich und spaltete die Partei, man stritt weiter: Die sich zuspitzenden Auseinandersetzungen, die nun das Verhältnis zu Lenin, zur Komintern und zur UdSSR betrafen, sorgten dafür, dass sich die KAPD bis zum Jahreswechsel 1922/23 drei Mal spaltete und somit wieder am Ende war. Frustriert und ermüdet suchten die Anhänger der KAPD entweder nach einer politischen Alternative oder sie zogen sich ins Privatleben zurück.
Am Niedergang der Kommunistischen Arbeiterpartei waren aber nicht nur die Diskussionen um Lenin und die sowjetische Entwicklung schuld. Im Rückblick auf die Ausgangslage, also die Spaltung von KPD in KPD und KAPD, resümierte Franz Jung in seinen Memoiren: »Es entstand aus den oppositionellen Bezirksgruppen die Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD). Der Rest, die KPD, bestand zunächst lediglich aus dem Apparat, dem Rahmen von angestellten Funktionären und sonstigen Verrechnungsbeamten, die von Moskau bezahlt wurden. Das Groteske dabei: Dieser Apparat war imstande, eine Reihe von Tageszeitungen und sonstige Publikationen zu finanzieren, die vermutlich zeitweilig über weniger zahlende Leser verfügten als Angestellte im Apparat vorhanden waren. Demgegenüber hatte die KAPD aus der Scheu, Mitgliederbeiträge unter Zwang einzutreiben, Mühe, ein einziges Publikationsorgan in Tageszeitungsformat aufrechtzuerhalten, das zudem nur zweimal wöchent­lich erschien und oft nicht in die Provinz verschickt werden konnte.«
Tatsächlich war die Geschichte der KPD auch deshalb eine Erfolgsgeschichte, weil sie vielen neue Möglichkeiten bot. Ende 1923 verfügte sie bereits über 267 000 Mitglieder und – was noch wichtiger war – über 33 Zeitungen und den publizistischen Apparat, den Willi Münzenberg gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Babette Gross aus dem Boden gestampft hatte. Aus einem großangelegten Solidaritätskomitee, das Münzenberg 1921 für die notleidende sowjetische Bevölkerung gegründet hatte, wurde 1924 der Grundstock seines so genannten Pressekonzerns. Münzenberg übernahm den »Neuen Deutschen Verlag«, 1925 begann er mit der Herausgabe der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung, die über Filialen in allen deutschsprachigen Gebieten, auch in der Tschechoslowakei, in Österreich und in der Schweiz vertrieben wurde. Es folgten Die Welt am Abend, die Tageszeitung Berlin am Morgen und die satirische Zeitung Eulenspiegel, die noch heute existiert. Es waren junge Intellektuelle, die von dieser Zeitungsvielfalt profitierten. Sie schwirrten aus im Rahmen der so genannten Arbeiterkorrespondentenbewegung, um Beiträge zu liefern. Sie waren aktiv in den so genannten Arbeiterfotografenbünden, um eine Kultur von unten zu entwickeln. Wer schreiben oder fotografieren wollte, wurde gedruckt – und das ist historisch einmalig. Da man sogar Honorar erhielt, konnten sich ansonsten Arbeitslose über Wasser halten.
Historisch einmalig – das gilt insbesondere für junge Frauen, die in und mit der KPD eine künstlerische Karriere machen konnten, die ihnen anderswo verwehrt blieb. Sie schlugen sich als Sprachlehrerinnen oder Sekretärinnen durchs Leben und entwickelten Fähigkeiten, die noch heute als spezifisch weiblich gelten: Fremdsprachenkenntnisse, Stenografie, Redaktion. Die Honorare der KPD- oder der Münzenbergpresse halfen ihnen dabei, über die Runden zu kommen. So gelangte auch Marianne Gundermann zur KPD und gab ab 1931 die Münzenberg-Zeitung Die Welt der Frau heraus, die eine Auflage von 100 000 Exemplaren hatte.
Marianne Gundermann war einst Mitglied er KAPD gewesen, einer Partei, die sich – im Gegensatz zur KPD – immer durch einen eklatanten Männerüberschuss ausgezeichnet hatte. Nur wenige Frauennamen finden sich in den Reihen des Rätekommunismus, wenn man von Franz Jungs Ehefrau Cläre einmal absieht. Und von Henriette Roland Holst van der Schalck.
So lobenswert es ist, dass die Schriften der rätekommunistischen Denker wie Herman Gorter, Anton Pannekoek, Karl Schröder oder Franz Jung nach und nach das Licht der deutschen Öffentlichkeit erblicken und diskutiert werden, so be­fremdlich ist es doch, dass die Texte der wichtigsten Theoretikerin des Rätekommunismus nach wie vor nicht auf Deutsch vorliegen.
Denn der niederländische Rätekommunismus, der die deutsche Arbeiterbewegung maßgeblich beeinflusst hat, hatte an der Spitze kein Zwei-, sondern ein Dreigestirn. Die wichtigen Namen lauten Hermann Gorter, Anton Pannekoek und eben: Henriette Roland Holst. Aber über letztgenannte findet sich nicht einmal ein Wikipedia-Eintrag auf Deutsch.
In den Niederlanden ist das anders. Dort ist sie eine berühmte Frau und eine der wichtigsten Dichterinnen des Landes. Im Laufe ihres langen Lebens, sie lebte von 1869 bis 1952, hat sie sich einen Namen gemacht als Philosophin (sie war Spinoza-Expertin), als Lyrikerin und, bevor sie in ihrem späteren Leben über einen religiös inspirierten Sozialismus nachdachte, als rätekommunistische Denkerin. Sie war die Diskussionspartnerin und -gegnerin von Pannekoek. Trotz der Bedeutung, die Henriette Roland Holst in den Niederlanden hat, liegen in deutschen Antiquariaten und in deutscher Sprache nur ihre Schrift »Generalstreik und Sozialdemokratie« aus dem Jahr 1906 und eine Luxemburg- sowie eine Rousseau-Biographie vor. Eine der in den Niederlanden existierenden Roland-Holst-Biografien ins Deutsche zu übertragen, auch das hat noch niemand für nötig erachtet.