Das Gesundheitssystem steigert die Nachfrage nach Sterbehilfe

Sterben, bevor es weh tut

Die Diskussion um die Sterbehilfe wird nach Roger Kuschs Beihilfe zum Suizid wieder geführt. Doch nur juristisch lässt sich das Problem nicht lösen. Der Zustand des Gesundheitssystems schafft die Nachfrage nach der Sterbehilfe.

Eigentlich möchte man Roger Kusch möglichst schnell vergessen. Und doch taucht der ehemalige Hamburger Justizsenator immer wieder in den Medien auf. Seit einem Jahr widmet er sich mit Hingabe der Legalisierung der Sterbehilfe in Deutsch­land. Vor einigen Monaten stellte er ei­nen »Selbstmordautomaten« vor, mit dem sich auch schwerkranke Suizidwillige umbringen können.
Vor etwa zwei Wochen nun hat er einer 79jährigen aus dem bayerischen Würzburg Beihilfe zum Suizid geleistet. Das Gespräch, das er kurz vor dem Selbstmord mit der Frau geführt hat, nahm Kusch auf Video auf und präsentierte es in der vergangenen Woche stolz auf einer Pressekonferenz. Zu sehen ist jedoch keinesfalls eine sterbenskranke Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht als den Tod – im Gegenteil. Die 79jährige Bettina S. wirkt in weiten Teilen des Videos fröhlich und durchaus lebenslustig. Sie habe lediglich Angst, nicht mehr allein in ihrer Wohnung leben zu können und in ein Pflegeheim zu kommen, sagt die rüstige Rentnerin in der Aufzeichnung.

»Auch mir erschien der von ihr gewählte Zeitpunkt des Selbstmords nicht zwingend«, sagte Kusch dem Spiegel. Trotzdem leistete er Beihilfe zum Suizid. Empörung regte sich in allen Parteien. »Ich bin absolut gegen jede Form der aktiven Sterbehilfe, in welchem Gewand sie auch immer daherkommt«, sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) dem Sender N24.
Besorgniserregend ist an diesem Selbstmord vor allem die Tatsache, dass sich ein Mensch aus Angst vor dem, was kommen könnte, das Leben genommen hat. Zynisch ausgedrückt: Bettina S. hat von sich aus einen Beitrag zur Kostensenkung im Gesundheitsbereich geleistet. Der Fall zeigt, wie es um das Gesundheitssystem in Deutschland steht. Denn trotz wiederkehrender Debatten um die Sterbehilfe ändert sich an den Lebensbedingungen älterer, kranker und schwerstkranker Menschen nur wenig.
Seit Jahren verlangt die Deutsche Hospizstiftung mehr palliative Betreuung von schwerkranken Menschen. Getan hat sich wenig. Noch immer werden lediglich etwa zwei Prozent der Patienten, die an einer unheilbaren Krankheit leiden, umfassend und professionell bis zu ihrem Tod begleitet. Eugen Brysch, der geschäftsführende Vorstand der Deutschen Hospizstiftung, warnt im Gespräch mit der Jungle World vor einer »Entsolidarisierung der Gesellschaft«. Er hält es für unerlässlich, dass die Politik für eine deutlich verbesserte Pflege und Sterbebegleitung sorgt. »Das Gesundheitssystem ist nur auf Heilung ausgerichtet – es hat keinerlei Angebote der langfristigen Begleitung von Menschen«, bemängelt Brysch. So breite sich mehr und mehr eine berechtigte Angst vor der »Pflegebedürftigkeit« aus.
Vom Zustand des deutschen Gesundheitssystems war jedoch in den Reaktionen der führenden Politiker auf Kuschs Treiben nicht die Rede. Stattdessen ergab sich eine Diskussion darüber, wie man die organisierte, gewerbliche Suizidbegleitung strafrechtlich erfassen könne. Obwohl die Ursache der Todeswünsche, nämlich die Angst vor dem Alleinsein oder vor Schmerzen, aus­geblendet wird, ist diese Diskussion notwendig. Denn wegen der wachsenden Angst schwerkranker oder alter Menschen siedelt sich eine zunehmende Zahl von Vereinen in Deutschland an, die die Menschen mit einem schnellen Tod »erlösen« möchten.

Am bedeutendsten ist der deutsche Ableger »Dignitate« des in der Schweiz ansässigen Vereins »Dignitas«. »Dignitate« hat in Hannover lediglich ein Beratungsbüro – zum Sterben reisen die Men­schen dann in die Schweiz. »Dignitas« nutzt eine Lücke im Schweizer Sterbehilferecht aus, das zwar die gewerbliche Sterbehilfe verbietet, nicht jedoch die geschäftsmäßige, d.h. die organisierte und wiederholte Sterbehilfe ohne Profit­in­teresse. Und so rechnet der Verein seinen Gewinn jährlich auf null herunter und leistet Beihilfe zum Selbstmord.
Seit einigen Monaten greift die Organisation dabei nicht mehr zu dem Medikament Natriumpentobarbital. Dieses führt relativ schnell zum Tod. Stattdessen werden den Sterbewilligen mit Helium gefüllte Tüten über den Kopf gezogen. Die Menschen ersticken qualvoll. Im vergangenen Jahr »begleitete« Dignitas so 141 Menschen in den Tod, etwa die Hälfte von ihnen kam aus Deutsch­land. Roger Kusch will mit seinem Verein »Dr. Roger Kusch Sterbehilfe e.V.« in Deutschland Beihilfe zum Selbstmord leisten. Da dies keine aktive Sterbehilfe darstellt und Kusch im Fall von Bettina S. weder die Medikamente verabreichte noch zum Zeitpunkt der Einnahme zugegen war, dürfte sein Treiben straffrei bleiben. Kusch versucht so, die Grenze zur aktiven Sterbehilfe allmählich zu verwischen.
Eine Bundesratsinitiative zur Einführung des Straftatbestandes der gewerblichen und organisierten Suizid-Assistenz könnte Kusch und »Dignitate« das Geschäft verderben. Einen entsprechenden Gesetzentwurf aus dem Jahre 2006, den sechs von der CDU regierte Länder eingebracht hatten, beriet der Bundesrat am Freitag voriger Woche, er wurde jedoch abgelehnt. Der Entwurf sah vor, die organisierte Beihilfe zum Selbstmord mit bis zu drei Jahren Gefängnis zu ahnden. Der Rat entschied aber, dass noch in diesem Jahr ein Straftatbestand geschaffen werden solle. Die Deutsche Hospizstiftung kritisierte die Vertagung. Sie befürchtet einer Presseerklärung zufolge, dass diese »selbst ernannten Sterbehelfern in die Hände« spiele.

Doch vorschnell verabschiedete Gesetze könnten die Falschen treffen. Fälle für die Ermittler wären dem im Bundesrat verhandelten Entwurf zufolge im schlimmsten Fall auch Einrichtungen der Palliativmedizin geworden. Denn auch diese leisten mitunter »organisierte« Beihilfe zum Suizid, wenn sie irgendwann lebenserhaltende Maschinen abstellen lassen. Das Gesetz müsste demnach sehr genau bestimmen, was strafrechtlich unter gewerblicher und organisierter Suizid-Assistenz zu verstehen wäre. Kuschs Verein bietet die Hilfe ganz »uneigennützig« an, d.h. bislang kostenlos. Anders sieht dies bei »Dignitas« aus – die Organisation verlangt sowohl eine Aufnahme- als auch eine Jahresgebühr.
Das Problem ist ohnehin nicht allein juristisch lösbar. Denn das Angebot von Kuschs Verein gibt es, weil eine Nachfrage besteht. Erst wenn es umfassende Betreuungsangebote für Suizidwillige und Schwerkranke in Deutschland gibt, entzieht man »Suizidvereinen« die Nachfrage. Und erst dann würde Roger Kusch überflüssig werden.