Parteiordnungsverfahren in der SPD

Kleine Kämpfe unter Genossen

Ordnung muss sein, finden die Berliner Sozialdemokraten. Ein Wahlaufruf von SPD-Mitgliedern für den Grünen Hans-Christian Ströbele zieht deshalb ein Parteiordnungsverfahren nach sich.

Er ist 34 Jahre alt. Er ist seit 30 Jahren Kreuzberger. Er ist Mitglied der SPD. Er ist sogar im Vorstand des Berliner Landesverbandes. Und er ist Stress gewöhnt. Zur Zeit aber gönnt er sich etwas Ruhe: Seine Kneipe am Oranienplatz hat er verkauft und die Wochenenden verbringt er nicht mehr als Torwart einer Kreuzberger Fußballmannschaft. Im September scheiterte seine Kandidatur für den Deutschen Bundestag. Manchmal ärgert sich Andreas Matthae, der Direktkandidat der SPD im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg: »Es gibt Momente, wo ich sage: Das könnte ich besser.«

Besser als seine Parteikollegen, meint er, und vor allem natürlich besser als Hans-Christian Ströbele. Der Grüne gewann den Kampf um den Wahlkreis mit einem Vorsprung von 3 804 Stimmen. Dabei hat der 63 Jahre alte Ströbele überhaupt keinen Bezug zu Kreuzberg, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg. Und das gibt er auch ganz offen zu. Vor 41 Jahren nach Berlin gezogen, »ist Kreuzberg neben Reinickendorf der einzige Westbezirk, in dem ich nie gewohnt habe«, sagt Ströbele. Es war eine Verlegenheitslösung. Weil ihm auf der Landesliste der Grünen ein sicherer Platz verweigert wurde, blieb ihm nur noch die Direktkandidatur für den Bundestag - die erste erfolgreiche in der Geschichte der Grünen. Er verhinderte nicht nur den Einzug Matthaes in den Bundestag, sondern auch den von Michael Cramer. Dessen Platz vier auf der Landesliste der Grünen galt als sicheres Ticket ins Parlament. Aber nur unter der Voraussetzung, dass Ströbele kein Direktmandat erhalten hätte.

Sein Konkurrent Matthae jedenfalls nimmt die Niederlage mit Gelassenheit: »Hans-Christian wird sich noch wundern, wie schwierig Wahlkreisarbeit ist.« Das persönliche Verhältnis zwischen Matthae und Ströbele ist gut, man kennt und achtet sich, wie es beide betonen. Das war im Wahlkampf so. Und das ist jetzt nicht anders.

Ebenso wenig grollt Matthae einigen SPD-Mitgliedern aus Berlin und Brandenburg, die öffentlich seinen Gegenkandidaten unterstützten. Fünf Sozialdemokraten - unter ihnen der Parteienforscher Richard Stoess - riefen in einer Zeitungsannonce dazu auf, im Wahlkreis Kreuzberg-Friedrichhain-Prenzlauer Berg mit der Erststimme für Ströbele zu votieren. Schließlich stehe Matthae auf Platz fünf der SPD-Landesliste. Ein wahlarithmetisch völlig unsinniges Argument.

Weil die SPD neun Direktmandate in Berlin gewann, zog nämlich kein einziger Sozialdemokrat aus der Hauptstadt über die Landesliste in den Bundestag ein. Hätte Matthae in seinem Wahlkreis gewonnen, dann gäbe es ein weiteres Überhangmandat für die SPD und die rot-grüne Koalition hätte eine Stimme mehr. Deswegen nimmt der sozialdemokratische Vorstand den Fans Ströbeles ihren Aufruf besonders übel.

Schon vor dem Sieg Ströbeles, als Matthae sich noch seines Mandats sicher wähnte, hatte der SPD-Landesvorsitzende Peter Strieder ein Parteiordnungsverfahren gegen die Unterzeichner des Aufrufs »Sozialdemokraten für Hans-Christian Ströbele« angekündigt. Wohl wissend, dass es nicht nur um den Sieg in einem einzigen Wahlkreis ging. Das öffentliche Votum war vor allem eine Rebellion gegen Strieder.

Denn Strieder wohnt nicht nur in Kreuzberg, im Kreisverband Kreuzberg-Friedrichshain hat er nach wie vor großen Einfluss. Seit Mitte der achtziger Jahre ist er in Kreuzberg als Sozialdemokrat aktiv. Hier war der heute 50 Jahre alte Strieder Kreisvorsitzender und Bezirksbürgermeister. Und hier hat er auch seinen politischen Ziehsohn gefunden: Andreas Matthae. In der Partei wird das nicht gern gesehen. »Strieder ist alles andere als beliebt, warum sollte es ein Strieder-Zögling sein?«

Die Niederlage seines Stellvertreters ist für Strieder also nicht wegen des entgangenen Überhangmandats ein Affront. Für den gelernten Juristen stand fest, der Aufruf verstößt gegen die Satzung der Partei. Nach dem Statut dürfen Mitglieder der SPD keine andere Partei unterstützen. Das sehen die Betroffenen nicht ganz so, sie hätten de facto ja nur zum Stimmensplitting für Rot-Grün aufgerufen. Stoess gesteht zwar ein, dass die Behauptung, Matthae sei durch die Landesliste abgesichert, ein Fehler war. Von der Aktion distanzieren wollte sich aber keiner der Beschuldigten.

Mitte November beschlossen die Sozialdemokraten die Konsequenzen für die Pro-Ströbele-Fraktion. Die Mitgliedsrechte von Stoess und dem Erzieher Waldemar Klemm sind für drei Jahre eingeschränkt. Die Mitunterzeichner Irmgard Schlosser und Adolf Straub, dem 1972 schon einmal der Ausschluss drohte, weil er Geld für die Volksrepublik Vietnam gesammelt hatte, werden ausgeschlossen. Stoess, Schlosser und Straub ziehen nun gegen diese Entscheidung vor das Bundesschiedsgericht.

Der fünfte Ströbele-Unterstützer blieb bisher verschont. Denn Klaus Eschen ist SPD-Mitglied in Brandenburg. Er war der einzige Unterzeichner, der Ströbele zum Zeitpunkt der Zeitungsannonce persönlich kannte. Gemeinsam gehörten die beiden dem 1969 gegründeten Sozialistischen Anwaltskollektiv an. Bisher haben die Sozialdemokraten in Brandenburg noch keine Maßnahmen gegen Eschen geplant. Widerstand hätten sie allerdings nicht zu erwarten. Eschen kündigte bereits an, er würde bei der Einleitung eines Ausschlussverfahren sofort die Partei verlassen.

Der verhinderte Bundestagsabgeordnete Matthae will mit den Maßnahmen gegen die Unterstützer Ströbeles nichts zu tun haben. An den Entscheidungen des Landesvorstands habe er sich nicht beteiligt. Und seine persönliche Meinung? »Ich halte mich da raus, weil ich als Betroffener nichts davon halte.«

Ganz anders Ströbele. In einem Schreiben an Strieder beschwerte er sich bereits über das Verfahren gegen seine Unterstützer. Die Zeitungsanzeige, zeigt sich der Grüne überzeugt, »war doch ohnehin gar nicht ausschlaggebend für den Wahlausgang.« Ein Ordnungsverfahren passt für Ströbele außerdem nicht zu einer modernen Partei: »Das ist doch ausgeflipptes und autoritäres Gehabe.«

Ströbele dürfte das übrigens aus seiner eigenen Geschichte kennen. Nach fünfjähriger Mitgliedschaft wurde er 1975 von der Berliner SPD ausgeschlossen. Damals bemühte auch er das Bundesschiedsgericht, erfolglos. Der Gegenstand des Ausschlussverfahrens war übrigens kein Wahlaufruf. Es war die Anrede in einem Brief, die seine Parteikollegen erzürnte.

Der Rechtsanwalt Ströbele, dessen Karriere am 2. Juni 1967 als Referendar im Anwaltsbüro des heutigen NPD-Funktionärs Horst Mahler begann, hatte ihn an seine Mandanten geschickt. Die beanstandeten ersten Worte waren: »Liebe Genossinnen und Genossen«. Die Namen der Empfänger lauteten Gudrun Ensslin und Andreas Baader.