Soziale Partner schlagen zu

Eine Studie des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung behauptet, die wachsende Intoleranz der Deutschen sei eine Folge der wirtschaftlichen Krise.

Sind die Deutschen Menschenfeinde? Am 7. November präsentierte das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage. Was das Institut unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer erforschen will, ist etwas, das »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« genannt wird. Dabei geht es um Einstellungen, die, so heißt es in der Pressemitteilung, »Fremde, Juden, Obdachlose, Behinderte, Homosexuelle, Muslime und auch Frauen (...) mit einer Ideologie der Ungleichwertigkeit« belegten.

Das Ergebnis der Befragung ist deprimierend, die Deutschen scheinen nicht gut über bestimmte Mitmenschen zu denken: »So verdichtet sich der wenig thematisierte Trend, dass Frauen deutlich fremdenfeindlicher eingestellt sind als Männer.« Weiter heißt es: »In unserem Ansatz richten sich die Aversionen von Männern dagegen deutlicher gegen Personen, die von der 'Norm' abweichen, wie Obdachlose und Homosexuelle. Auch Angehörigen anderer Religionen wie Juden und Muslimen wird wesentlich ablehnender begegnet.«

»Im Vergleich sind Ostdeutsche rassistischer und häufiger gegen 'Normabweichende' ausgerichtet; die antisemitischen Einstellungen haben sich gegenüber Westdeutschen inzwischen angeglichen«, haben die Bielefelder Wissenschaftler außerdem herausgefunden. »Auffallend hoch sind die Forderungen nach härterem Vorgehen gegenüber Verbrechern und Außenseitern bzw. Unruhestiftern.«

Kaum überraschender als die ersten Ergebnisse gestaltet sich die Ursachenforschung Heitmeyers und seiner Kollegen. Es ist die Rede von einem »ambivalenten und rabiaten sozialen Wandel«, der mit »Anerkennungsbedrohungen« und »negativen Anerkennungsbilanzen« einhergehe. »Die Abwertung, Ausgrenzung und Diskriminierung gegenüber den genannten Gruppen sorgen für die eigene Aufwertung, d.h. Verbesserung der Anerkennungsbilanz und damit zur - meist nur scheinbaren - Integrationsfestigung.«

In einer einzigen Pressemitteilung bringen die Soziologen alle Topoi ihrer positivistischen Wissenschaft unter: das verdinglichte Vokabular (»Annerkennungsbilanz«), den Hinweis auf das scheinbar unerklärliche und unveränderbare Außen (der »soziale Wandel«), das Quidproquo, das aus den Tätern letztlich Opfer macht, die aus lauter Angst um ihre Anerkennungsbilanz eigentlich gar nicht mehr anders können, als zu pöbeln und zu hetzen. Auf das Offensichtliche kommen die Forscher jedoch nicht, dass es nämlich für Deutschland keine verlässlichen, anwendbaren Muster und keine soziologisch herleitbaren Ursachen gibt, die diese autoritären Einstellungen erklären können.

Natürlich hört es sich stimmig an zu behaupten, die Rezession befördere die Intoleranz. Aber wieso kam es dann vor zwei Jahren zu einer Explosion rassistischer Gewalt, als die Wirtschaft prosperierte? Und warum ereigneten sich in den Jahren 1991 bis 1993 die schlimmsten Pogrome, zu einer Zeit also, als der jetzt konstatierte »rabiate« soziale Wandel sich noch gar nicht entfaltet hatte?

Warum tat der Mob nicht ein einziges Mal das nahe Liegende und brandschatzte die Villenviertel? Statussymbole, die gut für die »Anerkennungsbilanz« sind, hätte man dort in Fülle finden können. In Flüchtlingsheimen gibt es nichts zu holen, außer dem nackten Leben. Und dass der Kapitalismus eine äußerst dynamische Form der Vergesellschaftung und grundsätzlich immer auf dem Weg in die nächste Krise ist, sollte inzwischen bekannt sein.

Vielleicht muss man, um das alles halbwegs zu verstehen, zurückblicken. Im Oktober 1965 schrieb Frank Böckelmann für seine Gruppe Subversive Aktion den prophetischen Aufsatz: »Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit«. Seine zentrale These lautete, dass »bestimmte Herrschaftsverhältnisse und Kontrollstrukturen trotz der Zersetzung ihrer historischen Ursachen und Existenzbedingungen fortdauern«.

Die Gesellschaft verzichte immer mehr auf das Mittel der Triebunterdrückung, ohne dass daraus eine Befreiung der Sexualität und der Arbeit folge. Im Gegenteil, die »Verselbständigung« autoritärer Muster in einer postautoritären Gesellschaft besänftige in den Individuen jegliches Konfliktpotenzial und schaffe konsumistische, narzisstische Sozialisationstypen. Die Entfremdung sei im Stadium ihrer Liberalisierung total.

Keine Frage, das Traktat ist immer noch aktuell und lässt Michel Houellebecq sehr alt aussehen. Und dennoch unterschlägt es mindestens die Hälfte: die politische Ökonomie und ihre spezifische Ausformung in Deutschland. Nähme man Böckelmann ernst, so dürfte es in einem so wohlhabenden Land wie Deutschland keine Pogrome, keine permanenten und systematischen Diskriminierungen im Alltag und keine Identifizierung der Diskriminierenden mit der Nation geben, entsprechen doch diese Muster dem »klassischen« autoritären Charakter.

Böckelmann versäumte, in seiner Studie darauf einzugehen, dass die wirtschaftliche Seite der postautoritären Gesellschaft die Sozialpartnerschaft ist, und zwar die Sozialpartnerschaft als notgedrungen entnazifizierte Form der Volksgemeinschaft. Die Sozialpartnerschaft muss zwar die Existenz unterschiedlicher, antagonistischer Klassen anerkennen, überwindet sie aber ideologisch, indem sie jede gewerkschaftliche Äußerung nicht als Ausdruck des Antagonismus anerkennt, sondern als Cliquenwirtschaft und Sozialneid denunziert. Die Klassengesellschaft ist zwar nicht aufgehoben, gilt aber als überwunden.

Der Sozialpakt leistet zweierlei: die Schaffung eines abstrakten gesamtgesellschaftlichen Modells (»Modell Deutschland«, »Neue Mitte«) bei gleichzeitiger Zerstörung des sozialen Zusammenhalts (»Ich-AG«). Wer sich noch auf »die Klasse« beruft, muss ein Neidhammel sein.

Der Kapitalismus bleibt aber krisenanfällig und verursacht weiterhin soziale Katastrophen, in denen die Ambivalenz der Sozialpartnerschaft reproduziert wird. Einerseits fehlt den Lohnabhängigen der Bezug zur Klasse, zu einem emphatisch begriffenen sozialen Zusammenhang; andererseits bleibt ihnen nur das eben erwähnte gesamtgesellschaftliche Modell als sicherer Bezugsrahmen, also die Nation, die wahnhafte Identifizierung und der Hass auf die Menschen, in deren mieser, entwürdigender Behandlung, wofür Abschiebeknäste, Arbeitsverbote, Lebensmittelbezugskarten und ständige Drogenrazzien stehen, man sein eigenes Schicksal in der Klassengesellschaft vorweggenommen sieht.

Fasst man den Begriff der Sozialpartnerschaft also materialistisch auf, hätte man vielleicht ein Instrument, mit dem sich erklären ließe, warum rassistische Gewalt und quartalsbezogene Wirtschaftsdaten nicht unmittelbar zusammenhängen. Die Sozialpartnerschaft bannt die Krise nicht, sondern wandelt sie in eine permanente individuelle Bedrohung um. Der Nationalismus und die Sozialpartnerschaft sind untrennbar miteinander verbunden. Der Hass auf die Schwachen ist nur die Kehrseite der narzisstischen Ich-AG.

Das mag man dann wie die Bielefelder Soziologen »Anerkennungsbedrohung« nennen. Eher trifft aber zu, was Wolfgang Pohrt bereits vor zehn Jahren beobachtete, nämlich »dass in Deutschland immer eines stark unterentwickelt war, nämlich der libidinöse Zusammenhalt des Kollektivs, also was im Alltag als Freundlichkeit oder Höflichkeit erscheint, eine Haltung, welche dem anderen doch wenigstens so viel Vertrauen entgegenbringt, dass er nicht gleich als Feind betrachtet wird«.