Ein Jahr nach dem 11. September

Wie der Blues nach Deutschland kam

Amerikanische Verhältnisse verdienen eine bessere Kritik als das Ressentiment der Antiamerikaner.

Bis 1989 war es für nahezu alle Fraktionen der deutschen Linken normal, »gegen Amerika« zu sein. Diese Gegnerschaft hatte ihre prekäre Herkunft in einer unguten nationalistisch-internationalistischen Empfindungsvermischung, die sich aus einer Empörung über den »Völkermord in Vietnam« sowie dem Gefühl, als Deutsche ganz besondere Opfer eines amerikanischen (Kultur)Imperialismus zu sein, speiste. Im Laufe der Jahre nutzte sich zwar die Dringlichkeit dieses Antiamerikanismus ab, sodass er zusehends inkohärenter wie latenter wurde. Zur Zeit der Friedensbewegung in den achtziger Jahren wurde er zwar immer wieder angefacht, aber gleichzeitig galt er auch als so selbstverständlich, dass man ihn nach und nach vergaß.

Gleichzeitig allerdings liebte man die Kultur der »unterdrückten Amerikaner«, insbesondere der Afroamerikaner. Diese Haltung verursachte keine kognitiven Dissonanzen, im Gegenteil. Je größer der selbstverständliche Abscheu über die Supermacht, desto inniger die Liebe zu den von ihr primär Unterdrückten. Ekelhaft war zuweilen, wie man aus der Selbsteinschätzung, ein Opfer des US-Kulturimperialismus zu sein, die Identifizierung mit der Kultur anderer Opfer der USA ableitete - etwa der des tatsächlichen Rassismus. Viel Blues kam so nach Deutschland.

In den neunziger Jahren wurde diese Selbstverständlichkeit erschüttert. Zunächst geschah das durch das Aufkommen einer Position, die heute unter dem Label »antideutsch« firmiert. Diese sah zum einen in einer immer schon etwas abenteuerlichen Globaldiagnose in den USA das kleinere und zivilisiertere Übel im Vergleich zu ihren neuen Gegnern in der Zeit nach dem Kalten Krieg: antisemitische arabische Staaten, die Israel bedrohen, und das nicht minder antisemitische, über die EU und andere Wege Hegemonie anstrebende Deutschland.

Zum anderen erkannte man im Hass auf die USA einen nur verkappten Antisemitismus. Die Kritik am amerikanischen Kulturimperialismus entpuppte sich nur zu oft als Variante antisemitischer Figuren wie der Rede vom jüdisch kontrollierten Hollywood. Antisemitismus wurde so, mit mal mehr, mal weniger Plausibilität, während der neunziger Jahre als wiederkehrende, versteckte Diskursfigur nun auch der deutschen Linken in vielen linken Trivialmythen und Legitimationsfiguren bis in die 68er-Geschichte herauspräpariert.

Dieser antideutsche Antiantiamerikanismus hat also zwei Seiten, eine ideologiekritische und eine politisch-diagnostische. Vor dem 11. September dominierte die ideologiekritische Variante, danach haben sich beide Seiten stärker vermischt, die Übergänge wurden fließender. Und oft schien es, als sei die Fortsetzung der Ideologiekritik auf die Richtigkeit der weltpolitischen Diagnosen angewiesen. Was unlogisch ist.

Es gab aber noch einen anderen, sich mit den antideutschen Positionen nur punktuell berührenden linken Antiantiamerikanismus, der auch in den neunziger Jahren entstand. Er hatte eher zu tun mit einem »reformistischen« Interesse an den sozialen Bewegungen in den USA und deren Kampfformen. Minderheitenpolitik, so genannte Identitätspolitik, die Revivals von Bürgerrechtsbewegungen, sowie Culture Wars und eine Politisierung von Konsum, Popkultur etc. - all das schien eine Alternative zu den hiesigen linken Diskussionen zu bieten, die sich von jeder Realpolitik verabschiedet hatten.

Auch das Interesse an diesen Bewegungen verursachte in den neunziger Jahren ein Abrücken vom Antiamerikanismus der klassischen deutschen Linken und traf sich dabei zuweilen auch mit der Argumentation, die später antideutsch heißen sollte. Vielleicht lebten auch die inneren Koalitionen dieser Zeitschrift von dieser großen Gemeinsamkeit der Anti-deutschen und der so genannten Kulturlinken: der Gegnerschaft zum Antiamerikanismus.

Dieses zweite, »kulturlinke« Abrücken vom Antiamerikanismus lässt sich nicht allein mit den tollen Bewegungen begründen, die es in den USA gibt. Denn die gab es, wenn überhaupt, früher ja auch schon. Damals waren sie ein hinreichender Grund, um das US-System abzulehnen und gleichzeitig in Sympathie für Grassroots-Anarchisten oder schwule Bürgermeister in Kalifornien genauso antiamerikanisch bleiben zu können wie eh und je.

Der Unterschied lag jedoch darin, dass in den US-Diskussionen der Neunziger nicht mehr die Systemfrage auf der Tagesordnung stehen sollte, sondern sich eine Chance zu bieten schien, die vorgefundene Demokratie als zu radikalisierendes, aber realpolitisches Territorium zu entdecken. Die parlamentarische Demokratie und ihre Institutionen wurden als ein von den Interessen der Mächtigen miss-brauchtes, aber eben unumgängliches politisches Paradigma verstanden.

Radikaldemokratischen Thesen wie von Laclau/Mouffe oder Derridas Werbung für eine künftige »democratie à venir« unterstützten diese Position, die aber auch eine neue Bewertung der amerikanischen Demokratie verlangte. Sie habe nach dem Ende des Kalten Krieges als das fortschrittlichste System zu gelten, das seine kapitalistisch verursachten Fehler nur aus seiner institutionell-demokratischen Struktur heraus überwinden könne. Auch wenn kein »Antideutscher« diese Analyse je unterzeichnet hätte, »Kulturlinke« trafen sich mit »Antideutschen« darin, dass beide den amerikanischen Verhältnissen einen Zivilisationsvorsprung konzedierten.

Diese beiden großen Paradigmenwechsel einer »reformistischen« wie einer »radikalen« Linken gegen den Antiamerikanismus blieben aber im Wesentlichen auf die akademische und Insider-Linke beschränkt. Der linke Stammtisch der Provinz, aber auch alles, was der PDS nahestand, die meisten Autonomen und natürlich auch der archetypische 68er, der seine meisten linken Überzeugungen längst entsorgt hatte, sie alle hielten an ihrem Antiamerikanismus in alter Sicherheit fest. Amerika repräsentierte dort nach wie vor im globalen Maßstab, was im lokalen »die da oben« sind.

Nach dem 11. September flammte auch dieser Antiamerikanismus noch einmal heftig auf. Er nahm allerdings zwei verschiedene Gestalten an. Einerseits wurde die wahnsinnige Ansicht formuliert, dass die Amerikaner selber schuld an den Anschlägen seien, schließlich würden sie ja sonst immer austeilen. Andererseits kritisierten vor allem Intellektuelle aus der Dritten Welt und einige minoritäre Gruppen in den Metropolen die Gegenmaßnahmen, die innenpolitischen Einschränkungen von Grundrechten in den USA, den Patriotismus und die Menschrechtsverletzungen im globalen Rahmen, von Guantamo bis in die Täler des Hindukusch.

Die linken Antiantiamerikaner, die diese beiden natürlich immer wieder auch miteinander verbunden auftauchenden Reaktionen sofort als identisch betrachteten, machten es sich dabei etwas leicht und trafen sich darin mit einem neu erwachten Antiantiamerikanismus der Mitte. Nicht nur, weil es an der US-Politik nach dem 11. September tatsächlich etwas zu kritisieren gibt, sondern vor allem auch, weil diese zu kritisierende Entwicklung schon lange vor den Anschlägen eingesetzt hatte.

Die Dynamik des Neoliberalismus hatte schon im Laufe der neuziger Jahre und unter Bill Clinton den »kulturlinken« Hoffnungen einen Dämpfer versetzt. Nämlich der Hoffnung, dass eine Radikalisierung des Demokratiemodells und ein Wiederaufleben des Geistes von Bürgerrechtskultur dieser neoliberalen Dynamik und der mit ihr verbundenen Entwertung von politischen Institutionen und Eingriffsmöglichkeiten zugunsten einer umfassenden Ökonomisierung allein etwas entgegensetzen könnten. Der Neoliberalismus fraß weltweit die Institutionen auf, die politisch-demokratisch die Ökonomie hätten kontrollieren sollen. Nun kam unter Bush auch eine aktive außenpolitische und repressive, über das reine neoliberale Laissez-Faire hinausgehende Politik hinzu. Das waren identifizierbar die USA und nicht mehr nur die globale Dynamik des Weltsystems.

Gleichzeitig war aber auch die antideutsche Diagnose vom amerikanischen Zivilisationsvorsprung, wenn überhaupt, nach der Machtübernahme Georg W. Bushs kaum noch zu halten. Wer in den letzen Jahren die USA besucht hat, begegnete schon lange vor dem 11. September einer stetig anwachsenden Radikalisierung von Repression und Segregation, sowie einer zunehmenden Gleichschaltung der Presse und der Massenmedien. Diese inzwischen patriotisch verschärfte Entwicklung abzulehnen und zu bekämpfen, ist nicht deshalb besonders legitim, weil man - am Ende gar als Deutscher - ein fortschrittlicheres Modell repräsentieren würde. Sondern weil sie neuerdings mit der Durchsetzung zusätzlicher US-amerikanischer Herrschaftsansprüche verbunden ist.

Eine Kritik dieser Konstellation ist darüber hinaus auch geboten, um die Kritik an der Ideologie des Antiamerikanismus aufrecht halten zu können. Denn er wird nur als Ideologie in der Nähe zum Antisemitismus kenntlich, wenn man sein Realsubstrat nicht komplett leugnet und auf der Ebene der Diagnose ebenso ideologisch nur abstreitet, sondern die Unterschiede der Erklärungsmodelle aufzeigt: zwischen den kritisch-politischen und dem ideologischen. Amerikanische Verhältnisse verdienen eine bessere Kritik als das Ressentiment der Antiamerikaner. Sie ist aber nicht ersetzbar durch eine noch so gute Ideologiekritik der schwachsinnigeren oder böswilligeren Gegner dieser Verhältnisse.