Die Folgen der Finanzkrise: Kapitalisten wünschen sich mehr Staat

Drei Kugeln Eis reichen

Die Finanzkrise in den USA hat den Wirtschaftsliberalismus entlegitimiert, selbst Kapitalisten fordern nun schärfere staatliche Reglementierung.

Man kann in der Finanzbranche arbeiten und trotzdem bei Verstand bleiben. Leicht ist das nicht unter Analysten, die mit leuchtenden Augen immense Gewinne versprechen. Doch im Juni 2007, als die US-Immobilienkrise noch als unbedeutende Störung eines unaufhaltsam wachsenden Geschäfts galt, sagte Jeffrey Gundlach, chief investment officer der TCW Group, der Hypothekenmarkt sei »ein völliges Desaster, und es kommt noch schlimmer.« In der vergangenen Woche warnte Gundlach seine Kunden: »Dies ist kein Markt für alte Männer.« Die Immobilienpreise würden vielleicht erst 2014 ihren Tiefpunkt erreichen und »die Nöte der europäischen Banken beginnen gerade erst.«
Gundlach erhält keine Gewinnbeteiligung, sondern ein Festgehalt. Das mag es ihm erleichtert haben, sich einen gewissen Realitätssinn zu bewahren. Doch selbst Wirtschaftsliberale gehen mittlerweile davon aus, dass für die Stabilisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft weit mehr erforderlich ist als eine Korrektur bei den Managergehältern. Nur in der deutschen Sozialdemokratie, bei SPD und »Die Linke«, scheint die Botschaft noch nicht angekommen zu sein.
»Es gibt keinen Anlass, an der Stabilität des deutschen Finanzsystems zu zweifeln«, fabuliert Finanzminister Peer Steinbrück. »Niedrige Zinsen, um die privaten Investitionsausgaben zu erhöhen« und die »Förderung des Kleingewerbes durch eine staatliche Bank« fordert schüchtern »Die Linke«. Im Vergleich erscheint George W. Bush wie ein Bolschewist. Anfang September wurden die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac verstaatlicht, in der vergangenen Woche übernahm die US-Regierung im Gegenzug für eine Kreditgarantie in Höhe von 85 Milliarden Dollar knapp 80 Prozent der Anteile an der Versicherung AIG. Sie hat nun die Kontrolle über Vermögenswerte von etwa 6,5 Billionen Dollar erworben. Da staunt Hugo Chávez, und Oskar Lafontaine wundert sich.

Enteignet wird allerdings niemand, abgesehen vielleicht von den US-Bürgern, die für die Verluste aufkommen müssen, wenn die Staatsunternehmen bankrott machen. Sie tragen auch die Kosten für den Aufkauf von Krediten, deren Rück­zahlung unwahrscheinlich ist und die daher mit Abschlägen von einem Staatsfonds übernommen werden. Die US-Regierung will dafür mindestens 700 Milliarden Dollar bereitstellen. Andere Interventionsmöglichkeiten hatte sie kaum noch. Die Reserven der Fed, der US-Zentralbank, sind seit Anfang des Jahres von 800 Milliarden auf etwa 200 Milliarden Dollar geschrumpft,
Es handelt sich jedoch nicht allein um die Sozialisierung von Verlusten. Big government, der nicht nur den Republikanern verhasste regulierende und selbst als Kapitalist agierende Staat, kehrt zurück. Dies sei eine »demütigende Zeit«, klagt der US-Finanzminister Henry Paulson. Er wird nun, um es mit den Worten Adam Smiths zu sagen, »von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat.«
Wird den Kapitalisten zuviel Freiheit gelassen, untergraben sie die Grundlagen ihres Wirtschafts­systems. Sie verhalten sich wie kleine Kinder vor einem Eisstand. Ein Vierjähriger will unbedingt alle Kugeln probieren und von seiner Lieblingssorte gleich fünf Kugeln essen. Wird ihm der Wunsch gewährt, verdirbt er sich den Magen. Kommt er ein paar Tage später noch einmal am Eis­stand vorbei, erinnert er sich zwar der Bauchschmerzen, aber da ist das viele Eis, und schon will er wieder alle Kugeln haben. Jemand muss dafür sorgen, dass er nur drei Kugeln bekommt. Das Kind mault, insgeheim aber ist es sogar dankbar, denn es ahnt, dass es sich selbst nicht vor den Bauchschmerzen bewahren könnte.
Vor allem zwei Faktoren haben zur derzeitgen Krise geführt. Weil es seit Mitte der achtziger Jahre kaum noch offensive Klassenkämpfe gab, konnten die Konzerne sich einen immer größeren Teil der Mehrwerts aneignen, wussten aber nicht, was sie mit dem vielen Geld anfangen sollten. So folgten verschiedene Anlagehypes aufeinander, mittlerweile ist der Finanzmarkt so komplex geworden, dass viele Banker zugeben, selbst nicht mehr durchzublicken.

Begünstigt wurde diese Entwicklung von Regierungen, die in ihrer ideologischen Verblendung glaubten, es sei dem Kapitalismus zuträglich, den Kapitalisten alle Wünsche zu erfüllen. Traditionell fällt die Aufgabe, durch Reformen die Wirtschaft zu stabilisieren, der Sozialdemokratie zu. Lenin nannte sie deshalb die Krankenschwester am Bett des Kapitalismus. Dass Sozialdemokraten des 21. Jahrhunderts den multimorbiden Patienten für kerngesund erklären würden, statt ihm eine bittere Medizin einzuflößen, ahnte er nicht. Doch es gibt bürgerliche Regierungen, die die Kapitalisten vor sich selbst schützen.
»Jene, die uns ihre besseren Methoden gepredigt haben, konnten ihrem eigenen Finanzsektor nicht helfen«, sagte der indische Handelminister Kamal Nath. Bei den Gesprächen über den Freihandel hatten ihn die wirtschaftsliberalen Prediger aus dem Westen immer wieder gedrängt, ihre Methoden zu übernehmen. Indien bestand dennoch auf strengen Regeln für den Finanzmarkt. »Dank der vorsichtigen und konservativen Herangehensweise unserer politischen Planer hat die globale Kreditkrise minimale Auswirkungen auf Indien«, lobt der Milliardär Anil Ambani nun seine Regierung. Das Beispiel Indiens zeigt jedoch auch, dass Regulierung und staatskapitalistische Intervention nicht einhergehen müssen mit einer Politik des sozialen Ausgleichs (siehe Seite 12). Auch in den USA ist eine Wende in der Sozialpolitik nicht zu erwarten.
Bislang ist die Krise vor allem ein Anlass für Kritik an der »Gier« der Kapitalisten. Einem Unternehmer vorzuwerfen, er sei gierig, ist etwa so, als würde man einem Tiger vorwerfen, er habe Streifen. Das Problem ist vielmehr, dass die Lohnabhängigen nicht gierig genug sind und ihr Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt daher ständig sinkt. Nur wenn sich das ändert, kann die Entlegitimierung des Wirtschaftsliberalismus für eine soziale Umverteilung genutzt werden.

Die Kapitalisten würden maulen, wären aber insgeheim sogar ein bisschen dankbar, denn sie ahnen, dass sie als Klasse mit unbeschränkten Freiheiten unfähig sind, die Weltwirtschaft zu stabilisieren. Diesen Kollateralschaden sollte auch die radikale Linke akzeptieren, da ein Zusammenbruch des Welthandels zu rasant wachsender Armut führen, vielerorts rechtsextreme Kräfte stärken und die globale Kriegsgefahr erhöhen würde. Überdies hat der letzte Zyklus sozialer Kämpfe zwischen 1965 und 1985 bewiesen, dass Perioden wachsenden Wohlstands und sinkender Arbeitszeiten weit förderlicher für die gesellschaftliche Emanzipation sind als Zeiten, in denen Lohnabhängige dankbar sind, dass sie für einen Unternehmer arbeiten dürfen.