https://jungle.world/artikel/2008/39/berlin-methfesselstrasse
Reihe über Gentrifizierung in der Hauptstadt. Nicht zwangsläufig führt Gentrifizierung zur Vertreibung der ärmeren Bevölkerung.
Trotzdem kann man mitten in Kreuzberg auf Luxuskarossen treffen, wo früher Industrieruinen standen.
Die Methfesselstraße am Kreuzberger Viktoriapark hat eine bedeutende Leerstelle. »In den kriegszerstörten Häusern Methfesselstr. 10 und 7 entwickelte und baute Konrad Zuse von 1936–1944 die programmgesteuerten Rechenanlagen Z1–Z4. 1941 ging der Rechner Zuse Z3 als erster funktionsfähiger Computer der Welt in Betrieb.« Die Gedenktafel hängt an einer Mauer, hinter der noch kein neues Haus hochgezogen worden ist. Man kann Zuses nicht wieder errichtetes Haus und die Nachfolger seiner Entdeckung als das Scharnier lesen, das das alte und das neue Bild der Straße verbindet. Noch vor ein paar Jahren lag die halbe Straße brach.
Das Stammgebäude der alten Schultheiss-Brauerei zerfiel als Industrieruine ungenutzt vor sich hin. Außer jugendlichen Abenteurern, Obdachlosen, Fledermäusen und Füchsen wollte dort offensichtlich niemand seine Zeit verbringen. Gleich gegenüber vom Schultheiss-Gelände ging es einem V-förmig von der Straße wegführenden Gebäude, errichtet im Stil des für Westberlin typischen sechziger oder siebziger Jahre Bauherrenmodells, nicht viel anders. Ein Zaun schützte das mit eingeschlagenen Fensterscheiben schlafende Haus nordürftig vor wem auch immer. Und in der Mitte, auf dem Gipfel der Straße, war auch die ehemalige Klinik am Kreuzberg, nach dem die letzte Bewohnerin des Hauses, die Besitzerin der Immobilie, gestorben war, auf dem Weg, zur Ruine zu werden. Nur einmal kurz, Anfang der achtziger Jahre, war die ehemalige Abtreibungsklinik zum Gesprächsstoff geworden. Rosa von Praunheim hatte sie damals besetzt und ohne Erfolg gefordert, den Bau zu einer Aidsklinik zu machen. Danach war wieder Ruhe.
Das änderte sich erst, als in den neunziger Jahren auf dem Schultheiss-Gelände mit Bauarbeiten begonnen wurde. Hier sollte, so hieß es, in Anlehnung an die klassische Industriearchitektur, das neue Wohnen im neuen Berlin entworfen werden. Mit Tiefgarage unter den Häusern, Maisonetten, Penthäusern und Parkwohnungen. Den meisten Anwohnern in der Umgebung war das erst mal ziemlich egal. Hier wurde ja niemand verdrängt, und übermäßig reich war hier sowieso keiner. Was man bis heute daran sehen kann, dass viele Restaurants in der näheren Umgebung damit werben, ihre Preise um 50 Prozent gesenkt zu haben. Auch wenn man nicht genau weiß, wann sie das getan haben, beziehungsweise ob es hier überhaupt mal teurer war, hat es auch mit dem Bauvorhaben in der Schultheiss-Brauerei keinen Einzug von Nobelrestaurants oder teuren Läden gegeben. Eher im Gegenteil.
Die traurige Kneipe an der Ecke Methfessel-/Dudenstraße, die gerade wieder geschlossen ist, hat in diesem Jahr schon drei verschiedene Besitzer gehabt, ohne dass man darin je einen Gast gesehen hätte. Die Wertsteigerung der Gegend ist bisweilen ein Gerücht, das einem auf der Bergmannstraße entgegenkommt und behauptet, man habe schon Geld, wenn man oben auf dem Berg wohnt. Wobei es tatsächlich schön ist, in der Methfesselstraße zu wohnen – auch in der Wohnbrauerei, wie das neue Schultheiss-Wohnquartier heißt.
Das V-förmige Gebäude gegenüber wurde vor ein paar Jahren renoviert und innen neu gestaltet. Heute heißt es »Türk Huzur Evi« und ist das erste türkisch geführte Altenheim Berlins. Und die älteren Damen und Herren, die mit ihren Gehhilfen manchmal spazieren gehen, zeugen eher von einer angenehmen Verlangsamung des Tempos auf der Straße als von einer mittemäßigen Beschleunigung.
Ähnliches geschah mit der alten Klinik am Kreuzberg. Eine Hamburger Stiftung kaufte das Haus auf und baute es zu einer Art Jugendzentrum für Kinder und Jugendliche aus, mit therapeutisch betreuten Wohngemeinschaften für essgestörte Mädchen. Private Wohnräume machen in der »Gelben Villa« nur ein Achtel der Wohnfläche aus. Auch in der »Gelben Villa« wie im türkischen Altersheim hatten die neuen Einrichtungen keine Verdrängung alteingesessener Anwohner zur Folge. Nur – und das ist vielleicht der bedeutendere Aspekt der Modernisierungen am Kreuzbergpark – stabilisieren sie das Milieu, das hier schon länger lebt, um Möglichkeiten für jene »bildungsfernen« Schichten zu schaffen, die zumindest die »Gelbe Villa« im Blick hatte, als sie ihren Betrieb aufnahm.
Der weitere Einzugsbereich um die Methfesselstraße mit dem Chamissoplatz als Zentrum ist schon seit Jahrzehnten kein Berliner Problembezirk, sondern eine Mischung aus Lehrern, klassischen Berliner Kleinbürgern, Kleinhändlern und verstreuten Intellektuellen. Hinzu kommt, dass es in diesem Einzugsbereich eine der besten Berliner Grundschulen gibt. Voraussetzungen also, die sich sozusagen ihre Klientel selbst suchen. Und es sind dann auch die Gebildeteren, die ihre Kinder zu von Künstlern geleiteten Bildhauer- oder Fotokursen schicken und nicht die avisierten Problemkinder.
Politisch problematisch wird das vor allem dann, wenn die staatlichen oder städtischen Stellen solche von Stiftungen betriebenen Einrichtungen als Argument benutzen, um mit staatlichen Mitteln geförderten Kinderläden oder Hilfsorganisationen die Gelder zu streichen. Das Argument läuft dann immer in der gleichen Spirale: Die privaten Stiftungen werden vor allem von denen genutzt, die sowieso schon aus dem bildungsbürgerlichen Milieu kommen. Bildung schafft nach dem alten Gesetz Bildung, und die keine haben, müssen zusehen, wo sie bleiben. Insofern handelt es sich in der Methfesselstraße weniger um eine Gentrifizierung des Bezirks als um eine Fortschreibung und Verjüngung des alten Milieus mit neuen Häusern auf altem Grund.
Wirklich neu war allerdings die Frau, die jeden Morgen aus einem Jaguar Sovereign steigt, der, wie eine Passantin mit zwei Hunden bemerkte, mindestens 75 000 Euro koste. Im klassischen Heroin-Chic der endneunziger Jahre gekleidet, ging sie in die Wohnbrauerei. Zur Arbeit in eine jener gut gehenden Telekommunikations- oder Werbe-Webdesignfirmen, die aus München hierher umgesiedelt sein sollen.