Die türkische Publizistin Yelda über den Völkermord an den Armeniern

»Die Verbrechen werden verleugnet«

In dieser Woche jährt sich zum 87. Mal der Völkermord an den Armeniern, dem von 1915 bis 1923 unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Während vielerorts, auch in Berlin, daran erinnert wird, leugnet die Türkei bis heute den Massenmord.

Eine der wenigen türkischen Stimmen, die dieses Tabu anfechten, ist die feministische Publizistin Yelda. Als sich die Drohungen gegen sie häuften, bat sie am Ende des vorigen Jahres um politisches Asyl in Deutschland. Yelda verzichtet auf ihren Nachnamen, weil er ihr als patriarchal gilt.

Wann wird erstmals ein türkischer Staatspräsident an den Gedenkveranstaltungen in Eriwan teilnehmen und die Armenier um Entschuldigung bitten?

Das ist kaum vorstellbar. Bevor ein türkischer Staatspräsident nach Eriwan reist - und das sollte er besser lassen, ich traue türkischen Politikern nicht, nachher fahren sie hin und erklären, Eriwan gehöre zur Türkei - bevor also die Verantwortlichen irgendwohin reisen, sollten sie von Ankara aus um Entschuldigung bitten.

Im Moment ist das ohnehin fernab der Realität. Wir haben es mit einer Republik zu tun, deren Fundament auf einem Völkermord errichtet wurde, mit einem Land, das die eigenen Verbrechen verleugnet und verdrängt. So ist es völlig unmöglich, ohne den Zusatz »so genannt« über den Völkermord zu sprechen. Auch die Linke beteiligt sich an diesem kollektiven Abwehrkampf.

Warum wird der Völkermord noch immer geleugnet? Man könnte doch sagen, die Tätergeneration ist lange tot, die Ereignisse fanden noch im Osmanischen Reich statt. Was hat die türkische Gesellschaft zu verlieren?

Offensichtlich genügt das Ableben der Täter nicht. Und mit einem beiläufigen »Sorry« wäre die Sache nicht erledigt. Den Genozid einzugestehen, bedeutet, nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gegenwart zu thematisieren. Ich bezeichne das Vorgehen gegen die Kurden nicht als Völkermord, aber es wäre kaum denkbar, das sich der Staat wegen des Armeniermordes entschuldigt und zugleich weiter kurdische Dörfer zerstört.

Zudem beschränkten sich die Anfeindungen gegen nicht muslimische Bevölkerungsgruppen nicht auf den Völkermord, der sich übrigens bis in die Gründungsphase der Republik fortsetzte. Beispielsweise kassierte die Türkei zwischen 1942 und 1944 von der nicht muslimischen Bevölkerung eine Kopfsteuer und internierte sie teilweise; im September 1955 gab es Pogrome gegen die griechische Bevölkerung, 1964 wurde diese massenhaft ausgewiesen. Diese Verbrechen liegen gar nicht so lange zurück und sind genauso tabuisiert. Ein Schuldeingeständnis hätte auch materielle Folgen. Ansprüche auf Rückgabe oder Entschädigung für enteignetes Vermögen ließen sich nicht vermeiden.

Was passierte, nachdem Sie damit begannen, sich auf diese Fragen zu konzentrieren?

Ich vereinsamte. Im Lauf meiner politischen und journalistischen Tätigkeit habe ich zwar viele Brüche erlebt, aber allein gefühlt habe ich mich nie. Bis zu dem Moment, als ich damit anfing, mich mit dem Völkermord an Armeniern, der Situation der Nichtmuslime im Land und dem Antisemitismus zu beschäftigen. Ich wurde ausgegrenzt. Und ich merkte, dass man sich mehr vor dem Staat fürchtet, wenn man auf sich gestellt ist.

Erfuhren Sie Repressionen?

Wegen einiger meiner Texte wurden vor dem Staatssicherheitsgericht Verfahren eröffnet. Aber bald merkte man, dass die Verhandlung dieser Fragen in einem Strafprozess eine öffentliche Thematisierung bedeutet. Insgesamt wurden gegen mich nur wenige Strafverfahren eingeleitet, da ich kaum eine Handhabe für eine juristische Ahndung geliefert habe.

Aber auch das ist beängstigend. Manche Oppositionelle haben kaum eine juristische Verfolgung erlebt, bis eines Tages ihr Name auf der Liste der im Polizeigewahrsam Verschwundenen auftauchte oder ihre Leiche in einem Straßengraben gefunden wurde. Auch ich bekam Drohungen.

Sie sagen, dass sich die Linken nicht mit Antisemitismus und Rassismus befassen. Gibt es so etwas in der Türkei nicht?

Das wird immer behauptet. Man verweist gerne auf die multikulturelle Tradition des Osmanischen Reiches und darauf, das es 1492 die spanischen Juden aufnahm. Rassismus, so heißt es, gibt es in der Türkei nicht, und Antisemitismus erst recht nicht. Und in diesem Land stellt sich der Ministerpräsident hin und sagt, Israel verübe einen Völkermord an den Palästinensern.

Das hat Bülent Ecevit zurückgenommen.

Man hat ihn wohl daran erinnert, dass es für die Türkei riskant ist, mit dem Vorwurf des »Völkermordes« zu hantieren.

Sie haben vor einigen Jahren geschrieben, »der Jargon der Linken über die Juden« sei »oft nicht vom Jargon der islamistischen Mujaheddin zu unterscheiden«. Wie ist die aktuelle Lage?

Neulich war auf einer antiisraelischen Demonstration in Istanbul ein Transparent zu sehen mit dem Spruch: »Jetzt verstehen wir Hitler besser.« Es könnte aus ziemlich jedem politischen Lager stammen. Islamisten, Kemalisten, Linke, Unpolitische - gegen Israel stehen alle zusammen. Der Menschenhrechtsverein unternimmt einen Fackelzug unter dem Motto: »Die ganze Welt ist Palästina, wir sind alle Palästinenser.« Die linke ÖDP umarmt »alle Palästinenser als Freunde«, ohne zu fragen, wer da mit welchen Mitteln für welche Ziele kämpft.

Frühere Freunde haben eine Unterschriftenkampagne zur Unterstützung des Prozesses gegen Ariel Sharon in Belgien gestartet. Viele von ihnen haben nach dem Putsch von 1980 zehn Jahre im Gefängnis verbracht. Der ehemalige Junta-Chef Kenan Evren sitzt bis heute unbehelligt in seiner Villa am Mittelmeer. Warum starten diese Leute keine Kampagne, um Evren vor Gericht zu bringen? Stattdessen beschäftigen sie sich mit einem Thema, das sie vom Hörensagen kennen. Woher diese Energie, wenn es um Israel geht? Ohne den internationalen Antisemitismus ist das wohl nicht zu erklären.

Die jüdische Bevölkerung wird unter Druck gesetzt, sich von Israel zu distanzieren. Ganz so, wie man bei anderen internationalen Geschehen Druck auf die armenische oder die griechische Bevölkerung ausübt. Und die nicht muslimische Bevölkerung muss die Treuepflicht erfüllen, denn sie weiß, dass andernfalls ein Pogrom droht.

Dennoch ist es erstaunlich, dass sich das politische Establishment an der antiisraelischen Agitation beteiligt. Immerhin hat die Türkei als einziges islamisches Land ein Kooperationsabkommen mit dem jüdischen Staat abgeschlossen. Hat Israel keine Freunde mehr in Ankara?

Die hatte es nie. Antisemitismus und eine Zusammenarbeit aus militärischen, politischen oder ökonomischen Gründen müssen sich nicht widersprechen. So sagte kürzlich ein Offizier im Fernsehen: »Alles Unglück, das uns widerfahren ist, haben wir den jüdischen Bastarden zu verdanken.« Außer der jüdischen Gemeinde stört sich niemand daran.

Aber gerade die Armee gilt doch als verlässliche Kraft gegen den Islamismus.

Die Militärs waren es, die 1980 nach dem Militärputsch ideologisch wie materiell die Islamisierung der türkischen Gesellschaft einleiteten. Abgesehen davon, ob die Militärs heute den Islamismus tatsächlich bekämpfen, wie lange kann mit Gewalt eine Gesellschaftsordnung aufrechterhalten werden? Wenn wirklich eine islamistische Gefahr droht, dann lassen Sie uns zunächst über die Ursachen reden. Der Hinweis auf eine drohende Islamisierung jedenfalls legitimiert die politische Vormacht der Armee und verhindert eine Demokratisierung.

Ist es für die Frauen nicht besser, wenn sich die Armee gegen Kopftücher wendet?

Es ist allein Sache der Frau, ob sie ihre Haare bedeckt oder ihren Po zeigt. Au-ßerdem: Warum geht es stets um die Kopftücher der Frauen, aber nie um die Barttracht und Kleidung der islamistischen Männer? Der Körper der Frauen ist auch hier der Schauplatz für symbolische Kämpfe innerhalb der patriarchalen Gesellschaft.