Dantes Dissens

Die stammelnde Sirene

Verständigungsschwierigkeiten in der »Göttlichen Komödie«.

Für Klaus Wyborny

Es gibt Bücher, die du nicht verstehst, und solche, die sich nicht verstehen; die größten unter ihnen scheinen das selbst am besten zu wissen. So verirrt sich schon in den ersten Versen jener Commedia, der Boccaccio den Beinamen divina gegeben hat, Dante in einem Wald. Wie später noch oft, erwacht er in einen Alptraum. Verirrt in einem düstren Wald - kein Grund zur Aufregung, heißt es gleichwohl, dieser Wald sei bloß eine Allegorie, eine literarische Reminiszenz.

Dante, der Autor, dachte, so vermutet Hermann Gmelin in seiner Ausgabe der »Göttlichen Komödie« (Stuttgart 1949-1957), an den dunklen Wald vor dem Eingang zur Unterwelt, im sechsten Buch der »Aeneis«, an den »tückischen, gefährlichen, endlosen Wald« im zehnten Kapitel der Bekenntnisse des Augustinus und an den »selva oscura« aus dem Traum des Aegidius Colonna.

Dante, die Figur, weiß von alledem nichts, nimmt den Wald ganz wörtlich und als schlechtes Zeichen: »Nel mezzo del cammin di nostra vita / Mi retrovai per una selva oscura, / Chè la diritta via era smaritta. // Ahi quanto a dir qual era è cosa dura, / Esta selva selvaggia ed aspra e forte, / Che nel pensier rinnova la paura!« (Inf. I, 1-6) Gmelin übersetzt: »Grad in der Mitte unsrer Lebensreise / Befand ich mich in einem dunklen Walde, / Weil ich den rechten Weg verloren hatte. // Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, / Der wilde Wald, der harte und gedrängte, / Der in Gedanken noch die Angst erneuert.« Karl Witte (Berlin 1921) übersetzt: »Es war in unseres Lebensweges Mitte, / Als ich mich fand in einem dunklen Walde; / Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege. / Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald, / Der wildverwachsen war und voller Grauen / Und in Erinnerung schon die Furcht erneut«. Friedrich Freiherr von Falkenhausen (Frankfurt/M. 1974) übersetzt: »Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand / In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen, / Weil mir die Spur vom graden Wege schwand. // Wie hart ists, ach, von diesem Walde sagen, / Wie wild und rauh und dicht sein Dickicht droht: / Dran denken nur macht noch aufs neu mich zagen!«

Es geht der Figur noch übler als dem Leser, der sich immerhin mit Kommentaren behelfen kann; sie weiß selbst dann, als sie ihm längst entronnen ist und unendlich viel dazugelernt hat, nichts von dem Wald; »wie er gewesen, wäre schwer zu sagen«. Und anstatt in Panther, Löwe und Wölfin, die im Wald knurrend auf sie zulaufen, bloße Sinnbilder von Lust, Hochmut und Habgier zu sehen, fürchtet sie, selbst in der Erinnerung an sie, diese wilden Tiere. Sie befindet sich in einem »forêt des symboles« (Baudelaire) und zittert doch vor ihnen. Aber hätte sie, wenn es anders wäre, irgendeinen Grund weiterzugehen? Das Movens der Commedia ist, dass Dante Dante nicht versteht.

Nachdem er sich eine Nacht lang in diesem unbekannten Wald, diesem Wald voll Unbekanntem, geängstigt hat, legt er sich erschöpft zum Schlafen. Doch der Schlaf erfrischt ihn nicht, im Gegenteil. Wie immer in der Commedia bietet sich dem Erwachenden die Welt noch furchterregender dar, als er sie beim Einschlafen verlassen hat: »Erst gab ich meinem müden Leibe Ruhe, / Dann ging ich weiter durch die öde Wüste, / Fest immer mit dem untern Fuße tretend. // Und siehe, beinah beim Beginn des Hanges / Erschien ein Panther (...)« (Inf. I, 28-31; wo kein anderer Übersetzer angegeben ist, zitiere ich Gmelin, S.R.), »Als das Bewußtsein wiederkehrte (...) / Da sah ich neue Qualen und Gequälte / Rings um mich her, wohin ich mich bewegte, / Wie ich mich wenden, wie ich schauen mochte.« (Inf. VI, 1-6)

Schlaf und Ohnmacht überkommen ihn, wenn er überwältigt wird von zuviel Hässlichem, Schönem, Unverständlichem, dann sinkt er nieder »wie ein Mensch im Schlafe« (Inf. III, 136), »wie ein toter Körper« (Inf. V, 142) fällt er »zu Boden« (Purg. XXXI, 89), und das, was ihn überwältigt, entschwindet seinem Sinn. (Par. XIV, 81) Sobald er wieder zu Bewusstsein kommt, ist sein Gedächtnis von allem zu Heftigen purgiert: »So wie der Blitz hervorbricht aus der Wolke«, heißt es im Paradiso, »Weil er vergrößert keinen Raum mehr findet, / Und gegen die Natur sich stürzt nach unten: // So ist mein Geist, der sich so sehr geweitet / Von jenen Gaben, aus sich selbst gefahren, / Und was geschah, kann er sich nicht erinnern.« (Par. XXIII, 40-45) Aber die Erregung kehrt wieder, heftiger noch als zuvor. Es ist nicht überraschend, dass mit dem ersten Schritt auf unbekanntem Boden - vor allem, da er so abrupt, so gewaltsam getan wird - Unruhe herrscht, aber vielleicht doch, dass sie niemals endet, auch im Himmel nicht, wenn dort auch die Erregung nicht allein die der Angst ist.

Die ersten Verse der Commedia sind die eines Erwachenden. Genauer gesagt, zweier Erwachender, Dantes, des Berichtenden, und Dantes, des Irrenden. Ohne zu wissen, woher, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, sind sie in eine Wüste versetzt worden, deren »Bitternis dem Tode« (Inf. I, 7) gleicht. Kein Gefühl der überlegenen Distanz, der Beruhigung, gar der Sicherheit stellt sich ein, wie man es doch erwarten sollte, wenn der Alptraum, wenn die Nacht vorüber und das rettende Ufer erreicht ist. Dante berichtet von dem Zurückliegenden, »wie ein Mensch noch mit gepreßtem Atem, / Der sich vom Meere an den Strand gerettet, / Zurückschaut nach den aufgeregten Wassern.« (22-24) Das Geschehene scheint noch nicht geschehen, es wirkt nach, es ist Ereignis.

Ein stummer Führer

Zum Glück wird dem im Wald Verirrten, der sich selbst nicht folgen kann, Vergil geschickt, ein Interpret, der ihn, auch wörtlich, über manche Unwegsamkeit des Buches hinwegträgt, ihm und mit ihm übersetzt, sowohl in der Sprache als auch im Boot oder auf dem Rücken eines Kentauren, die Kreise der Hölle und die Inschriften des Läuterungsberges deutet und ihn bis zum Rande des Paradieses geleitet. Aber auch er weiß längst nicht alles, Passanten, die nicht immer vertrauenswürdig sind, müssen nach dem Weg gefragt, andere Reiseführer angeworben werden, und die letzte Strecke des Weges bis vor das Angesicht Gottes wird Dante bekanntlich von Beatrice, die die ganze Wanderung plante, geführt.

Je weiter sich Vergil, der gewöhnlich im Limbus der Hölle, bei berühmten Heiden und ungetauften Kindern, haust, sich von diesem ersten, übrigens der Unterwelt seiner eigenen Dichtung nachgebildeten Kreis der Hölle entfernt, umso weniger kennt er sich aus. Es ist weder seines Amtes, andere Dichter zu leiten, noch Vorträge zu halten. Er wird eingeführt als ein »Mann, der stumm erschien vom langen Schweigen«. (Inf. I, 63) Dante respektiert die Wortkargheit seines Weggenossen, und er stellt weniger Fragen, als ihm auf dem Herzen liegen: »Daß nicht mein Reden ihm beschwerlich werde, / ging ich nun schweigend.« (Inf. III, 80f.) »(Ich) dacht' im Innern: 'Möglich, / Daß allzuvieles Fragen ihm zur Last wird.'« (Purg. XVIII, 5f.)

Wann immer er sich um Zurückhaltung bemüht, lobt ihn Vergil, erfüllt manchmal sogar den »Wunsch, den du verschwiegen« (Inf. X, 18), und beantwortet eine der Fragen, die Dante aus Scham nicht gestellt hat. Zu diesen gehört die Frage nach dem Schicksal Vergils selbst. Ist es einem Schatten aus dem Limbus gestattet, in den inneren Kreis der Hölle vorzudringen? Mehr noch, darf er, der größte Dichter aller Zeiten, der jedoch vor Christus lebte, also ohne eigene Schuld Heide war, jemals ins Purgatorio, gar ins Paradiso aufsteigen? Dante weiß, wie prekär die Frage ist, und stellt sie indirekt: »Steigt denn zu diesem Grund des traurigen Tales / Jemals ein Geist des ersten Kreises nieder?« (Inf. IX, 17f.) Die Angelegenheit seines Gefährten beschäftigt ihn noch im Himmel, wo der andeutende ohnehin zum guten Ton gehört: »Ihr wißt auch, welches / Der Zweifel ist, durch den ich lang schon hungre.« (Par. IXX, 32f.)

Die Commedia markiert das Ende des mittelalterlichen Manichäismus, sie kennt eine dreigeteilte Welt, kein Hie und Da, kein Gut und Böse mehr, sondern ein Drittes, das Purgatorio, ein Zwischenreich, und mit ihm auch das Unterwegssein und den Zweifel. Mag alles vorbestimmt sein, die Verdammten, die sich Läuternden, die Seelen und Geister und nicht zuletzt der Wanderer Dante selbst kennen ihre Bestimmung nicht, sie können sich nicht mehr sicher sein, wo sie selbst enden werden und ob sie die nächste Stufe erreichen. Dante als Irrender trifft selbst auf Irrende. Ihnen gegenüber genießt er immerhin den Vorzug, als erster und vermutlich letzter Lebender das Jenseits ante mortem durchqueren zu dürfen. Doch wie soll er diesen Vorzug nützen, wie soll er seine Neugier befriedigen, wenn ihm überall der Mund verboten wird?

Denn Schweigsamkeit, ja Schweigen ist geboten an jenem »Ort, wo jedes Licht verstummte, / Der brüllte wie ein Meer in großem Sturme«. (Inf. V, 28f.) Als sich die beiden den Gemarterten nähern, weist ihn der Ältere an: »Le parole tue sien conte«, »Deine Worte seien deutlich« (Inf. X, 39), »Gezählt sei'n deine Worte« (Witte), »Kein Wort zuviel!« (Falkenhausen) Schweigsamkeit gebietet aber auch das Nahen eines Engels: »Mein Meister ließ noch keinen Ton verlauten, / Als schon die weißen Flügel sichtbar wurden; / Erst als er jenen Fährmann gut erkannte, // Rief er: 'Schnell, schnell! fall nieder auf die Kniee; / Dies ist der Engel Gottes! Falt' die Hände!'« (Purg. II, 25-29)

Pietät mag ein Motiv dieser kommunikativen Kontrolle sein, doch irrt, wer glaubt, die beiden poetae laureati seien gänzlich von diesem edlen Gefühl beherrscht. Als sie in einer Barke den Sumpf der Zornigen überqueren und aus der Kloake der Florentiner Filippo Argenti auftaucht und zudringlich wird, trägt Dante einen alles andere als frommen Wunsch vor: »O Meister, gar zu gerne möcht ich / Ihn untertauchen sehn in dieser Brühe, / Bevor wir diesen See verlassen haben.« Vergil ist weit davon entfernt, das für grausam zu halten: »Noch ehe du das Ufer / Erblicken kannst, wirst du befriedigt werden; / Ein solcher Wunsch darf dir wohl Freude bringen.« Argenti wird von seinen Leidensgenossen misshandelt, »wofür ich Gott noch heute lob' und preise. // Und alle riefen: 'Auf Filippo Argenti!' / Wobei der wirre Geist des Florentiners / Sich selber mit den Zähnen noch zerfleischte. // Dort ließen wir ihn; mehr will ich nicht sagen.« (Inf. VIII, 52-64) Die Abwendung kommt spät.

Den Florentiner in die Brühe tauchen, heißt auch, den Schwatzhaften zum Schweigen bringen. »Jetzt müssen wir im schwarzen Kote büßen«, verdeutlicht Vergil Dante die dumpfen Laute, die aus dem Sumpf der Zornigen dringen, »Dies Lied hört man in ihren Kehlen gurgeln, / Sie können's nicht mit klaren Worten sagen.« (Inf. VII, 124-126) Und noch an einer anderen Stelle freut sich Dante, dass ein böser Geist zum Verstummen gebracht wird. Als der Räuber Vanni Fucci seine Fäuste gegen den Himmel reckt und Gott das Feigenzeichen zeigt (die noch heute wohl bekannte Geste, bei der der Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt wird), folgt, zur Erleichterung Dantes, die Strafe auf dem Fuße: »Lieb sind seitdem die Schlangen mir geworden, / Denn eine wand sich fest um seinen Hals, / Als sagte sie: Du sollst nicht weiter reden.« (Inf. XXV, 4-6; Witte)

Umgekehrt missbilligt es Vergil, wenn Dante Gefallen am Keifen der Verdammten findet. Als der Lügner Sinon dem Falschmünzer Adamo auf den von Wassersucht geblähten Bauch schlägt, geraten die beiden in einen handfesten Streit: »Du sollst an dem Durst dich ärgern, / Von dem die Zunge platzt, am faulen Wasser, / Das dir den Bauch vor deinen Augen anschwellt«, »So reißt du das Maul auf, / Um, wie du stets gewohnt, noch mehr zu lästern.« (Inf. XXX, 121-125) Dante hört belustigt zu und wird dafür von Vergil zurechtgewiesen: »Sieh nur, siehe! / Nun hätte ich beinah Grund, mit dir zu zanken.« (131f.) Dante wendet sich beschämt ab, »ich konnte nicht mehr sprechen, / Mich zu entschuldigen, und habe dadurch / Mich, ohne daß ichs wußte, doch entschuldigt.« (139-141) Indem er schweigt, hat er bereits die Strafe für das Vergehen der Schaulust angetreten, für die Lust am Geschwätz.

Es fällt auf, dass, während Dante, einem fahrenden Landpfarrer gleich, die Kreise der Hölle durchquert, um den berühmtesten der Sünder die Beichte abzunehmen, ja diese, wenn sie nicht zum Beichten aufgelegt sind, zu erzwingen - »Nur ungern steh ich Rede, / Doch zwingt mich dazu deine klare Sprache«, murrt (Inf. XVIII, 52f.) etwa der Kuppler Venedico -, gerade das Reden unter besonderer Beobachtung und unter einem besonderen Verdacht steht, als liege ein Fluch darauf, etwas zur Sprache zu bringen.

In diesen Zusammenhang mag auch die Müdigkeit Dantes gehören, von der die Commedia immer wieder berichtet. Als er sich einmal, von Vergil ermahnt, aufrafft, um weiterzugehen, ist es gerade »la lena«, der (keuchende) Atem, der ihm fehlt: »Da stand ich auf und tat nun so, als reichte / Mein Atem weiter, als ich wirklich fühlte, / und sagte: 'Geh, ich bin jetzt stark und mutig.'« (Inf. XXIV, 58-60) Um sich gerüstet zu zeigen, plappert er »im Gehen, um nicht schwach zu scheinen, / Und eine Stimme kam vom andern Graben, / Die war nicht fähig, Worte zu gestalten.« (64-66) Weitergehen heißt weiterschreiben, weitersingen; hier bleibt ihm nur, so zu tun als ob. Und genau in diesem Moment ist, als spiegelte sie seine Schwäche, als spräche sie seiner mit Mühe mobilisierten Rede Hohn, aus dem siebten Graben des achten Höllenkreises eine unverständliche Stimme zu hören.

Eine stammelnde Frau

Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal hört Dante und versteht doch nicht. Als Vergil mit den Wärtern vor der Höllenstadt verhandelt, kann Dante dem Gespräch nicht folgen, »Nicht hören konnt ich, was er ihnen sagte« (Inf. VIII, 112), eine kindliche Angst, verlassen zu werden, durchfährt ihn, »So ging er weg und ließ mich ganz alleine, / Der liebe Vater, und ich blieb in Zweifeln, / Daß Ja und Nein in meinem Kopfe stritten.« (109-111)

Eher physikalische Probleme ergeben sich, wenn ein Gesprächspartner sich zu weit entfernt, »Ich weiß nicht, ob er nach dem Wort geschwiegen, / So weit war er von uns schon weggelaufen« (Purg. XVIII, 127f.), oder wenn die Seligen in ohrenbetäubenden Jubel ausbrechen, »Sie schlossen einen Kreis um ihn und hielten / Und ließen einen Ruf so laut ertönen, / Daß man ihn hier mit nichts vergleichen könnte; // Doch ich verstand ihn nicht, betäubt vom Donner.« (Par. XXI, 139-142) Wenn Verdammte zur Strafe in Untiere verwandelt werden, verlieren sie dadurch mitunter die Fähigkeit zu sprechen: »Die Zunge, die noch ganz und gut zum Reden / Zuvor gewesen, teilte sich.« (Inf. XXV, 133f.)

Auch Zustände der Verwirrung und Ekstase hemmen das Verständnis. Er wird von Beatrices »Wortes Licht geblendet« (Purg. XXXIII, 74), im Marshimmel dringt eine Hymne an das Ohr des Verzückten, »der hörte, ohne zu verstehen«. (Par. XIV, 126) Dante lässt sich überdies leicht ablenken: »Und andres sagt' er, doch ich hab's vergessen, / Denn meine Augen waren ganz gerichtet / Zum hohen Turme mit der Feuerzinne, // Wo ich mit einem Male aufgerichtet / Drei blutbefleckte Höllenfurien schaute, / Die Glieder und Gestalt von Weibern hatten.« (Inf. IX, 34-39)

Es gibt Fälle, in denen die Rede abgebrochen wird; am dramatischsten, als die beiden Reisenden von Teufeln am Tor zur Höllenstadt aufgehalten werden. »Und dennoch müssen wir den Streit gewinnen«, sagt Vergil da, »wenn nicht ... ein solcher will uns helfen: / O wie sehr warte ich schon auf seine Ankunft.« (Inf. IX, 7-9) Es scheint ihm etwas Schreckliches durch den Kopf zu gehen, er setzt an, unterbricht sich, gerade fällt ihm noch der Engel ein, der ihnen aus der Patsche helfen könnte, doch der Satz ist schon zerstückt. Dante kommentiert: »Ich merkte wohl, wie er verdecken wollte / Den Anfang mit den Worten, die drauf folgten / Und die nicht zu den ersten Worten paßten. // Doch trotzdem gab mir, was er sagt'í zu fürchten / Denn ich bezog die abgebrochne Rede (parola tronca) / Vielleicht auf Schlimmres, als er sagen wollte.« (10-15)

Der Ketzer Cavalcanti beendet ein Gespräch vorzeitig, weil Dante mit seiner Antwort zögert (Inf. X, 70-72), ebenso bleibt Dante eine Antwort schuldig, weil er auf »eine andre Neuigkeit, die nahte«, achtet. (Purg. XXVI, 25-27) Und so ist, bevor es überhaupt zu Fragen der Auslegung kommen kann, der Verständigung jede erdenkliche Schwierigkeit in den Weg gesetzt.

Doch die »parole formar disconvenevole«, die aus der Grube des achten Kreises dringt und entweder ein Flüstern, ein Zischen, ein Fluchen oder ein »wortlos wirres Greinen« (Falkenhausen) ist, verweist auf ein besonders irritierendes Phänomen - das der gestaltlosen, völlig unverständlichen Rede. Mag es an dieser Stelle noch eine Erklärung finden, denn Dante und Vergil treten schließlich an die Grube und sehen darin Nackte, die von Vipern durchbohrt und zernagt werden, in Flammen aufgehen und sogleich aus der Asche wieder auferstehen, mag es sich als das Zischen der Schlangen, das Dante für Sprache hielt, oder als die unverständlichen Schmerzenslaute der Zerbohrten und Zerfallenden erklären, an anderer Stelle ist die Herleitung nicht so einfach.

Ich denke an eine Begegnung am Läuterungsberg, wo Dante im Traum »eine Frau« erscheint, die »lallte, / Mit schiefen Augen und gekrümmten Füßen, / Mit Krüppelhänden und mit fahler Farbe. // Ich schaute hin, und wie die Sonnenwärme / Nach langer Nacht erfreut die kalten Glieder, / So hat mein Blick ihr die erstarrte Zunge // Gelöst, und hat sie völlig aufgerichtet / In kurzer Zeit und ihre wirren Mienen / Mit einem Rot der Liebe überzogen. // Nachdem ihr nun gelöst war ihre Stimme, / Begann sie so zu singen, daß ich kaum noch / Von ihrem Lied mein Sinnen wenden konnte. // 'Ich bin die liebliche Sirene', sang sie, / 'Die alle Schiffer auf dem Meer bezaubert / Daß gerne sie mich immer hören möchten. // Ich zog Uliß von seinem schönen Wege / Mit meinem Lied; wer sich an mich gewöhnte, / Fährt selten weiter, so bring ich ihm Freude.'« (Purg. IXX, 7-24)

»Mi venne in sogno una femmina balba«, es »erschien im Traum mir eine Frau, die lallte«. Die Vision dieses »stammelnden Weibs« (Witte) nimmt Dante gefangen, eine zweite Frau, »una donna santa e presta«, muss ihm zu Hilfe eilen, die Sirene packen und entblößen. Von dem Gestank, der von ihrem Körper ausgeht, glaubt er zu erwachen. In Wahrheit ist es Vergil, der ihn schon dreimal zu wecken versucht hat. Die Erscheinung lässt ihn nicht los. Bedrückt schleicht er seinem Weggefährten hinterher, der ihn schließlich zur Rede stellt und dem er von dem »neu Gesichte« berichtet. Vergil nennt die Sirene eine »antica strega«, eine alte Hexe, er mahnt ihn mit strengen Worten, den Alptraum abzuschütteln: »Laß nun genug sein. Geh mit festen Füßen.« (Purg. IXX, 61)

Was den zweiten Teil der Sirenenerscheinung angeht, ihr verführerisches Singen, sind wir über es von Kirke, im zwölften Gesang der »Odyssee«, wohl unterrichtet: »Zu den Sirenen zuerst gelangest du, welche die Menschen / Allzumahl bezaubern, wer je zu ihnen hinanfährt. / Wer nun thörichten Sinnes sich naht und der hellen Sirenen / Stimm' anhört, nie wird ihn das Weib und die stammelnden Kinder, / Wann er zur Heimath kehrt, mit Freud' umstehn und begrüßen; / Sondern ihn bezaubern mit hellem Gesang die Sirenen, / Sitzend am grünen Gestad'; und umher sind viele Gebeine / Modernder Männer gehäuft, und es dorrt hinschwindende Haut rings.« (Voß)

Will Odysseus das Stammeln seiner Kinder wieder hören, muss er taub sein gegenüber dem Gesang, Dante hingegen muss sich die Ohren vor dem Stammeln verschließen, wenn er weiter singen will. Denn weder die »hilfreiche und heilige Frau« aus seinem Traum noch Vergil entblößen die Sirene, der Sänger selbst ist es, der sie allererst als kalt, verkrüppelt, wirr, blass und stammelnd wahrnimmt. Erst unter seinem liebenden Blick verwandelt sie sich ja in die singende Schönheit, als die wir sie von Homer kennen. Wie die Sonne, die, als erweckte sie einen Toten, den durchfrorenen Schläfer erwärmt, löst Dantes Blick ihre Verkrampfung, ihre Ungelenkheit, ihre Unverständlichkeit. Indem er sie anblickt, indem er sie singt, wird sie schön, lebt sie.

Anders als in der Warnung Kirkes verheißen, überlebt Dante das Singen der Sirene nicht nur, er erkennt sogar dessen Botschaft: »Ich bin die liebliche Sirene, die alle Schiffer auf dem Meer bezaubert.« Sollte es diese allzu schlichte Botschaft sein, die ihn verfolgt und niederdrückt? Oder ist es nicht vielmehr der Gestank, der von ihrem verformten Leib ausgeht, ihr Stammeln?

Viele Hinweise in der Commedia deuten darauf, dass das Stammeln der Sirene kein anderes meint als das des Sängers, des irrenden Wanderers, des Lernenden, des Kindes, des Dichters Dante selbst.

Eine stolze Mutter

Dante betont die Armut der Sprache häufig. Mit rhetorischen Mitteln ist die Hölle nicht auszuschöpfen: »Wer könnte, selbst mit ungereimten Worten, / Jemals erschöpfen all das Blut, die Wunden, / Die ich dort sah, auch wenn er oft erzählte? // Versagen würde wahrlich jede Zunge, / Es wäre unser Geist und unsre Sprache / Nicht groß genug, um alle zu umfassen.« (Inf. XVIII, 1-6). Und der Himmel ebenso wenig: »Wie arm ist doch die Sprache und wie kläglich / Für den Gedanken, und nach dem Geschauten / Ist der so groß, daß Worte nicht genügen.« (Par. XXXIII, 121-123)

Dante betont auch die Armut der eigenen Sprache. In der Hinleitung zu der eben zitierten Passage, vor der Schilderung seiner Begegnung mit Gott - die eine Begegnung mit dem Menschlichen, in gewisser Weise mit sich selbst ist: »Der ist mir in sich selbst mit eigner Farbe / Mit unserem Angesicht bemalt erschienen« (130f.) -, bittet er um Nachsicht: »Nunmehr wird meine Sprache noch viel ärmer / Für das auch, was ich weiß, als die des Kindes, / Das noch am Mutterbusen letzt die Zunge.« (107-109)

Indem er seine Sprache, immerhin die erhabene Dantes, mit der des Säuglings vergleicht, nennt er sie ein Lallen, weniger als ein Lallen. An zwei Stellen wird das noch deutlicher. Im Aufstieg zum Läuterungsberg fürchtet er einmal, eine besonders einfältige Frage zu stellen, setzt zu ihr an, bringt aber kein Wort heraus: »Und wie das Störchlein seine Flügel lüftet / Und fliegen möchte und doch nicht den Mut hat, / Das Nest zu lassen, und sie wieder senket, // So war mein Wunsch entfacht und gleich erloschen / Zu fragen, und ich kam nur bis zur Geste, / Die der macht, der zum Sprechen sich entschlossen.« (Purg. XXV, 11-16) Er öffnet sicherlich den Mund und bewegt Lippen und Zunge, fuchtelt vielleicht mit den Armen, artikuliert möglicherweise sogar einen Anlaut, aber er redet nicht; er ist ein Vogel, der nicht flügge ist, ein Kind, das keine Worte hat.

Vergil hilft ihm, wie so oft, auf die Sprünge: »Nicht unterließ es (das Sprechen) trotz des schnellen Gehens / Mein lieber Vater, und er sagte: 'Schieße / Des Wortes Bogen ab, den du gespannt hast.'« (16-18) Nicht zum ersten Mal nennt er seinen Lehrer »padre«, Vater; einen Vater sah er auch in ihm, als er, von ihm getrennt, Vergils Gespräch mit den Teufeln verfolgte. Vatersein bedeutet nicht nur sprachliche Leitung, Anweisung im Sprechen und Schweigen, sondern auch Vertrautheit, in der allein Reden möglich wird.

Am sorgfältigsten mit der Sprecherziehung befasst ist natürlich die stillende Mutter selbst, Beatrice, in deren Gegenwart sich Dante stets in ein stammelndes Kleinkind zurückverwandelt: »Da wandte sie nach einem frommen Seufzer / Die Augen zu mir her mit einem Blicke, / Wie eine Mutter auf ein Kind, das fiebert« (Par. I, 100-103); »Drauf richtet' unter mitleidsvollem Seufzer / Auf mich den Blick sie mit der Mutter Ausdruck, / Die ihres Kindes Fieberwahne zuschaut« (Witte); »Nach einem Seufzer, mitleidsvoll ergeben, / Sandt' einen Blick sie mir, wie auf ihr Kind / Die Mutter schauet, sprachs im Fieber eben« (Falkenhausen). »Sie sprach gleich einer Mutter, die dem Kinde, / Das blaß und keuchend (anelo), schnelle Hilfe leistet, / Mit dem gewohnten Klange ihrer Stimme« (Par. XXII, 4-6); »Sie aber, gleich der Mutter, welche schleunig / Durch ihre Stimme, die ihm neuen Mut gibt, / Dem Kinde hilft, das atemlos und bleich ist« (Witte); »Und sie, wie eine Mutter ihrem Kleinen / Mit ihrer Stimme, die so tröstlich ist, / Dem bleichen, atemlosen stillt das Weinen« (Falkenhausen).

Die Mutter-Kind-Dyade stellt sich gleich bei ihrem Wiedersehen im Jenseits wieder her, als Beatrice, im irdischen Paradies, Dante aus einer Blumenwolke entgegentritt. Er eilt auf sie zu, »mit dem Vertrauen, / Mit dem das Kindlein hineilt zu der Mutter, / Wenn es sich fürchtet oder sonst betrübt ist.« (Purg. XXX, 43-45) Doch statt Koseworten und Trost hat sie nur Schimpf für ihn übrig: »Ja, schau nur her, jawohl, ich bin Beatrice! / Wie wagtest du, dem Berge dich zu nahen?« (73f.) Er fühlt sich wie ein Sohn, dem die »Mutter stolz erschienen«, und bricht in Tränen aus. Doch sie lässt sich so bald nicht erweichen und hält ihm eine lange Strafpredigt.

Damit nicht genug, fordert sie ihn herrisch zur Reue auf, »indem sie mit der Spitze / Der Rede traf, die schon mit ihrer Schneide // Mir scharf erschien.« (Purg. XXXI, 2-4) Bezeichnend ist nun seine Reaktion: »Furcht und Verwirrung miteinander trieben / Mir dann ein solches 'Ja' aus meinem Munde, / Daß man das Auge braucht', es zu vernehmen. // Wie eine Armbrust bricht, wenn allzu heftig / Man ihre Sehne anspannt und den Bogen, / Und dann der Bolzen lahmer fliegt zum Ziele, // So brach ich unter dieser Last zusammen, / Und Seufzer kamen nur hervor und Tränen, / Indes die Stimme mir erstarb im Munde.« (13-21)

Dass »Overprotection und Rigidität« der Mutter dem Kind die Sprache verschlage, behaupten manche Logopäden (M. Grohnfeldt, »Störungen der Sprachentwicklung«, Berlin 1993), aber es lassen sich auch andere Schlüsse ziehen. Beatrice personifiziert in der Commedia die am höchsten entwickelte Kunst der Kommunikation. Sie spricht »wie einer, der sein Wort nicht stückelt (non spezza)«. (Par. V, 17) Diese ungestückelte, fließende Rede steht nicht nur in krassem Gegensatz zu der gurgelnden Rede der Verdammten, sondern auch zu Vergils »parola tronca«, und erst recht zu den Lauten der Sirene, die ja eine »femmina balba« ist. Vor allem steht die ideale Sprache im Gegensatz zu der des Dichters, dem keine ideale zu Gebote steht und der deshalb verstummt.

Beatrice vermag aber noch viel mehr: Sie, »von der ich Wie und Wann des Redens / Und Schweigens stets erwarte« (Par. XXI, 46f.), liest, bevor er sie überhaupt stellt, Dantes Fragen in Gott, ja sie sieht »mein Schweigen selbst im Auge / Desjenigen (...), der alles sieht«. (4f.) Sie muss überhaupt nicht reden und redet nur um des Kindes, des mangelhaften Menschen willen, der immer noch der Sprache bedarf. Wenn sie sich an Dante wenden, befleißigen sich die Engel des Toskanischen, untereinander sprechen sie nicht. Sprache ist, nicht allein im Himmel, niemals die erste Wahl.

Ein finstrer Riese

Auf Sprache lässt sich nichts errichten, sie bietet keinen stabilen Grund. Diese Auffassung bahnte sich schon vor der Niederschrift der Commedia (1306 bis 1321) an. Die Allegorese, wie Dante sie noch im »Convivio« (1304 bis 1308) vorschlug, also eine vom wörtlichen Sinn eines Wortes oder eines Zeichens über den allegorischen, den moralischen, hin zum anagogischen Sinn transzendierende Deutung, unterstellte, dass Bedeutungen fixiert sind. Eine Urschrift, eine Ursprache muss den tieferen, den eigentlichen Sinn der Wörter unmissverständlich festhalten; als diese Ursprache identifiziert er in »De vulgari eloquentia« (1304 oder 1305) das Hebräische, genauer gesagt das Protohebräische. Nimmt man beide Thesen zusammen, lässt sich als Aufgabe der Allegorese die Rückübersetzung in eine heilige Urschrift erkennen. Noch in der Commedia werden das Gedächtnis, die Dichtung, die Vorsehung, die Liebe und Gott selbst mit einem Buch verglichen, aber die Hoffnung ist dahin, dass einer in ihm lesen könnte.

Denn je fester einer die Wörter in den Blick nimmt, desto brüchiger müssen sie erscheinen. Wer dichtet, liefert sich aus: »Er übt die Kunst, doch seine Hände zittern.« (Par. XIII, 78) Wer auf diesem Boden eine Welt erbaut, wird Überraschungen erleben: »Da fühlt ich, als ob etwas niederfalle, / Den Berg erbeben, und mich griff ein Schauer, / Wie einen, der dem Tode nahe wäre.« (Purg. XX, 127-129) Wohl deutet der in der Allegorese geübte Interpret, Vergil, das den Läuterungsberg erschütternde Erdbeben als ein geistiges, nämlich von Naturkräften unabhängiges, es ereigne sich »nur dann, wenn eine reine Seele / Sich würdig fühlt zu steigen« (Purg. XXI, 58f.), doch Dante sitzt der Schrecken in den Knochen.

Die historische, situationsbedingte und erst recht die subjektiv-interpretatorische Schwankung des Sinns hat der Dichter so deutlich erfahren, das Beben so deutlich gespürt, dass er in der Commedia auch den Glauben an einen sicheren Grund, eine fundamentale Ursprache preisgibt: »Die Sprache, die ich sprach«, sagt Adam, »ist ganz erloschen / Schon lang bevor zu dem unmöglichen Werke / Die Völker Nimrods angetreten waren. // Denn niemals sind die Werke des Verstandes, / Weil sie der Menschen Wille mit dem Drehen / Des Himmels ändert, dauerhaft gewesen. // Werk der Natur ist, daß die Menschen sprechen, / Doch hat sie, ob auf die und jene Weise, / Euch selber nach Belieben überlassen. // Eh ich hinabstieg in der Hölle Bangen, / Hieß 'I' auf Erden jenes höchste Wesen, / Von dem die Freude kommt, die mich umhüllet. // 'El' hieß es später, und das mußte kommen, / Denn aller Menschen Sitte gleicht dem Laube / Der Bäume, das vergeht und wiederkehret.« (Par. XXVI, 124-138)

Die Erde hat bereits begonnen sich zu drehen und von einer Gravitation ist nichts bekannt. Beunruhigende Aussichten; und dass Gott einmal diesen, einmal jenen Namen trug, legt die Frage nahe, ob es sich jeweils um denselben handelt? In der Hoffnung, die Einheit der geistigen Welt zu erhalten, hatte etwa der zu Dantes Lebzeiten in Italien lehrende Kabbalist Abraham Aboulafia eine geistige Grundform der Sprache angenommen, eine Struktur, mit Avicenna eine causa preparans, die dem Menschen mitgegeben sei, und sich der jeweiligen Muttersprache, der causa perficiens, aufpräge, von dieser aber auch verwandelt werde.

Obwohl Dante einer ganz ähnlichen Dialektik folgt, wenn er zum Beispiel die Frage der Willensfreiheit behandelt (»Ihr seid der höhern Macht frei unterworfen / Und besserer Natur, und diese schaffet / In euch den Geist, den nicht die Sterne lenken. // Drum, wenn die gegenwärtige Welt entgleiset, / Ist nur in euch die Schuld, in euch zu suchen«, Purg. XVI, 79-83), streitet er den Stempel einer höheren Macht ab, wenn er auf die Sprache kommt. Jedenfalls kann der Mensch die causa preparans, das göttliche Wirken in der Sprache, nicht mehr erkennen, und es gibt auch keine Sprache für das göttliche Wirken. Dante setzt das starke Bild vom Geometer, »der sich mühet, / Den Kreis zu messen, und mit allem Denken / Doch jene Regel, die er braucht, nicht findet.« (Par. XXXIII, 133-135)

Je näher Dante den Ursachen kommt, umso weniger kann er über sie verfügen. Während er vom Wörtlichen über das Allegorische, Moralische und Anagogische zum Himmel aufsteigt, unternimmt er zugleich eine Höllenfahrt der Spracherkenntnis, seine Sprache zersetzt und zerrüttet sich zusehends, wird zum Stammeln des Kindes, endet in Schweigen.

Im gleichen Zug löst sich die Muttersprache auf. Die Hölle betretend, hatte Dante »verschiedne Sprachen, wilde Schreckenslaute« (III, 25) vernommen, doch erst im Paradiso geht das vertraute Toskanisch in einen Flickenteppich aus Neologismen, Latinismen, Gallizismen, in eine Weltsprache des 14. Jahrhunderts über.

Wer hat diesen Turm zu Babel errichtet? Vergil hat den Riesen Nimrod im Verdacht, dem die Jenseitsreisenden am Schacht des neunten Höllenkreises gegenübertreten, der »überschattet von den Oberkörpern / Der finstern Riesen, die im Himmel droben / Jupiter noch bedroht mit seinem Donner.« (Inf. XXXI, 43-45) Einer fällt ihnen besonders auf, ein Fehlgriff der einst übermütigen Natur, »wenn auch den Walfisch und den Elefanten / Sie nicht bereut« (52f.), »Sein Angesicht erschien mir lang und riesig, / So wie in Rom der Zapfen von Sankt Peter, / Und dem entsprechend war der Rest der Glieder« (58-60). Noch was von ihm über das Ufer ragt, ist größer als »drei Friesen« (64), »'Raphel maì amech izabì almi', / So schrie er plötzlich mit dem wilden Munde, / Dem weichre Lieder nicht geziemend waren.« (67-69)

Dieser Riese also ist »Nimrod, durch dessen böses Denken«, meint Vergil, »Auf Erden nicht nur eine Sprache gültig«. (77f.) Nimrod wird uns in der Bibel als »gewaltiger Herr auff Erden« vorgestellt, als »gewaltiger Jeger fur dem HERRN«, »Vnd der anfang seins Reichs war / Babel / Erech / Acad vnd Chalne im land Sinear.« (Gen. 10, 8-10) Zu der Zeit, als Nimrod seine Herrschaft in Babel antritt, soll »alle Welt einerley Zungen und Sprache« (11, 1) gehabt haben, doch das allzu hochmütige Vorhaben des Turmbaus erzürnt den Herrn im Himmel: »Wolauff / lasst vns ernider faren / vnd jre Sprache da selbs verwirren / dass keiner des andern sprache verneme.« (11, 7)

Gottvater kommt zu spät: Die eine, erste Sprache »ist ganz erloschen / Schon lang bevor zu dem unmöglichen Werke / Die Völker Nimrods angetreten waren«. Denn sobald es Menschen gibt, gibt es Alteration, alles ist verwirrt, und Einsamkeit, keiner vernimmt des anderen Sprache. Einheit der Sprache, Einheit des Sinns enden, sobald der Eine, Adam, mit dem Anderen sich verständigen will (dies mag der Grund dafür sein, weshalb Dante Eva nicht auftreten lässt).

Um zu Dantes Einsicht zu gelangen, dass es eine Ursprache nicht gegeben hat und die Suche nach ihr aussichtslos ist, brauchte die Sprachphilosophie noch weitere 600 Jahre. Etwa ebenso lange forschten die Dantologen nach der Bedeutung von Nimrods Satz »Raphel maì amech izabì almi«, um schließlich zu resignieren; er bedeutet nur, dass er nichts bedeutet, er ist Klang, Scheerbartsche Poesie. Eine lautliche Ähnlichkeit mit dem Hebräischen mag freilich beabsichtigt sein, dann wäre Nimrods Satz Relikt einer versunkenen Wurzelsprache und Nimrod selbst der andere Adam.

Nimrods Verbrechen bestand, wie Adam sagt, darin, etwas unternommen zu haben, das »inconsummabile«, unmöglich, nicht zu vollenden war. Es bestand nicht in der Verwirrung der Sprache, die längst verwirrt war, sondern in dem Versuch, mit ihr den Himmel zu stürmen, in dem Versuch, einen wie einen Zeigefinger, wie einen Schreibstift in die Höhe weisenden Turm zu bauen, der sein Ziel doch nie erreichen kann. Im Inferno ist Nimrod selbst turmhoch, sein Gesicht allein so lang wie der vier Meter hohe bronzene Pinienzapfen, der zu Dantes Zeit vor der Peterskirche stand. Nimrod ist zu seinem Bauwerk, zum Turm von Babel geworden, und sein Satz ist Ausweis eines unmöglichen Unternehmens.

Kurz nachdem sie Nimrod begegnet sind, sehen sie den Riesen Ephialtes, der gebunden ist und doch zittert, denn »Nie hat ein noch so starkes Erdenbeben / So mächtig einen Turm erschüttern können, / Wie Ephialtes dort geschüttelt wurde.« (Inf. XXXI, 106-108) Ephialtes gilt wie Nimrod als Rebell, wie dieser versuchte er, den Himmel zu erobern, nicht indem er einen Turm baute, sondern indem er Berge aufeinandertürmte. Gefesselt ist er wie die gebundene Sprache der Commedia, in der, wer will, das Beben spüren kann.

Im Gegensatz zu den Giganten vor ihm hat Dante den Himmel wirklich erreicht, wenn er sich auch des Wichtigsten »nicht erinnern kann« und geschüttelt wird wie sie. Im Gegensatz zu Nimrod und Ephialtes ist er sich der Unmöglichkeit seines Unterfangens bewusst, er ist der Riese, der zum Kind wird, wachender Träumer, zitternder Künstler, Odysseus ohne Furcht, stammelnde Sirene, er schreibt in Sätzen, die er selbst nicht versteht, »Raphel maì amech izabì almi«, das heißt, in der Sprache Bossuets, »tout cet ordre que nous admirons sera renversé«, die Ordnung, die wir so bestaunen, wird sich umkehren, verwirren wird sie sich.