Schulden machen fit

Nach dem Finanzcrash wird das neue Berlin noch neuer werden.

Früher, Anfang der neunziger Jahre, war Berlin richtig schön. Alle lebten in idyllischen Verhältnissen. Alle lachten. Alle machten Kunst oder Musik oder Lyrik. Die Häuser waren bunt bemalt und drückten die Lebensfreude ihrer Bewohner aus.

Dann kamen die ersten Investoren und machten die Stadt noch schöner. Zwar waren viele lauschige Ecken nun nicht mehr ganz so lauschig, aber dafür strahlten die Fassaden in altem Glanz oder in neuem Glanz, der so tat, als sei er alt. Hunderte von Cafés eröffneten, Clubs schossen aus dem Boden und alles wurde herrlich. Die Friedrichstraße wurde auf eine Art bebaut, die zwar ein wenig an die Architektur der DDR erinnerte, andererseits aber durch teures Material wie Glas, Sandstein oder Stahl permanent bewies, dass jetzt der Osten auch der Westen war und alles zusammen Freiheit ergab.

Doch die neue Herrlichkeit war schwer zu verwalten. Zwar half der Bund hie und da mit Geld aus und nahm sich diverser Hauptstadtprojekte gleich selbst an - den größten Teil der infrastrukturellen Baumaßnahmen musste das »Neue Berlin« aber aus eigenen Mitteln finanzieren. Da für die Schönheit nicht Geld ausgegeben und zugleich gespart werden konnte, wurden die Sozialleistungen gekürzt. Das war so wie in jeder anderen deutschen Stadt auch.

Nur war Berlin ein wenig zaghafter und langsamer in diesen Dingen. Die Stadt musste erst fit gemacht werden. Fit heißt immer: den Verhältnissen angepasst. Modern. Gegenwärtig. Durchkapitalisiert. Und da hatte Berlin Nachholfbedarf.

Nach der Wiedervereinigung bot sich eine ungeahnte Chance, anstelle zweier alter eine neue Stadt zu errichten. Mit Ost- und Westberlin wurden zwei unabhängig voneinander funktionierende Städte zusammengefügt, mit auseinander strebenden Stadtzentren, die bis heute nicht zu einem einzigen Zentrum zusammengewachsen sind.

Fragt man als unbedarfter Mensch in Berlin nach der »City«, wird der Westler noch immer gen Ku'damm, der Ostler dagegen Richtung Alex weisen.

Doch über die Idee von zwei Berliner »Mitten« wurde in den Neunzigern gar nicht erst nachgedacht. Weniger weil ihre Realisierung verwaltungs- und verkehrstechnisch unmöglich gewesen wäre, als vielmehr weil Zentralisierung ein wichtiger Bestandteil der modernen Stadtplanung ist.

Die so unterschiedlichen Bewohner der beiden Stadthälften mussten mit ähnlichen Einschränkungen zurechtkommen. Die Ostberliner waren durch geringere Löhne und die Abwicklung ihrer Arbeitsplätze materiell bedroht und deklassiert, während sie in der DDR zuvor als Hauptstädter Privilegien genießen konnten. Und auch die Westberliner verloren geliebte Vorteile. Die Berlinzulage auf ihre Löhne wurde gestrichen, andere Vergünstigungen des früheren Inseldaseins wie das stundenlange Telefongespräch zum Preis einer Tarifeinheit wurden abgeschafft. Jungs mussten plötzlich zur Bundeswehr und die althergebrachte Subventionskultur galt auf einmal als piefig. Das Grummeln, das hörbar wurde, wurde als typisch berlinerisch abgetan.

Beide, die Ossis wie die Wessis Berlins, pflegten eine große Liebe zu ihrem jeweiligen Kiez, was eine eingeschränkte Flexibilität einerseits und eine relativ hohe Solidarität in der Nachbarschaft andererseits zur Folge hatte. Mit solchen Leuten lässt sich keine Stadt fit machen.

Also wurden Neuberliner angelockt. Sie konnten die Geschichten beider Stadthälften hinter sich lassen und die Verstörung ausnutzen, um einen neuen kulturellen und gesellschaftlichen Mainstream zu etablieren. Neuberliner sind flexibel und unsolidarisch. Da sie sich kaum mit ihrem Stadtviertel identifizieren, kritisieren sie auch nicht seine Umgestaltung. Sie ziehen einfach weg, wenn es zu laut, zu teuer oder zu elend wird.

Neuberliner haben der Stadt zunächst wilde Geschäftsgründungen und rechtsfreie Räume beschert, inzwischen haben sie es zu Werbeagenturen und exklusiven Boutiquen gebracht. Die »Generation Berlin«, wie Die Zeit sie nannte, ist genau das Material, mit der eine moderne Stadt arbeiten kann.

Wenn man tief greifende Veränderungen legitimieren will, kann der Bezug auf einen geschichtlichen Mythos hilfreich sein. Also beschwor man das schöne alte Berlin der zwanziger Jahre, leugnete einfach seine Armut und politische Instabilität und imaginierte das Klima eines fortwährenden Aufbruchs, einer unbeschränkten Wildheit und Risikofreude.

Genau das Klima eben, dass heute die herbeiströmende Ravejugend und eine entpolitisierte Jungakademikerschaft zu erzeugen sich anschickt. Das Klima, das die radikalliberale Wirtschaftspolitik benötigt. Ihr Ziel ist die Schaffung eines autoritären und unsozialen Raumes: Die Stadt als Start-up, Supermarkt und Hochsicherheitstrakt in einem.

Die solcherart fit gemachte Stadt drückt sich aus in ihren Symbolen. Wenn der Potsdamer Platz auch als städteplanerisch gescheitert gilt, so hat man mit ihm doch das Ziel erreicht, die Shopping-Mall als Lebenszentrum zu etablieren. Vor allem mit seinen de facto privatisierten Straßen, auf denen ein Sicherheitsdienst über das Hausrecht wacht, dient er als Vorbild.

So wird die Innenstadt für ganze Bevölkerungsgruppen unattraktiv gemacht. Wenn sich etwa auf dem Alex, in der Friedrichstraße oder am Ku'damm kaum noch öffentliche Sitzbänke finden, ist das nicht nur eine Maßnahme gegen Punks und Obdachlose. Auch Rentner und Behinderte sollen nur dann herkommen, wenn sie das nötige Kleingeld besitzen, um sich in den Cafés vom Einkaufsstress auszuruhen. Andernfalls ist für sie die Vorstadt-Shopping-Mall da.

Berlin soll ein streng abgesichertes Zentrum bekommen, das vom Ku'damm über den Potsdamer Platz bis zum Rathaus reicht. Drumherum halbedle, kultige Kieze in denen neue Lebens- und Marketingkonzepte ausprobiert werden. Die ärmeren Stadtteile mit ihren lästigen Sozialmietern werden gut abgeschirmt von den Villenvierteln.

Wenn dieser Plan ausgeführt ist, wird Berlin endlich eine moderne Großstadt wie New York, London oder Paris sein. Der Modellcharakter für den Rest der Bundesrepublik ist in Bielefeld, Bremen oder Leipzig bereits deutlich zu spüren.

Das Einzigartige an Berlin ist die Geschwindigkeit, in der ein neues Städtedenken durchgesetzt werden sollte, und die durch die Wiedervereinigung gegebene Möglichkeit, es auch durchsetzen zu können. Der Umbau Berlins zur Bundeshauptstadt, die neben einem funktionierenden Verwaltungsstandort zugleich noch eine repräsentative Metropole sein soll, kostet jedoch enorm viel Geld, die Öffentlichkeit tut so, als hätte sie das eben erst bemerkt.

Der Finanzskandal, der die Hauptstadt gerade erschüttert, ist weniger ein Vetternwirtschafts- oder Bestechungsskandal als vielmehr die Konsequenz aus der ignoranten Vorstellung, die neue Hauptstadt für lau zu bekommen. Dass es in einer Stadt, die mit zweifelhaften Krediten erbaut wird, einerseits Prachtstraßen und Vorzeigezonen gibt, andererseits aber Randgebiete, deren Probleme kaum mehr zu bewältigen sind, sollte nicht verwundern.

Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen(CDU) ist in diesem Prozess kaum schuldbeladener als etwa Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD). Auch eine PDS-Regierung hätte die Entwicklung höchstens verlangsamen können. Denn Berlin ist die Hauptstadt einer sich rasch von der sozialen Marktwirtschaft verabschiedenden neuen Wirtschafts- und Weltmacht. Daher kann Berlin keine gemütliche Insel sein.

Deshalb herrscht auch weit gehende Einigkeit bei den verschiedenen Parteien, welche Maßnahmen nach dem Finanzskandal zu ergreifen sind. Die Bäderbetriebe sollen verscherbelt werden, die profitablen Teile der Bankgesellschaft werden wahrscheinlich privatisiert, die Kulturinstitutionen werden zusammengelegt und zur Sponsorensuche verpflichtet. Beim Nahverkehr dürfte gekürzt werden, über die Teilveräußerung der Berliner Verkehrsbetriebe an die Deutsche Bahn AG wird bereits verhandelt.

Die Privatisierung des Sozialen bringt den Verlust von Arbeitsplätzen mit sich sowie eine starke Vereinheitlichung und Verteuerung der Dienstleistungen. Die Stadtverwalter werden zu Managern, die über einen nach marktwirtschaftlichen Regeln funktionierenden Konzern wachen.

Doch in diesem Prozess können nicht ausnahmslos alle, die heute reich und mächtig sind, es auch morgen noch sein. Das gehört zum Gesetz der Konkurrenz. Berlin kann gar nicht anders, als sich hoch zu verschulden, wenn der Umbau vorankommen soll. Und diese Schulden brauchen vorzeigbare Schuldige, wenn man sie als Sozialkürzungen auf die Bevölkerung abwälzen will.

Der Kapitalismus aber kann nicht schuldig sein. Und daher sind Diepgen, Landowsky und all die anderen, die beim Umbau der Stadt mitgeholfen haben und jetzt um ihre Karriere fürchten müssen, Bauernopfer in einem Spiel geworden, das sie nie vollständig beherrscht haben und in dem sie glaubten, ihre kleine Vetternwirtschaft schadlos betreiben zu können. Sie sind Opfer eines Modernisierungsprozesses, der gerade jetzt wieder einen monetären Anschub, etwa in Form von Wirtschaftshilfen, braucht, um sich weiter dynamisieren zu können. Aber natürlich sind Diepgen und Co. nur in dieser einen Hinsicht Opfer.