Kurs auf Israel

Frankreichs Premier Lionel Jospin bereitet eine Wende in der Nahost-Politik vor.

Die Bilder gleichen sich, und sie gleichen sich doch nicht. Ende Februar wurde Frankreichs Premierminister Lionel Jospin während einer dreitägigen Nahost-Reise zum Ziel von Steinwürfen. Seine Leibwächter hatten ihre liebe Not, ihren Schützling aus dem Schussfeld heraus ins Auto zu zerren. Letzte Woche konnten französische Journalisten die kleine Stelle Schorf bewundern, die ihren Regierungschef an den Besuch der palästinensischen Bir-Zeit-Universität erinnert.

Nicht weit entfernt war vor gut drei Jahren schon einmal ein französischer Spitzenpolitiker im Mittelpunkt eines deftigen Gerangels gestanden. Im Oktober 1996 drohte Staatspräsident Jacques Chirac mit der sofortigen Abreise, nachdem er in Ostjerusalem mit israelischen Sicherheitsleuten aneinander geraten war: Chirac wollte ein Bad in der palästinensischen Menge nehmen, der Zusammenstoß war Teil eines kalkulierten Skandals. Die vorangegangene Nahost-Reise hatte bei Syrern und Palästinensern begonnen; den Israelis hatte Chirac nur eine untergeordnete Rolle eingeräumt.

Bei Jospin liegt der Fall umgekehrt. Nicht von Israelis wurde der Premier angegangen, sondern von wütenden Palästinensern. Am Tag vor dem Angriff hatte Jospin bei einer Pressekonferenz in einem Jerusalemer Hotel Überraschung hervorgerufen, als er sich zur Lage des Konflikts zwischen Israel und seinen nahöstlichen Nachbarstaaten äußerte: »Frankreich verurteilt die Angriffe der Hizbollah sowie generell die terroristischen Angriffe, von wem immer sie ausgehen, gegen israelische Soldaten oder die Zivilbevölkerung.« Insbesondere im Libanon und bei der palästinensischen Bevölkerung wurde dieser Satz als Provokation und als Parteinahme für Israel aufgefasst.

Die vom Iran unterstützte schiitische Hizbollah ist gleichzeitig eine politische Partei, die derzeit mit sieben Abgeordneten im libanesischen Parlament sitzt, und eine bewaffnete Miliz. Im seit 1978 von Israel besetzten Süd-Libanon führt sie Attacken auf israelische Stellungen durch. Von hier aus beschießt sie auch Siedlungen im benachbarten Nord-Israel mit Katjuscha-Raketen. Dabei werden, wie bei den mit Bombardements, mit denen Israel reagiert, immer wieder auch Zivilisten getötet.

In den Augen von Libanesen und Palästinensern hat Jospin mit seinem Statement Israels Nachbarländern das Recht auf - in ihren Augen prinzipiell berechtigte - Gegenwehr gegen israelische Operationen abgesprochen. Auffallend milde reagierten sie dagegen auf das, was Jospin wenige Tage zuvor zu den israelischen Bombenflügen bemerkt hatte: »Frankreich wünscht, dass die Gegenschläge so wenig wie möglich die Zivilbevölkerung treffen. Die Zivilbevölkerung zu schonen, ist eine Notwendigkeit, die zu respektieren Israel sich bemüht.«

Es entziehe sich seinem Verständnis, erzürnte sich Jospins libanesischer Amtskollege Selim Hoss, wenn der französische Premier die »Widerstandsbewegung im Libanon« als »eine terroristische Bewegung« qualifiziere. Ähnlich sahen dies die palästinensischen Studenten der Bir-Zeit-Universität, wo alle politischen Gruppen parteiübergreifend die Proteste bei Jospins Auftritt organisierten.

Zurück in Paris, rechtfertigte Jospin sich am vergangenen Dienstag vor dem französischen Parlament. »Die französische Politik im Nahen Osten«, so Jospin, »fußt auf der historischen Freundschaft mit Israel und der Sorge um seine Sicherheit, und sie fußt auf der Freundschaft mit zahlreichen arabischen Ländern.« Die feinen Untertöne in Jospins Ansprache entgingen der Öffentlichkeit weder in Frankreich noch im Nahen Osten. Dass der Premier nur Israel namentlich nannte und nur die Freundschaft mit Israel als »historisch« qualifizierte, wurde als klares Signal einer neuen Prioritätensetzung verstanden.

Dass diese Haltung sich nicht mit derjenigen des Araber-Freundes Chirac vertragen würde, war abzusehen. Der sozialdemokratische Regierungschef weilte noch in Israel, da forderte ihn der neogaullistische Staatspräsident bereits ultimativ auf, nach seiner Rückkehr unverzüglich bei ihm Rapport zu erstatten. Als Jospin sich glattweg weigerte, war es Chirac, der den Premier anrief und ihn eine Viertelstunde lang telefonisch zur Rede stellte.

Sicher handelt es sich bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern an der Staatsspitze - die sich aller Voraussicht nach als die beiden großen Konkurrenten bei der Präsidentenwahl 2002 gegenüber stehen werden - zum Teil um einen Profilierungs-Wettstreit. Dazu kommt aber ein tiefer liegender Konflikt, bei dem es tatsächlich um eine inhaltliche Neuorientierung der Außen- und insbesondere der Nahostpolitik geht. Chirac hält an der traditionellen gaullistischen Vision von einem eigenständigen Großmacht-Status Frankreichs und der Behauptung einer Distanz zu den USA fest. Jospin dagegen steht in vielen Bereichen für einen Bruch mit der überkommenen gaullistischen Doktrin und für eine Annäherung an andere westliche Außenpolitiken.

Seit den sechziger Jahre hat Frankreich im Nahen Osten einen pro-arabischen Kurs verfolgt. Noch während des Kolonialkrieges um Algerien konnte Frankreich auf Israel als einzigen Verbündeten in der gesamten Region bauen. Nach der französischen Niederlage setzte Präsident Charles de Gaulle einen scharfen Kurswechsel durch, um Handelsbeziehungen und Marktanteile in der Mittelmeer-Region zu halten. In den siebziger Jahren wurden Regimechefs wie Muammar el-Gaddafi in Libyen und Saddam Hussein im Irak zu den Hauptempfängern französischer Rüstungslieferungen in der Region. Nach anfänglichem Zögern und erfolglosen Ermittlungsversuchen in der Golf-Krise um den Irak und Kuweit 1990 hatte Paris sich schließlich doch der durch die USA dominierten Golf-Kriegs-Allianz gegen den Irak angeschlossen. Damit war der Versuch einer eigenständigen Nahostpolitik in der Sackgasse angelangt.

Mit medienwirksamen Initiativen und Reisen nach Ägypten, Syrien und zu den Palästinensern versuchte Chirac 1996 erstmals entgegenzusteuern. Die Ausbeute dieser Vorstöße blieb jedoch ausgesprochen mager: Der Friedensprozess zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn lief weiterhin unter US-amerikanischer Führung ab, und Frankreich kann in der Nahost-Region real kaum Einfluss nehmen.

Seit einigen Monaten hat sich jedoch in der EU die Meinung durchgesetzt, dass sich die Bindungen Israels an die bisherige privilegierte Schutzmacht USA nach dem Ende des permanenten Spannungszustands in der Region lockern werden. Nun sehen die Europäer die Chance, erneut an Einfluss innerhalb Israels und in der Region zu gewinnen. Jospin scheint diese Analyse zu teilen. Zumal er wie einige Kader der französischen Sozialdemokratie schon Anfang der siebziger Jahre zu den scharfen Kritikern der pro-arabischen Nahost-Politik der damaligen Rechtsregierungen zählte.

Als 1981 der sozialistische Präsident Fran ç ois Mitterrand die Amtsgeschäfte übernahm, verschob er jedoch die Gewichtung nur um Nuancen zu Gunsten Israels. Heute scheint für Jospin die Stunde gekommen, einen gründlicheren Kurswechsel einzuleiten.