Land auf der Flucht

Zwischen Regierungstruppen und Guerilla drohen sie aufgerieben zu werden: Flüchtende Zivilisten in Kolumbien.

Von Jahr zu Jahr steigt die Zahl der durch den Bürgerkrieg Vertriebenen in Kolumbien. Zumeist sind es Frauen und Kinder, die Zuflucht in den größeren Städten des Landes suchten. Von der Regierung haben sie wenig zu erwarten, und so sind es in erster Linie Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), die versuchen, das soziale Desaster zu mildern.

Orfilia Bol'var steht die Angst noch ins Gesicht geschrieben. Vor einer Stunde ist sie auf dem Busbahnhof von Bogotá eingetroffen, und nun sitzt die dunkelhaarige Frau im Aufnahmezentrum für Migranten und hofft auf Hilfe. Eine ihrer fünf Töchter hält sie im Arm, eine weitere schläft unter einer Decke auf ihrem Schoß. Neben ihr sitzen die beiden ältesten, die sich schüchtern in der Halle umschauen, während ihr Mann mit der fünften Tochter auf dem Arm eingenickt ist. Eine Missionsschwester bringt den Mädchen Spielzeug. Es dauert ein wenig, bis das Kind mit den verheulten Augen und dem fleckigen Sonntagskleid sich auf den gekachelten Boden setzt und mit ihrer älteren Schwester zu spielen beginnt. Beide Kinder machen einen verschreckten Eindruck.

Zwölf Stunden haben sie im Bus verbracht. Die kleine Finca, die ihr Vater Francisco bewirtschaftete, haben sie Hals über Kopf verlassen müssen. Die Kämpfe zwischen den Paramilitärs und der Guerilla waren immer näher gerückt, von beiden Seiten wurde die Familie der Kollaboration verdächtigt. Ein Verdacht, der oftmals tödlich endet, und so haben die Bol'vars ihren Hof in der Nähe von Mapiripán im Departamento Meta eiligst verlassen. Mehr als eine kleine Tasche mit einigen Habseligkeiten konnten sie nicht retten, und von dem wenigen Geld, das sie gespart hatten, ist kaum etwas übrig geblieben.

Das Warten hat ein Ende. Schwester Valdete Wilemann, Direktorin der von der katholischen Kirche vor drei Jahren gegründeten Einrichtung, bittet die Familie, sie zu begleiten. Im ersten Stock des modernen Backsteinbaus zeigt sie ihnen die sanitären Einrichtungen, das Spielzimmer für die Kinder und die frisch bezogenen Betten in den hellen freundlichen Schlafsälen. Die Bol'vars sollen sich erst einmal von den Reisestrapazen erholen. Schwester Valdete, gebürtige Brasilianerin mit deutschen Vorfahren, leitet die einzige Einrichtung für Bürgerkriegsflüchtlinge in Kolumbiens Hauptstadt. Knapp 4 000 Hilfesuchende wurden von den Schwestern im letzten Jahr aufgenommen, das sind etwa zehn Prozent der rund 40 000 Flüchtlinge, die 1998 in Bogotá Zuflucht suchten.

Die meisten von ihnen siedelten sich in den Armenvierteln im Süden der Stadt an und können von den Hilfen, die das Migrationszentrum bietet, nur träumen. »Neben der Unterkunft für die ersten Tage, erhalten die Flüchtlinge hier natürlich auch Verpflegung. Wir helfen bei der Bewältigung der bürokratischen Hürden, sorgen dafür, dass sie Papiere erhalten und stehen ihnen bei der Wohnungs- und Arbeitsuche zur Seite. Damit versuchen wir, ihnen den Start in Bogotá zu erleichtern«, sagt die Schwester mit der für Kolumbien wenig typischen Kurzhaarfrisur.

Viele der Flüchtlinge kommen nur mit dem Hemd auf dem Leib in der Hauptstadt an. Zu ihnen gehört Luis Alberto. Zeit, einen Koffer zu packen, blieb ihm nicht, aber immerhin hat er die wichtigsten Dokumente bei sich. Zum Beispiel den Lkw-Führerschein, der ihm den Start in Kolumbiens Neun-Millionen-Metropole erleichtern könnte. Der 48jährige Campesino stammt aus Morales, einer Kleinstadt im Süden der Provinz Bol'var. Er hat seine kleine Farm verlassen, weil er von den Guerilleros des Nationalen Befreiungsheers (ELN), der mit etwa 5 000 Kämpfern zweitgrößten Guerillaorganisation des Landes, bedroht wurde. »Ich konnte die vacuna, die Kriegssteuer, nicht mehr bezahlen, und daraufhin drohten mir die Guerilleros der Frente José Solano Sepœlveda mit dem Tod«, erzählt der ungewöhnlich auskunftsfreudige Mann. Paramilitärs wie Guerilla agieren landesweit, und viele Flüchtlinge haben Angst, den Grund für ihre Flucht zu benennen. Nicht so Luis Alberto. »Für uns Bauern gibt es keinen Schutz. Uns wird von keiner Seite geholfen, wir sind militärisches Ziel. Das gilt für die Guerilla, für die Paramilitärs und für die Armee. Die Streitkräfte kooperieren ohnehin mit den Paramilitärs, die kommen doch direkt aus den Kasernen, morden, erpressen und rücken wieder ein. Die sind Teil des staatlichen Apparats, von dem wir keine Hilfe zu erwarten haben«, redet er sich in Rage.

Diese Aussage wird von Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international bestätigt. Jaime Zuluaga Nieto, renommierter Politikwissenschaftler der Nationaluniversität in Bogotá, erklärt: »Die ersten paramilitärischen Organisationen wurden Anfang der achtziger Jahre im Magdalena Medio von der Armee gegründet, und Beweise und Indizien für ihre aktuelle Kooperation gibt es zuhauf«, erklärt Professor Zuluaga, dessen Spezialgebiet der seit über 30 Jahren tobende Bürgerkrieg und die Vertreibung der Zivilbevölkerung ist.

Zentrale Ursache für die steigende Zahl der Bürgerkriegsvertriebenen ist Zuluaga zufolge die Strategie der seit 1997 als »Selbstverteidigungsstreitkräfte Kolumbiens« (Autodefensas Unidadas de Colombia AUC) agierenden Paramilitärs. Die suchen weniger den direkten Konflikt mit der Guerilla, sondern greifen die Zivilbevölkerung als die vermeintlichen Unterstützer der Guerilla an. Unter demselben Vorwand werden die Leute aus strategisch wichtigen Regionen vertrieben, aus Landesteilen, wo mineralische Rohstoffe vermutet werden oder die Böden besonders fruchtbar sind.

In diesen Departamentos, vor allem in Antioqia, Bol'var, Choco oder Santander sind die Kämpfe besonders heftig. Dabei verbinden sich politische und ökonomische Interessen, der oft im Auftrag von Großgrundbesitzern oder nationalen Konzernen agierenden Paras, erklärt Zuluaga. Die Massaker der letzten zwei Jahre, die zumeist auf das Konto der Paramilitärs gehen, haben die Flüchtlingszahlen in die Höhe getrieben. Mehrere Tausend Zivilisten flohen im Juli letzten Jahres aus dem Süden des Departamento Bol'var, nachdem die Paramilitärs angekündigt hatten, das Kerngebiet der ELN von der Guerilla zu säubern, und eine ihrer größten Offensiven starteten. Luis Alberto hat damals mit ansehen müssen, wie 18 Menschen bei lebendigem Leibe von Paramilitärs verbrannt wurden. »Das war das erste Mal, dass ich daran gedacht habe, mein Land zu verlassen«, erzählt er.

Rund 58 Prozent der gewaltsamen Vertreibungen, die die unabhängige Menschenrechtsorganisation Codhes registriert hat, entfallen auf die Paramilitärs. Für 29 Prozent der Vertreibungen sind die beiden Guerillaorganisationen, die Farc (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) und die ELN, verantwortlich, während sechs Prozent auf die Streitkräfte entfallen, und die restlichen sieben Prozent der »normalen« Landflucht zugeschrieben werden, erklärt Jorge E. Reyes, der Direktor der seit 1992 bestehenden Einrichtung. Seiner Einschätzung nach agiert die Guerilla zwar weniger skrupellos als die AUC, aber die Aktionen gegen die Zivilbevölkerung haben deutlich zugenommen. So hat der Angriff der Farc, der mit etwa 15 000 Kämpfern größten Guerillaorganisation, auf die Stadt Mitœ im Departamento Vaupes die Flucht von 1 000 Zivilisten ausgelöst.

Auch aus der entmilitarisierten Zone, wo die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Farc stattfinden, hat Codhes eine Zunahme der Flüchtlingszahlen festgestellt. Öffentliche Proteste löste hingegen die Sprengung einer Erdölpipeline bei Machuca im Oktober letzten Jahres durch die ELN aus. 75 Zivilisten wurden bei der Aktion, die von der ELN als »gravierender Irrtum« bezeichnet wurde, getötet. Einige Hundert Zivilisten flohen daraufhin aus dem Departamento Antioquia. »Internationale Normen werden von den kriegsführenden Parteien de facto nicht akzeptiert, und das Ziel unserer Arbeit ist es, die soziale Tragödie der Vertreibung sichtbar zu machen. Damit helfen wir den Vertriebenen indirekt, indem wir mit unseren Ergebnissen Druck auf die Regierung und die Konfliktparteien und die Öffentlichkeit herstellen«, sagt der Sozialwissenschaftler.

Laut den Statistiken von Codhes hat sich die Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge von 1995 (89 000) bis 1998 (308 000) mehr als verdreifacht. Noch fehlen die Angaben für 1999, durch die Verschärfung des Konflikts muss jedoch mit einer weiteren Zunahme gerechnet werden. Verschärft hat sich auch die Situation im Departamento Norte de Santander, das direkt an Venezuela grenzt und wo die Intensität der Kämpfe zwischen Paramilitärs und Einheiten der Farc und der ELN zugenommen hat.

Maria Daisy stammt aus dem Departamento und hat ihre Farm bei El Tibœ, unweit der Grenze, fluchtartig mit ihrer Familie verlassen. Jahrelang hatten sie Kriegssteuer, die vacuna, bezahlt, um ihre Ruhe zu haben. Doch damit war es Anfang vergangenen Jahres vorbei. »Meine beiden ältesten Söhne sind 17 und 19 Jahre alt, und immer wieder kamen bewaffnete Gruppen auf unsere Finca und wollten sie für den Krieg einziehen«, sagt die 39jährige Frau. Sie ist sich bis heute nicht sicher, ob es die Guerilla oder die Paramilitärs waren, die ihre Söhne zwangsrekrutieren wollten, denn »man kann sie ja nicht fragen«. Allerdings kommen Zwangsrekrutierungen durch die Guerilla eher selten vor. Nachdem die Bewaffneten ihren Mann schlugen und schließlich folterten, ließ sie ihre Söhne aus dem benachbarten Venezuela, wo sie zur Schule gingen, kommen und floh mit der gesamten Familie nach Bogotá. Durch Zufall erfuhren sie vom Aufnahmezentrum, ohne dessen Hilfe der Start in ein neues Leben in Bogotá sehr viel schwieriger geworden wäre.

Unterstützung von der Regierung haben die auf Hilfe hoffenden Flüchtlinge kaum zu erwarten. So bleibt es vor allem der katholischen Kirche sowie den nationalen und internationalen NGOs überlassen, Hilfe zu organisieren. »Zwar arbeiten wir mit den staatlichen Stellen zusammen, doch mehr als punktuelle Aktionen der Regierung hat es noch nicht gegeben«, sagt Luis Alberto G-mez von der schwedischen Hilfsorganisation Diakonia. Seit dreißig Jahren arbeitet die von der evangelischen Kirche gegründete NGO in Kolumbien, und seit Ende der achtziger Jahre liegt ein Schwerpunkt auf der Unterstützung der Bürgerkriegsflüchtlinge. Die Diakonia ist mit ihren Projekten vor allem an der Karibikküste, in Cartagena und Barranquilla, präsent und wird von Echo, der humanitären Hilfsorganisation der Europäischen Union, finanziell unterstützt.

Nach Ansicht von G-mez, der die Flüchtlingsprojekte koordiniert, fehlt es der Regierung am politischen Willen, sich dem Flüchtlingsproblem wirklich anzunehmen. Zwar hat Präsident Andrés Pastrana sich offiziell zu dem Problem bekannt, das Gesetz Nummer 381 verabschiedet sowie ein Büro für Flüchtlingsangelegenheiten eröffnet, aber weiter ist nichts passiert, betont Danilo Rueda, von der katholischen Menschenrechtsorganisation Justicia y Paz.

»Einen Fonds, um den Flüchtlingen zu helfen, gibt es ebenso wenig wie Möglichkeiten, mit rechtlichen Schritten etwas zu bewirken. Die Straflosigkeit bzw. die Gewissheit, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht belangt zu werden, ist eine große Hürde. Eine elementare Frage ist es, wie sich ein tragfähiges Justizsystem überhaupt aufbauen lässt, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen«, sagt G-mez. Das Ende der Gewalt sei die Voraussetzung für die Rückführung der rund 1,5 Millionen Flüchtlinge in Kolumbien. »Uns geht es darum«, so Gomez, »wie man beispielhafte Rückführungen durchführen kann, denn es ist angesichts der Wirtschaftskrise unrealistisch, dass die Flüchtlinge in der Stadt ihr Auskommen finden.«

Familie Bol'var hat Glück gehabt. Francisco Bol'var arbeitet mittlerweile als Wachmann, mit seinem Gehalt kommt die siebenköpfige Familie gerade so über die Runden. Das Aufnahmezentrum hat ihm den Fortbildungskurs bezahlt, und die Schweizer Caritas hat die Familie mit Kleidung und den nötigsten Küchenutensilien für die eigene Wohnung im Süden Bogotás ausgestattet. Zurück nach Mapiripán wollen sie vorerst nicht.