Über das »Potsdamer Toleranzedikt«

Egal, wenn er doof ist

Die städtische Imagekampagne »Potsdamer Toleranzedikt« dehnt einen Begriff ins Unerträgliche.

Schlendert man dieser Tage durch den Potsdamer Hauptbahnhof, kann man neben den üblichen jahreszeitlich abgestimmten Nepp- und Einkaufs­ständen ein Plakat mit einer drolligen Kinderzeichnung sehen. In krakeliger Kinderschrift steht auf diesem der folgende, insgesamt überzeugende Satz inseriert: »Tolleranz ist wichtig weil egal wenn er doof oder gut ist gehört er zum Leben.«
Selten habe ich so Wahres, Schönes und Gutes gelesen über diesen ganzen Toleranzzirkus. Kindermund eben. Gewöhnlich wagen es die damit Befassten nicht, offen zu bekennen, dass ihr Geschwätz auf eine vollkommen willkürliche Nullaussage hinausläuft, die dementsprechend für und gegen alles verwandt werden kann. Interessant deswegen, dass sie es, durch Kinderhandschrift entstellt, auf ihre Plakate drucken. Ist das schon Freud oder ist das noch Dummheit? Und wer steckt hinter so etwas?

Ich habe nachgesehen, drum weiß ich’s nun: Es ist das »Potsdamer Toleranzedikt«. Das ist eine Veranstaltung, die sich, ausweislich ihrer Präambel, auf das historische Edikt von Potsdam aus dem Jahre 1685 bezieht, in dem der damals für Regierungsdinge zuständige Friedrich Wilhelm von Brandenburg den in Frankreich verfolgten Hugenotten Glaubensfreiheit und wirtschaft­liche Privilegien garantierte, sollten sie sich zu einer Umsiedlung ins graue Brandenburg bewegen lassen. Grund für den Erlass dürfte neben dem Calvinismus des Kurfürsten wirtschaftliches Kalkül gewesen sein: Das von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges besonders schwer betroffene Brandenburg benötigte dringend neue Arbeitskräfte, die die Schafe hüten und ihre Wolle spinnen sollten, nachdem die Bevölkerung in ein­zelnen Regionen zu annähernd 90 Prozent dahingerafft worden war. Die Rechnung ging auf, etwa 20 000 Hugenotten vertauschten die sonnigen Auen Frankreichs mit den weniger sonnigen Brandenburgs, die Zahl der Einwohner Berlins stieg um etwa ein Drittel an, Preußen konnte wachsen und gedeihen, und den Rest kennen wir ja.
Was hat das alles mit dem brandaktuellen neuen »Potsdamer Toleranzedikt« zu tun? Haben etwa Vertreter des Landes beschlossen, re­ligiösen oder anderen Minderheiten Brandenburg schmackhafter zu machen, indem sie ihnen dort Sonderrechte einräumen – Steuerbefreiung für Schwarze, Subventionen für schwullesbische Unternehmen, Verbeamtung von Imamen? Eine gründliche Recherche ergab: nein. Dennoch liegt der Zusammenhang zwischen dem historischen Vorbild und seiner jüngsten Variante in der wirtschaftspolitischen Motivation. Das neue »Toleranz­edikt« beklagt einleitend, dass Brandenburg nach den unseligen fremdenfeindlichen Übergriffen der neunziger Jahre ein »in den Augen der Öffent­lichkeit kompromittiertes Land« gewesen sei, dessen Tourismusverband in einer Untersuchung herausgefunden habe, dass »sieben Prozent der­jenigen, die als Touristen gerne nach Brandenburg kommen würden, dem Land fernbleiben, weil sie Angst vor Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit haben. Das bedeutet jährlich einen Verlust von 42 Millionen Euro.« Und das geht natürlich nicht.
Also fand man sich zum »Potsdamer Toleranz­edikt« zusammen, nicht etwa, um neue, nie gekannte Formen von Toleranz zu sponsern, sondern um alte, ohnehin schon gesponserte Formen von Toleranz noch ein bisschen bekannter zu machen. In Hinblick auf die im Lande unternommenen Anstrengungen, das Nazi-Schmuddel­image endlich loszuwerden, heißt es folgerichtig: »Das neue Toleranzedikt hat den Sinn, diese vielfältigen Aktivitäten bekannter zu machen und in einen Zusammenhang zu stellen, der Orien­tierung ermöglicht.«
Und während alle Aktivitäten in einen Zusammenhang gestellt werden, der eine Orientierung auf Brandenburg ermöglicht, geht es im letzten Teil des Edikts unter der Überschrift »Selbstverpflichtungen als Informationen, Anregungen und Anknüpfungspunkte« so richtig zur Sache. Wobei ich es wiederum gut, achtbar und ehrlich finde, dass die Worte deutlich machen, dass es eben nicht darum geht, sich etwa auf bestimmte Verhaltensweisen in konkreten Situa­tionen festzulegen, sondern eben um »Informationen« oder »Anregungen«, vielleicht auch um »Anknüp­fungspunkte«, wer weiß das schon so genau.
Unterschrieben und sich auf Toleranz und also Duldsamkeit gegenüber was auch immer verpflichtet hat eine bunte Mischung aus gemeinnützigen Vereinen, Forschungsinstituten und wirtschaftlichen Interessengruppen. So stehen neben dem Verein »Opferperspektive Brandenburg«, der Opfer rechtsextremer Gewalttaten unterstützt und dem außer der Teilnahme an eben diesem Humbug nicht viel vorzuwerfen ist, Ins­titutionen wie die Rewe-Markt Siegfried Grube oHG, die eine dem Duden unbekannte Definition von Toleranz auffährt (»Toleranz heißt auch, sich einbringen«) und erklärt, in welchem Bereich sie gedenkt, sich einzubringen: nämlich beim Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam, die, bevor sie 1945 vollständig ausbrannte und später auf Geheiß der SED-Führung gesprengt wurde, als ein Symbol des preußischen Militarismus bekannt war, dem hierzulande ja tatsächlich viel zu wenig Toleranz entgegengebracht wird.
Nicht allzu überrascht nimmt man hernach zur Kenntnis, dass auch die »Fördergesellschaft für den Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam« eine Selbstverpflichtung beigesteuert hat, sie will nämlich »in Erinnerung an den staatlichen Willkürakt der Sprengung der Garnisonkirche« nicht nur »alle Motive ihrer Mitglieder und Mitarbeiter für den Wiederaufbau der Garnisonkirche achten«, sondern darüber hinaus noch »die Auseinandersetzung mit den Kritikern und Gegnern des Wiederaufbaus weiterhin fair und respektvoll führen«, was ich fast schon ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen finde, schließlich darf so ein Verein vor lauter Toleranz ja nicht handlungsunfähig werden am Ende.
Gut passt auch das Engagement der »F.C. Flick Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz« in diesen Reigen. Entsprechend ihrem Gründungsgedanken verpflichtet sich diese, »im Gedenken an die Opfer und Überlebenden des nationalsozialistischen Terrorregimes, denen durch Menschenrechtsverletzungen schweres Unrecht zugefügt wurde«, nicht etwa zu so profanen Dingen wie Zahlungen an überlebende Opfer beispielsweise der Zwangsarbeit in den Betrieben von Großvater Friedrich Flick, sondern dazu, der »Intoleranz und der Fremdenfeindlichkeit, dem Rassismus und der Gewalt von Jugend­lichen in Deutschland entgegenzuwirken«, was vermutlich auch billiger ist.
Toleranz kann vieles sein, lernen wir, und scha­den tut ein Bekenntnis zu ihr im Zweifel erst mal nichts, vielleicht macht es sich sogar bezahlt. Nach der Lektüre des unglaublichen Wustes an verheuchelten Floskeln, die den größten Teil der kostenlos erhältlichen Broschüre zukleistern, freut man sich wiederum über einige ebenfalls abgedruckte Schülerarbeiten zu dem Thema. Weil Kinder bis zur siebten Klasse den einschlägigen Toleranzjargon offensichtlich nur unzureichend beherrschen, schreiben sie so hübsche Sachen wie: »Ich wünsche mir von einer toleranten Stadt Potsdam, dass … man sich Gesundheit sagt, wenn jemand niest.« Eben: Toleranz ist immer auch die Toleranz gegenüber den Erkälteten.