Ein Trotzki kommt selten allein

In Frankreich kandidieren zwei ehemalige 68er Rebellen für das EU-Parlament - unter gegensätzlichen Vorzeichen

Er verteidigt gerne die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, begrüßte euphorisch die Einführung des Euros und hat auch nichts dagegen einzuwenden, das Recht auf Immigration in jährlichen Quoten festzulegen. Es wundert also wenig, daß sich in französischen Umfragen vor allem leitende Angestellte über 50 zu den begeisterten Anhängern von Daniel Cohn-Bendit zählen. Viele von ihnen haben ihre Karriere als junge Rebellen begonnen, die während der sechziger Jahre die Starrheit des "Systems" beklagten - in dem sie später bequem ihren Platz gefunden haben.

Cohn-Bendit hat aber auch im intellektuellen Milieu Unterstützer gefunden, allen voran die Professoren Alain Touraine und Edgar Morin sowie der Philosoph André Glucksmann - bei jenen Angehörigen einer selbsternannten "modernen Linken" also, die im Streikherbst 1995 die soziale Bewegung als "konservative Besitzstandswahrung" geißelten.

So erklärte Alain Touraine im Wochenmagazin L'ƒvénement seine Sympathien für die Kandidatur Cohn-Bendits und charakterisierte die Gegner dieses Politikstils folgendermaßen: "Man kann kein modernes Frankreich mit archaischen Leuten machen." Auch der Soziologe Edgar Morin hat sich dem Lob Cohn-Bendits angeschlossen und einen Beitrag für Cohn-Bendits Wahlkampfschrift Numéro unique versprochen.

Morin ist Vorsitzender einer "Vereinigung für komplexes Denken", wobei die große Komplexität dieses Denkens in der beständig wiederholten Affirmation besteht, die heutige Welt sei furchtbar kompliziert und verbiete daher "einfache Lösungen", wie etwa jene, die grundlegenden Eigentums- und Produktionsverhältnisse der Gesellschaft verändern zu wollen.

Daß die ehemaligen Köpfe der Studentenbewegung nicht notwendigerweise als Galionsfiguren der Modernisierung enden müssen, zeigen jedoch die unterschiedlichen Biographien von Daniel Cohn-Bendit und Alain Krivine. Während Cohn-Bendit heute grüner "Realpolitiker" und "Modernisierer" ist, kandidiert Krivine im Juni 1999, zur gleichen Zeit wie Cohn-Bendit, an der Spitze einer Liste zum Europaparlament. Doch hier endet die Parallele zwischen Cohn-Bendit und Alain Krivine auch schon.

Der 57-jährige Krivine, 1965 wegen "Linksabweichlertums" aus der Studentenorganisation der französischen KP ausgeschlossen, ist derzeit "zweiter Spitzenkandidat" einer linksradikalen Bündnisliste. Platz eins ist dabei für die frühere Präsidentschaftskandidatin Arlette Laguiller reserviert. Hinter dieser Kandidatur stehen die beiden wichtigsten Gruppen der französischen radikalen Linken, die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und Lutte Ouvrière (LO). Zum ersten Mal seit 1979 treten die beiden marxistischen Gruppen gemeinsam zu einem Urnengang an.

Das Bündnis der zwei trotzkistischen Gruppen, die jeweils über 1 500 bis 2 000 Aktivisten verfügen, ist alles andere als selbstverständlich. Tatsächlich unterschieden sich in der Vergangenheit die beiden Organisationen erheblich. Während die LCR unter Krivine, die aus der Studentenbewegung heraus entstand, auf vielen politischen und sozialen Bereichen aktiv war, wurden diese Tätigkeiten von LO lange Zeit als "kleinbürgerlicher" Luxus abgetan.

LO ging in den frühen vierziger Jahren aus einer Abspaltung von anderen trotzkistischen Gruppen hervor. Angesichts der damaligen Hegemonie der stalinistisch geprägten KP drängten die LO-Gründer darauf, ihren intellektuellen Charakter abzulegen und sich in eine rein proletarische Organisation zu verwandeln. Noch in den letzten Jahren konzentrierte LO sich vor allem auf Lohn- und Arbeitskonflikte, während Themen wie Antirassismus häufig als störend empfunden wurden.

Zwar öffnet sich LO unter dem Druck eines breiteren Publikums, das sie bei Wahlen ansprechen konnte, seit kurzem gegenüber anderen sozialen Bewegungen und taucht seit anderthalb Jahren in den Mobilisierungen zugunsten der Sans-papiers ("illegale" Immigranten) auf. Im Inneren der nach außen hin sehr abgeschlossenen und teilweise sektenhaft funktionierenden Organisation dürften diese "neuen" Themen jedoch noch wenig Beachtung gefunden haben.

Auch wenn es zunächst paradox klingt, so hatte dennoch die LO in den vergangenen Jahren bei Wahlen stets die Nase vorn. Mit 5,3 Prozent (und 1,6 Millionen Stimmen) bei der Präsidentschaftswahl 1995 liegt LO deutlich vor der Gruppe um Alaine Krivine, die bei ihren (seltenen) Wahlkandidaturen durchschnittlich meist rund 1,5 Prozent der Stimmen erzielt. Ein Grund für diesen relativen Erfolg liegt darin, daß die LO seit 25 Jahren regelmäßig bei Wahlen präsent ist. Die LCR trat hingegen in diesem Zeitraum häufig entweder erst gar nicht zu Wahlen an oder unter anderen Listentiteln.

Die Verbindung mit der LO warf für die Ligue Krivines große interne Probleme auf, da die beiden Organisationen sich jahrelang als Gegenmodell zur jeweils anderen aufgebaut hatten. Ende Januar sprachen sich dennoch 78 Prozent der LCR-Mitglieder in einer Urabstimmung für die gemeinsame Liste aus; rund die Hälfte dieser Stimmen stammten von anfänglichen Skeptikern, die sich lediglich von dem Argument überzeugen ließen, eine gemeinsame Liste könne künftig auch als Druckpotential gegenüber der KP und den Grünen benutzt werden. Die gewöhnlich disziplinierten MitgliederInnen der LO hatten weniger innere Beschlußprobleme; in ihren Reihen sprachen sich zur selben Zeit 95 Prozent für die gemeinsame Liste mit der LCR aus.

In den Umfragen schwankt die Anhängerschaft der gemeinsamen Liste derzeit zwischen vier und acht Prozent. Sollten sich diese Werte auch bis zu den Europaparlamentswahl halten, könnte sie damit möglicherweise die derzeitige Orientierungskrise der französischen KP erheblich verschärfen.