Im Sog des Konstruktiven

Auf ihrem Gewerkschaftskongreß in Strasbourg suchte die kommunistische CGT nach einer neuen Orientierung

Trillerpfeifen und Nebelhörner ertönen, Eisenbahner werfen mit Konfetti und der Schlachtruf des Herbstes 1995 - "Tous ensemble, tous ensemble" (alle zusammen) - wird aus über 1 000 Kehlen skandiert. Aber wir befinden uns nicht auf einer Demonstration, sondern auf dem Gewerkschaftstag der KP-nahen CGT. Und eben wurde der Name des neuen Generalsekretärs bekanntgegeben: Bernard Thibault, bisher Chef der Eisenbahnergewerkschaft der CGT. Bereits im Juli 1998 war er vom Bureau confédéral, dem obersten Führungsgremium, zum Nachfolger von dem alten CGT-Generalsekretärs Louis Viannet bestimmt worden. Zunächst gegen Thibaults Willen, und Viannet mußte harte Überzeugungsarbeit leisten, um den 40jährigen, der im Alter von 15 Jahren in eine Lehre als Mechaniker bei der Bahngesellschaft SNCF eingetreten war, für das Amt zu gewinnen.

Der langhaarige und unkonventionell auftretende Thibault, "Star" der Streikwelle in den öffentlichen Diensten im November und Dezember 1995, steht vor einer schwierigen Aufgabe: Die "Wandlung" der CGT "von der reinen Protestgewerkschaft zu einer konstruktiv-kritischen Kraft" - wie es Viannet definierte - voranzutreiben. Und jene Teile der Basis zu beruhigen, die "zu viel Kompromißlerei" befürchten.

Die Confédération Générale du Travail (Allgemeiner Arbeiterverband) hat vom Sonntag vorletzter bis zum Freitag vergangener Woche in der Konzert- und Kongreßhalle von Strasbourg ihren 46. Kongreß abgehalten. Im Jahr 1895 als sozialistische Arbeiterorganisation gegründet, ist die CGT die älteste der französischen Richtungsgewerkschaften. Den Rang als Nummer eins macht ihr in letzter Zeit die früher links-undogmatische, heute eindeutig sozialliberal orientierte CFDT (Französischer demokratischer Arbeiterverband) streitig: Die CFDT beziffert ihre Mitgliederzahl offiziell mit 730 000, während Kritiker aus den eigenen Reihen eher von 530 000 ausgehen.

Die CGT verfügt nach kaum bestrittenen Angaben über etwas mehr als 653 000 Mitglieder, Rentner eingeschlossen. Auf den ersten Blick nicht viel gegenüber mehr als fünf Millionen Mitgliedern in den Jahren nach der Befreiung von den Nazis 1944, von denen im Mai 1968 noch immer 2,3 Millionen übrig waren. Sicher hat der Untergang des sowjetischen "Modells", an dem sich die französische KP bis in die späten achtziger Jahre orientierte, zu diesem quantitativen Niedergang beigetragen. Aber der gewerkschaftliche Organisationsgrad der französischen Beschäftigten ist mit gegenwärtig neun Prozent ohnehin der niedrigste in der gesamten EU.

Seit 1992 konnte der Mitgliederrückgang der CGT jedoch gestoppt und seit dem Streikjahr 1995 sogar wieder umgedreht werden. Gegenüber der KP, die ebenfalls nach einer neuen Orientierung sucht, hat die CGT seit einigen Jahren "die Nabelschnur durchtrennt", wie es Thibault ausdrückt. Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten seit Juni 1997 hat das Autonomiestreben der CGT noch beschleunigt.

Das Verfechten eines vermeintlich fertigen, alternativen Gesellschaftsmodells und der vermeintliche Einblick in die "Gesetzmäßigkeiten der Geschichte" gehören nun aber eindeutig der Vergangenheit an. Ähnlich wie die französische KP öffnet sich die CGT demonstrativ und mitunter fast krampfhaft, um aus den sozialen Bewegungen Impulse für ein neues Gesellschaftsprojekt zu gewinnen. Und genau wie in "der Partei" führt dies zu widersprüchlichen Entwicklungen: Linksalternative Bewegungspolitik und sozialdemokratisch anmutender Pragmatismus koexistieren hier ebenso wie einige versprengte "orthodoxe" Elemente, die gegen "reformistische Aufweichung und Verrat" protestieren, während sich die offizielle Sprache um "Modernität" bemüht.

Die Delegierten in Strasbourg, fast verwirrt von einem so pluralistischen Angebot, zeigen sich bereit, in kurzen Zeitabständen gegensätzlichen Initiativen und Äußerungen zu applaudieren. So wird das Engagement der CGT für die Sans-papiers - die "illegalen" Immigranten, die um ihr Bleiberecht kämpfen - einhellig bekräftigt. Mit scharfen Worten protestiert der Kongreß gegen die Strafverfolgung von Michel Beurrier, CGT-Bezirksvorsitzender in Clermont-Ferrand, dem wegen angeblicher Fluchtbegünstigung für einen Sans-papiers nun eine Haftstrafe droht. Heftigen Applaus erhält eine Vertreterin der CGT-Arbeitslosenkomitees für ihre Aussage zu Besetzungsaktionen von Erwerbslosen und kollektive Gratiseinkäufe in Supermärkten: "Es ist legitim, kollektiven Ungehorsam zu praktizieren und in der Illegalität zu handeln."

Viel Beifall erhält aber auch Nicole Notat, die sozialliberale CFDT-Chefin, die sich 1995 gegen die Streiks gestellt hatte. Zuvor hat es jedoch eine Ermahnung gegeben, Notat bloß nicht auszupfeifen. Denn die offizielle "Annäherung" zwischen CGT und CFDT ist die Voraussetzung dafür, daß die CGT - 20 Jahre nach ihrem ersten Antrag auf Aufnahme - in diesem Jahr endlich in den Brüsseler Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) aufgenommen wird, als letzte große westeuropäische Gewerkschaft und lange nach der CFDT.

Das traditionelle Kräftespiel in der Arbeitswelt Frankreichs sah in der Regel so aus: die "reformistischen" Gewerkschaften, beispielsweise die CFDT oder Force Ouvrière, unterzeichneten Tarifabschlüsse und erreichten damit einige Verbesserungen für die Beschäftigten, die "sozialen Frieden" schaffen sollten. Die CGT hingegen denunzierte diese Abkommen. Für beide Seiten war dieses Prozedere mit Vorteilen verbunden: Die Opposition der CGT als stärkster Organisation verschaffte den anderen Gewerkschaften das Druckpotential, um in den Verhandlungen vorwärtszukommen.

Doch in jüngster Zeit hat sich die Ausgangslage gründlich geändert: Durch Massenarbeitslosigkeit und Strukturwandel hat sich das Kräfteverhältnis gewandelt, für Abschlüsse bedarf es zunehmend größerer Kompromißbereitschaft und Gegenleistungen der abhängig Beschäftigten.

Mit einem neuen "Pragmatismus" zeigt sich die CGT bereit, sich partiell in das Verhandlungssystem zu integrieren, um Schlimmeres zu verhindern. In einigen Fällen hat die CGT bereits Abkommen mit der Kapitalseite unterstützt. Das erweist sich bei den laufenden Verhandlungen über die Umsetzung der gesetzlichen Vorschriften zur 35-Stunden-Woche: Nach dem Willen der Regierung sollen dazu dezentrale Kompromisse zwischen Kapital und Arbeit - etwa: Arbeitszeitverkürzung gegen Flexibilität - geschlossen werden (Jungle World, Nr. 2/99). Acht von insgesamt 40 Branchenabkommen, die bisher zwischen Gewerkschaften und Kapitalvertretern zur 35-Stunden-Woche abgeschlossen wurden, tragen die Unterschrift der CGT.

In Strasbourg beantragen zwar einige Delegierte - hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, vom "orthodoxeren" Flügel -, daß die Confédération keine Abkommen mit Klauseln zur annualisation, zur Einrichtung von Jahres-Zeitkonten zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten, unterschreiben dürfe. Doch die Tagungsleitung bügelt diese Vorstöße mit der Begründung ab, für Millionen Beschäftigte sei diese annualisation längst Realität: "In diesen Fällen ist es realistischer und mobilisierungsträchtiger, für kollektive Garantie zugunsten der Beschäftigten zu streiten, die der Willkür engste Grenzen setzen."