Interview mit der Soziologin Jenny Chan über chinesische Arbeitskämpfe

»Fast täglich kommt es im Süden Chinas zu wilden Streiks«

Zwischen Juni und September befragte die Organisation Sacom (Students and Scholars against Corporate Misbehaviour) aus Hongkong 45 Arbeiter über die Arbeitsbedingungen in zwei chinesischen Fabriken, in denen Computerteile für die größten IT-Unternehmen der Welt wie Fujitsu-Siemens, IBM und Dell hergestellt werden. Die Ergebnisse der Studie »The Dark Side of Cyber­space« wurde vergangene Woche gemeinsam mit der Berliner Organisation Weed (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung) veröffentlicht. Jenny Chan ist Vorsitzende von Sacom.

Welchen Eindruck haben Sie von den Arbeitsbedingungen in der Computerindustrie Chinas gewonnen?

Einen äußerst schlechten. Wir haben die Situa­tion in den Fabriken des Pearl River Delta untersucht, der Region im Süden Chinas, die das bedeutendste und modernste Wirtschafts- und Produktionszentrum des Landes darstellt.
Es sind vor allem zwei Punkte, die wir mit unserer Studie hervorheben wollen. Viele Leute glauben, es sei gefährlicher, in einer Schuh- oder Textilfabrik zu arbeiten, als elektronische Teile zusammenzubauen. Doch das ist ein Irrglaube. Vor allem in den Fabriken, in denen Leiterplatten für Computer hergestellt werden, sehen wir landesweit die größten Probleme, was die Gesundheit und den Schutz von Arbeitern betrifft. Diese müssen dort ohne adäquate Schutzvorkehrungen in geschlossenen Räumen ohne Belüftung mit gefährlichen und giftigen Chemikalien hantieren, viele von ihnen haben deswegen Haut­allergien und ständige Kopfschmerzen.
Der zweite Aspekt, den wir besonders skandalös finden, ist die unterbezahlte Arbeit und die unbezahlten Überstunden, die in den Fabriken der IT-Branche üblich zu sein scheinen. Teilweise erhalten die Arbeiter nicht einmal den gesetzlich vor­geschriebenen Mindestlohn, geschweige denn die ebenfalls gesetzlich geregelten Sonderzulagen für die Arbeit an Wochenenden und Feiertagen, teil­weise müssen die Arbeiter wochenlang ohne einen freien Tag arbeiten.
Die großen multinationalen Konzerne wie HP, Dell oder Fujitsu-Siemens machen mit der Ausbeutung der Arbeiter größte Profite, doch die Arbeiter werden daran nicht beteiligt.

Wie reagieren die Unternehmen auf Ihren Bericht?

Gar nicht, obwohl wir ihnen unseren Bericht vor der Veröffentlichung zugeschickt haben, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Stellung zu unseren Be­funden zu nehmen. Zu einem früheren Zeitpunkt, als wir die Unternehmen anschrieben, damit sie uns sagen, mit welchen chinesischen Zulieferbetrieben sie zusammenarbeiten, haben uns Fujitsu-Siemens, Dell und Sony bestätigt, dass sie mit Excelsior Electronics aus Dongguan beziehungsweise Compeq Technology aus Huizhou kooperieren, den beiden Unternehmen, in denen wir unsere Studien gemacht haben. Intel hat eine Zusammenarbeit bestritten, obwohl auf der Homepage von Excelsior auch Intel als Partner angegeben ist.

In China wird von immer mehr Arbeiterstreiks und -demonstrationen berichtet. Wehren sich auch die Arbeiter der IT-Industrie gegen die Arbeitsbedingungen?

Landesweit nimmt der Protest von Arbeitern seit Mitte der neunziger Jahre zu. Inoffiziellen Zahlen zufolge findet im Pearl River Delta jeden Tag min­destens ein Streik statt, an dem mehr als 1 000 Arbeiter beteiligt sind. Mittlerweile wird in den Werkshallen der IT-Fabriken derart oft zu spontanen Streiks und Demonstrationen aufgerufen, dass einige Leute von täglichem Widerstand und wilden Streiks in der Region sprechen. Da ist also durchaus eine Kraft vorhanden, die um die Rechte der Arbeiter kämpft und den Druck auf die Regierung erhöht, weitere und bessere Arbeitsgeset­ze zu erlassen. So ist beispielsweise seit dem 1. Januar ein Gesetz über Arbeitsverträge in Kraft, auch das kann als ein Ergebnis des Drucks gewertet werden, der von den massiven Arbeiterpro­testen in den vergangenen Jahren ausging.
Es sind aber nicht nur die Arbeiter im Süden, sondern auch die Arbeiter der staatlichen Betriebe im Norden, Taxifahrer, Hausangestellte oder Trans­portarbeiter, die auf die Straße gehen. 87 000 Arbeiterproteste wurden allein im Jahr 2005 gezählt.

Was aber bringen Gesetze, wenn sich die Unter­nehmen nicht daran halten?

Die Statistiken der Gerichte und Schiedskomitees belegen, dass eine wachsende Anzahl von Kla­gen wegen illegaler Kündigungen, Unterbezahlung oder überhaupt keiner Entlohnung eingereicht wird. Das alles sind deutliche Hinweise darauf, dass sich die Arbeiter immer mehr gegen die Ausbeutung wehren. Aber es ist natürlich rich­tig, nur ganz selten kommt es dazu, dass eine Kla­ge auch Erfolg hat. Dazu kommt, dass viele berechtigte Klagen gar nicht erst von den Gerichten angenommen werden. Denn, wie hin und wieder Zeitungen kommentieren, die Rechte der chinesi­schen Arbeiter enden vor der Tür der Gerichte. Vor allem gegenüber den Wanderarbeitern ist die Justiz äußerst unfair. Sie versucht alles, um die­se Leute daran davon abzuhalten, gegen ihren Ar­beitgeber zu klagen.
Die Wanderarbeiter stellen den größten Teil der Arbeiter in den IT-Fabriken im Süden. Sie sind gleichzeitig diejenigen, für die es am schwierigsten ist, ihre Rechte zu verteidigen. Denn ihnen fehlt das Geld, um Monate oder gar Jahre auf eine Entscheidung des Gerichts zu warten, wenn sie ihren Job verlieren. Sie müssen die Stadt verlassen, um sich woanders einen neuen Job zu suchen.

Würden Sie trotzdem sagen, dass sich die Justiz in China zunehmend von der Herrschaft der Partei unabhängig macht?

Im Allgemeinen entwickelt sich das Rechtssystem zum Besseren; in China spricht man, angelehnt an die Kultur- oder Arbeiterrevolution, sogar von der Gesetzesrevolution. Allerdings klafft immer noch eine große Lücke zwischen dem geschriebe­nen Gesetz und der Realität. Die Justiz agiert vor allem nicht unabhängig von den einflussreichen multinationalen Unternehmen, gerade in Gegenden wie dem Pear River Delta. Dort haben Lokalpolitiker kein Interesse daran, dass ihre Gerichte die großen Unternehmer verklagen. Die Richter wer­den korrumpiert, es gibt kaum eine Gerichtsverhandlung, in die große Unternehmen involviert sind, bei der die Richter unabhängig entscheiden.

Unterscheiden sich die Arbeitsbedingungen in den staatlichen Fabriken von denen in den multinationalen Konzernen?

Es gibt staatliche Unternehmen, etwa im Banken­bereich, in denen die Arbeitsbedingungen relativ gut sind. Aber mit der Privatisierung werden immer mehr Subunternehmen gegründet und Arbeiter mittleren Alters entlassen, sodass Arbeiter- und Rentnerproteste auch gegen staatliche Betriebe auf der Tagesordnung sind.

Wie verhält sich die Regierung gegenüber diesen Protesten?

Wenn Arbeiter aus staatlichen Betrieben im Norden des Landes demonstrieren, wird ihnen recht oft und recht schnell eine Entschädigung gezahlt oder ein monatlicher Zuschuss, damit diese Leute bloß von der Straße verschwinden. Im Süden sieht das anders aus, da geht die Polizei auch schon mal härter vor. Es ist allerdings eine neue Generation von Arbeitern herangewachsen. Das sind jene Leute, die in den achtziger Jahren geboren wur­den und die nicht mehr alles schlucken und sich wegducken wollen. Sie sind bereit, offen über ihre Situation zu reden, für ihre Rechte zu kämpfen, und suchen dabei Unterstützung.

Finden sie die bei den Gewerkschaften?

Die Gewerkschaft ist die einzige legale Möglichkeit in China, um sich als Arbeiter zu organisieren. Jede unabhängige Organisierung ist verboten. Aber die chinesische Gewerkschaft ist vor allem um das ökonomische Wohl und die soziale Stabilität des Landes bemüht und setzt sich äußerst selten für die Interessen der Arbeiter ein. Die Gewerkschaft stellt sich nicht gegen IBM, HP oder Dell. Sie konfrontiert diese Unternehmen nicht mit den Zuständen in den Fabriken, in denen ihre Produkte hergestellt werden. Das machen nur NGO, die wie unsere vor allem aus Hongkong stam­men. In Form von Rechtsberatungen und anderen Schulungen helfen diese Gruppen den Arbeitern dabei, ihre Rechte besser kennen zu lernen und eine Form von Organisierung aufzubauen, oh­ne dabei kriminalisiert zu werden.

Sind Sie jemals in Ihrer Arbeit behindert worden?

Bislang nicht. Aber wir verhalten uns auch strategisch. Weder rufen wir zum Streik auf, noch kritisieren wir die Einparteienherrschaft, sondern erinnern die Unternehmen einfach daran, dass sie sich an die Gesetze halten sollen. So können wir über Kampagnen und Berichte Studenten und Konsumenten darauf aufmerksam machen, unter welchen Bedingungen ihre schicken Laptops hergestellt werden, und damit gleichzeitig eine Unterstützung für den Ausbau der Rechte der Arbeiter gewinnen.
Selbstverständlich ist es immer heikel, öffentlich darauf hinzuweisen, dass es Sweatshops in China gibt. Doch bislang haben unsere Aktivitäten gemeinsam mit den Protesten der Arbeiter nur dazu geführt, dass die Regierung immer weiter unter Druck gerät und neue Gesetze und Vorschriften erlassen muss.

www.sacom.hk
www.pcglobal.org
www.weed-online.org