Zum 200. Geburtstag von Charles Darwin. Sechs Thesen zum Kampf ums Dasein

Kein Platz für Gott

Vor 200 Jahren, am 12.Februar 1809, wurde Charles Darwin geboren. Vor 150 Jahren begründete der britische Naturforscher die moderne Evolutionstheorie. Sechs Thesen zum Kampf ums Dasein.

Der Darwinismus war als politische Theorie willkommen
Es gibt Tage in der Geschichte, an denen sich der Konflikt eines ganzen Jahrhunderts zusammen­drängt. Der 30. Juni 1860 war so ein Tag. An die­sem Tag stand Charles Darwins Evolutionstheorie in Oxford auf der Tagesordnung der Sitzung der Britischen Vereinigung zur Förderung der Wissenschaften.
Der Anlass der Sitzung war Darwins ein Jahr zuvor erschienenes Hauptwerk. »Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder der Fortbestand der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein«, wie der deutsche Titel lautet, war ein immenser Erfolg. Die erste Auflage von 1 250 Exemplaren war bereits am Auslieferungstag, dem 24. November 1859, ausverkauft. Das allein war aber nicht der Grund der Aufregung, der zur Oxforder Sitzung führte. Über das Buch wurde weit über die wissenschaft­lichen Fachkreise hinaus diskutiert.
Einer der Gründe hatte mit dem zweiten Teil des Titels zu tun. Mit dem »Fortbestand der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein«. Die politischen Untertöne sind bis heute unüberhör­bar, und ihr Klang ist nicht jedem angenehm. So wird der Passus in der 1980 bei Reclam in Leip­zig erschienenen Übersetzung des Buches verschämt weggelassen.
Im England der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts aber, auf dem Höhepunkt des britischen Imperialismus, passte der »Fortbestand der begünstigten Rassen« in die politische Lage und die Stimmung des weltweit agierenden britischen Bürgertums. Das eröffnete Darwin eine Leserschicht interessierter biologischer Laien, die aus seinem Werk politischen Gewinn ziehen konnten. Jener zweite Teil des Titels mag die Anerkennung seiner Theorie in der britischen Ge­sellschaft entscheidend erleichtert haben.
Darwin hat mit der Formulierung vom »Fortbestand der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein« selbst die Wurzeln gelegt, die in der Folge all jene politischen und ideologischen Erscheinungen hervorbringen, die man unter dem Schlagwort »Sozialdarwinismus« zusammenfasst. Im zweiten Teil seines Titels spiegelt sich die britische Gesellschaft und ihr Selbstverständnis. Darwin dankt damit dem britischen Empire und legt die Einflüsse der Gesellschaft auf seine Theorie frei. Der Einfluss der Gesellschaft auf die Entstehung der Darwinschen Evo­lutionstheorie ist genauso deutlich und klar wie später der Einfluss dieser Theorie auf die imperialen Gesellschaftstheorien der europäischen Kolonialmächte.
Der Kampf ums Dasein im britischen Laissez-faire-Kapitalismus bildet die Analogie zu Darwins Theorie. Bereits 1850 hatte der Philosoph Herbert Spencer erklärt, dass es das »Überleben der Tüchtigsten« sei, das den sozialen Fortschritt vorantreibt. Dass heute Spencers Formel vom »Survival of the fittest«, »das Überleben der Tüch­tigsten«, oft fälschlicherweise Darwin zugeschrie­ben wird, ist ein später Nachhall des Einflusses britischer Gesellschaftstheorie auf die Evolutionstheorie. Das Elend der Armen und Unwissenden in der britischen Industriegesellschaft hatte Spencer mit der »strengen Zucht der Natur« verglichen.
»Es ist unmöglich, diese Zucht in irgendeiner Weise aufzuheben, ohne den Fortschritt aufzuheben«, schrieb Spencer 1850. Darwin wird diesen Gedanken später aufgreifen und in seiner 1871 erschienen Abhandlung über »Die Entstehung des Menschen« übernehmen. Darwin schreibt: »Der Mensch ist ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz in Folge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muss er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben. Im andern Falle würde er in Indolenz versinken und die hö­her begabten Menschen würden im Kampfe um das Leben nicht erfolgreicher sein als die we­niger begabten. (…) Es muss für alle Menschen offene Konkurrenz bestehen und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran verhindert werden, den größten Erfolg zu haben und die größte Zahl von Nachkommen aufzuziehen.«
Wer in diesem Zitat die gegenwärtigen Klagen und Forderungen der bundesrepublikanischen Familienpolitik mithört, hört richtig. Darwin scheint bereits sehr früh auf eine allgemeine Tendenz der entwickelten kapitalistischen Länder zu reagieren, dass nämlich mit zunehmendem Wohlstand und zunehmender Technisierung die Zahl der Kinder abnimmt.
Neben diesen ganz plastischen Themen kann man in Darwins Sätzen aber auch alle Topoi ­neoliberaler politischer Philosophie und unternehmerischer Mythenbildung finden. Es gibt in Darwins Diagnose aber auch eine Stelle, auf die man zumindest in Deutschland hinweisen muss. Sie lautet: »Es muss für alle Menschen of­fene Konkurrenz bestehen.«
Darin drückt Darwin seine Ansicht der ur­sprüng­lichen Gleichheit aller Menschen aus. Das ist entschieden antirassistisch gedacht. Weiter führt er aus: »Obgleich die jetzt lebenden Rassen der Menschen in vielen Beziehungen, wie in Farbe, im Haar, der Gestalt des Schädels, den Pro­portionen des Körpers etc. voneinander verschieden sind, so findet man doch auch wieder, zieht man ihre ganze Struktur in Betracht, dass sie einander in einer ganzen Menge von Punkten außerordentlich ähnlich sind. (…) Dieselbe Bemerkung trifft in gleicher oder in noch größerer Stärke hinsichtlich der zahlreichen Punkte geistiger Ähnlichkeit zwischen den verschiedensten Rassen des Menschen zu.«
Wenn man sich nur den letzten Satz von der geistigen Ähnlichkeit der verschiedensten Rassen merkt und bedenkt, dass so 1871 ein englischer Naturforscher spricht, der in den Londoner Gentleman-Clubs zu Hause ist, und jetzt die deutsche Variante der Darwinschen Theorie hört, dann bekommt man einen Eindruck vom politisch-ideologischen Raum, in dem die Evolutionstheorie immer auch spielte. Die deutsche Variante stammt von Ernst Haeckel, wurde 1904 veröffentlicht und geht so: »Diese Naturmenschen (z. B. (…) Australneger) stehen in psy­chologischer Hinsicht näher den Säugethieren (Affen, Hunden) als dem hochcivilisirten Europäer; daher ist auch ihr individueller Lebenswerth ganz verschieden zu beurtheilen. (…) Da­raus erklären sich auch viele praktische Mißgriffe, die von uns in den ersten deutschen neu­erdings erworbenen Colonien begangen werden; diese würden vermieden worden sein, wenn wir eine gründlichere Kenntniß vom niederen Seelenleben der Naturvölker besäßen.«
Was bei Darwin aufgrund der souveränen Kennt­nis der Berichte seiner Zuarbeiter in den Kolonien zu einem Postulat der Gleichheit aller Menschen wird, wird bei Haeckel zum finstersten Rassismus.
Da in Deutschland die Rezeption Darwins und der gesamte deutsche Darwinismus entscheidend von Haeckel geprägt wurde, ist ein kleiner Exkurs zur Person Haeckels nötig, um zu verstehen, wie unterschiedlich eine Theorie in unterschiedlichen Gesellschaften aufgenommen werden kann.
Haeckel (1834–1919) wurde in Deutschland nach dem Erscheinen von Darwins »On the Origin of Species« in deutscher Übersetzung im Jahre 1860 zu einem der heftigsten Fürsprecher der Entwicklungstheorie der Arten. Seine Bücher gehörten zum Bildungsgut sozialistischer Klassiker wie Leo Trotzki, Mao Tse-Tung und Walter Ulbricht und bestritten Geisteskranken das Lebensrecht. Sie lieferten detailgenaue Hand­lungsanweisungen zur Tötung unheilbar Kranker »durch eine Gabe Morphium oder Cyankalium«. Anweisungen, die dann andere nach seinem Tod auch befolgten. Haeckel ist zu einem der umstrittensten Biologen der Neuzeit geworden. Er ist ein Paradebeispiel dafür, welche fata­len Folgen es haben kann, naturwissenschaftliches Tun zu entgrenzen und aus den Ergebnissen weltanschauliche Überzeugungen abzuleiten und zu formulieren. Es wäre allerdings genauso fatal, Haeckel mit Begriffen wie »Sozialdarwinist«, »Rassist« oder »Nationalist« – das alles war er auch – abzutun und die Beschäftigung mit seinen Arbeiten einzustellen. Entrüstung hilft in diesem Fall wenig und erklärt nichts. Zu immens war und ist die Wirkung seiner populärsten Werke, des 1899 erschienenen Bandes »Die Welträtsel« und der »Kunstformen der Natur«.

Kampf der Gedanken
Zurück zu Charles Darwins »Entstehung der Arten« und seiner politischen Analogie vom »Fort­bestand der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein« im Erscheinungsjahr 1859. Darwin beließ es nämlich bei der Analogie im Titel. Im Text selber erzählte er nichts vom »Kampf ums Dasein menschlicher Rassen«. Er behandelt nicht einmal die Frage nach dem Ursprung des Menschen. Der Mensch kommt nur in jenem berühmt gewordenen Zitat am Ende der »Entstehung der Arten« vor: »In einer fernen Zukunft sehe ich ein weites Feld für noch bedeutsamere Forschung (…) Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte.« Das Buch war eine auch für Laien angenehm zu lesende Zusammenfassung seiner über Jahrzehnte angefertigten Aufzeichnungen. In ihm wurde systema­tisch die statische Welt des Schöpfungsglaubens durch die dynamische Welt der Evolution ersetzt.
Dabei geht Darwin die mühselig gesammelten naturgeschichtlichen Fakten durch und bereitet diese in einem klaren Stil auf, der ohne jede metaphysische Spekulation auskommt. Seinen Gegnern nimmt er ihre Argumente vorweg, indem er sein methodisches Vorgehen immer wieder selbst thematisiert. In einem so ruhigen, sachlichen und beispielgesättigten Stil hatte in der Naturgeschichtsschreibung noch niemand die Härten der Natur und das Leiden der Kreatur als metaphysisches Problem aus der Welt ge­schafft. Am Ende der »Entstehung der Arten« schreibt Darwin: »Aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod geht also unmittelbar das Höchste hervor, das wir uns vorstellen können: die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Wesen. Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und dass, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.«
Dass Darwin in dieser Kurzdarstellung der Evo­lution als eines unaufhörlichen Prozesses der ständigen Veränderung der Arten den Schöpfer immerhin noch erwähnt, vermochte allerdings schon seine Zeitgenossen nicht mehr zu täuschen.
In der Darstellung der Entwicklung des Lebens, wie Darwin sie gab, war kein Platz mehr für Gott. Die Naturerscheinungen waren zu geschicht­lichen Wesen geworden. Und der Mechanismus, der die Evolution der Lebewesen bedingte, war die natürliche Auslese. Das war bis dahin unerhört und die tatsächliche Revolution der Dar­winschen Theorie. Evolutionstheorien, die die Konstanz der von Gott ein für allemal geschaffenen Arten bezweifelten, hatte es schon vor Darwin gegeben. So hatte Jean Baptiste Lamarck im Frankreich der Französischen Revolution, wo das Klima für Entwicklungs- und Verände­rungs­theorien günstig war, eine biologische Theorie der Entwicklung der Arten vorgelegt. Da­rüber, dass die Arten nicht konstant sind, son­dern sich verändern im Lauf der Zeit, wurde zumindest unter Biologen schon vor dem Erschei­nen von Darwins »Entstehung der Arten« disku­tiert. Trotzdem barg natürlich Darwins Ent­wicklungstheorie immer noch genug gesellschaftlichen Sprengstoff. Zumal für Konservative in Religion und Wissenschaft war die Vorstel­lung eines Lebens ganz ohne Gott zu harter Stoff.
Das waren die Voraussetzungen jener Sitzung am 30. Juni 1860 in Oxford.
Die Sitzung nahm schnell den Charakter eines Prozesses an. Von Wissenschaftshistorikern wird sie mit dem Prozess verglichen, den die ka­tholische Kirche 1633 Galileo Galilei machte. Der Vergleich bezieht sich aber nur auf die Gegen­überstellung von Religion und Wissenschaft. Gesellschaftlich und persönlich hatte Darwin nichts zu befürchten.
Die Kampfkonstellation in Oxford war wünschenswert klar. Auf der Seite der Ankläger stand die Kirche, die christlich-kreationistische Sicht der Erdgeschichte. Nach dieser Theorie, die sich ganz und gar dem Text der biblischen Schöpfungsgeschichte verpflichtet weiß, ist die Erde vor sechs- oder zehntausend Jahren – über die genaue Datierung streiten sich die Schriftgelehrten – mit all ihren Geschöpfen geschaffen worden, wie sie heute ist und immer war. Eine Entwicklung findet in dieser Lehre nicht statt.
Verteidigt wurde diese Sicht in Oxford von dem erzkonservativen Bischof Samuel Wilberforce, genannt »Der ölige Sam«. Auf der anderen Seite stand mit Thomas Henry Huxley ein redegewandter Mitstreiter Darwins, auch bekannt unter dem Beinamen »Darwins Bulldogge«. Huxley war 16 Jahre jünger als Darwin und ein brillanter Rhetoriker in öffentlichen Auseinandersetzungen. Er gehörte wie Haeckel in Deutsch­land zu einer Reihe junger, naturwissen­schaftlicher Begabungen, die sich begeistert Darwins Theorie zu eigen machten. Dabei radikalisierten sie häufig Darwins abwägende Formulierungen und traten im doppelten Sinn mit dem Gestus junger Wilder auf. Als Wilberforce zum Beispiel in Oxford von Huxley wissen wollte, ob er von einem Affen abstamme, hatte Hux­ley kein Problem zu antworten. Er könne nicht erkennen, erwiderte Huxley, »was es an meiner moralischen Verantwortung ändern würde, wenn ich tatsächlich einen Affen zum Großvater hätte«. »Wenn mir die Frage gestellt wird, ob ich lieber einen elenden Affen zum Großvater hätte oder einen Mann, der von der Natur reich ausgestattet wurde und über große Macht und Einfluss verfügt, der aber diese Fähigkeiten und diesen Einfluss nur dazu benutzt, eine ernste wis­senschaftliche Diskussion ins Lächerliche zu ziehen – dann erkläre ich ohne Zögern, dass ich dem Affen den Vorzug gebe.«
In dem, je nach Augenzeugenbericht, mit 700 bis 1 000 Leuten vollbesetzten Saal entstand eine tumultuarische Heiterkeit. Der ölige Sam erholte sich während der Sitzung nicht mehr, und Huxley und Darwins Buch standen nach vier Stunden als Sieger da.
Darin liegt ein entscheidender Unterschied zum Galilei-Prozess 1633. Wilberforces Niederlage war geschichtlich längst vorbereitet. In Europa war der Kampf zwischen Wissenschaft und Kirche bereits vor der Französischen Revolution zugunsten der Wissenschaft entschieden worden. Die anglikanische Kirche fand auch schnell Wege, mit dem Darwinismus auszukommen. Wilberforce war nur noch so etwas wie ein Fossil, das vorgeschickt wurde, um ganz andere Gemüter zu beruhigen als die gesellschaftlich relevanten Kräfte des englischen Empire.
Wichtig sind in dem Streit ganz andere Begebenheiten. Darwin hatte in der »Entstehung der Arten« den Menschen ganz ausgeklammert, Huxley hatte aber im Prozess überhaupt keine Schwierigkeiten, sich in einer Abstammungsreihe mit Affen zu sehen. Das ist eine wesentliche Radikalisierung der Darwinschen Lehre, und sie betrifft genau den Teil der Evolutionstheorie, der zum Ende des 19. Jahrhunderts »anthropopo­litisch«, wie der Wissenschaftshistoriker Hans Jörg Rheinberger es nennt, wirksam wurde und zum Beispiel in den Äußerungen Haeckels die kolonialistisch-rassistische Ausformung bekam, die dann auch geschichtlich relevant wurde. Huxley, Darwins Bulldogge, hat wesentlich vor Darwin den Platz des Menschen in der Natur bestimmt und nicht nur wissenschaftspolitisch den »Kampf ums Dasein« in die Gesellschaft getragen.

Erfolgreich durch die Wissenschaft und übers Meer
Darwin war ein Taktiker vor dem Herrn. Zur Eta­blierung seiner Theorie bediente er sich genau jener gesellschaftlichen Mechanismen, mit denen die Gesellschaftstheorien in seine Entwicklungslehre hineingetragen wurden. Polemisch könnte man sagen: Darwins Kampf ums Dasein kommt nicht aus der Natur, sondern aus dem England des 19. Jahrhunderts.
Ihm war das in gewisser Weise bewusst. Es gibt den immer wieder auftauchenden Mythos, Darwin habe nach seiner großen Reise von 1831 bis 1836 auf der HMS Beagle (Her majesty’s ship) auf seinem Landsitz im Down House nahe Downe in der südostenglischen Grafschaft Kent das zurückgezogene Leben eines Privatgelehrten geführt. 20 Jahre habe er dort gesessen, »in denen er nichts tat, als konzentriert nachzudenken«, wie Daniel Kehlmann, Bestsellerautor und Spezialist für Historienmalerei, im Vorwort zur ersten vollständigen deutschen Übersetzung von Darwins »Die Fahrt der Beagle« schrieb.
Nichts ist falscher. Darwin hat durch seine Pri­vatgelehrtenexistenz – er hatte weder ein na­turwissenschaftliches Studium absolviert noch je als Professor an einer Universität gearbeitet – den Mythos genauso befördert wie durch seine Zurückhaltung in öffentlichen Debatten. Aber das heißt nicht, dass er nicht um die Ge­pflo­gen­heiten der englischen Gentleman-Gesellschaft, ihre Ein- und Ausschlussmechanismen wusste und sich ihrer perfekt bedienen konnte.
Die Oxforder Sitzung ist dafür ein gutes Beispiel. Darwin selbst war nämlich nicht anwesend. Er war krank. Bei den Darwins – Darwin hat­te mit seiner Frau Emma zehn Kinder, von denen drei früh starben –, gab es die hartnäckigs­ten und verschiedensten gesundheitlichen Beschwerden. Manche Autoren, etwa Michael R. Rose, hielten sie deshalb für »eine Bande von Hypochondern«. Darüber hinaus hasste Darwin öffentliche Auftritte, aber er wusste sich vertreten zu lassen. Den freundschaftlichen Kontakt zu Huxley hat er sein ganzes Leben gepflegt. Darwin wusste um die Notwendigkeit solcher Freun­de im Kampf um seine Theorie.
Und er wusste auch, im richtigen Moment Rücksicht auf seine Frau Emma zu nehmen, die ihr Leben lang eine streng gläubige Christin blieb. Obwohl sich der studierte Theologe Darwin im Laufe seines Theoretikerlebens ganz vom Glauben entfernte, blieb er gegenüber der Kirche immer höflich. Nachdem er am 19. April 1882 gestorben war, wurde er in Westminster Abbey in der Nähe von Isaac Newton beerdigt. Es gibt überhaupt keine Belege für die oft geäußerte Be­hauptung, Darwin sei auf dem Sterbebett wieder Christ geworden. Die antiklerikalen Ausbrü­che aus der Evolutionistengemeinde überließ er aber Huxley oder Haeckel.
Vor der Feindschaft alter treuer Christen schütz­te ihn das allerdings auch nicht. Als sich nach Huxleys brillanter Verteidigungsrede in Oxford der Saal langsam leerte, irrte ein völlig fas­sungs­loser Robert Fitzroy durch die Bänke. Dabei schwenk­te er immer wieder eine Bibel über dem Kopf und rief: »The Book. The Book.«
Der bibeltreue Fitzroy war der Kapitän Darwins auf der HMS Beagle und später Darwins erbitterter Feind. Fitzroy ist aber bei der Entwicklung der Evolutionstheorie ein wichtiger Helfer Darwins, der einen nicht geringen Anteil an der Einführung Darwins in die relevanten Kreise der britischen Naturwissenschaften hat.
Darwin hatte zwar nie eine feste Anstellung an einer Universität, er war aber spätestens nach seiner Reise bestens in die Wissenschaftskreise eingeführt. Er kannte alle relevanten Wis­senschaftler persönlich und stand in einem andauernden Austausch mit ihnen. Privat war nur Darwins Status, die Herausarbeitung der Evo­lutionstheorie erfolgte innerhalb der scientific community.
Darwin war – mit den Worten des Evolutions­biologen Stephen Jay Gould – in eine begünstigte Klasse hineingeboren. Er gehörte, schreibt Gould, »zu den männlichen Weißen aus der Ober­schicht, die über beträchtlichen Wohlstand und größtmögliche Gelegenheiten verfügten«.
Der durch ein Erbe vom universitären wie sonstigen Wirtschaftsbetrieb zeit seines Lebens befreite Darwin war in die Welt der englischen Gentlemen hineingeboren und wusste sich in diesen Kreisen zu bewegen. Clubs, Bekanntenkreise, gegenseitige Gefälligkeiten – all das kannte und nutzte er. Die feinen Unterschiede waren ihm in die Wiege gelegt. Er gehörte dazu. Und er wusste es: »Ich hatte viel Freizeit, weil ich nicht selbst mein Brot verdienen musste. Selbst die schlechte Gesundheit, die allerdings mehrere Jahre meines Lebens vernichtet hat, schützte mich vor den Ablenkungen durch Gesellschaft und Vergnügen«, schreibt er in seiner Autobiographie.
Den Grundstein für dieses Leben hatte sein Va­ter gelegt, Robert Waring Darwin. Dieser war ein angesehener Arzt, der bereits mit 21 Jahren zu praktizieren begonnen hatte. Er war aber auch ein bekannter Geldverleiher. Da er diese Ge­schäfte mit Umsicht betrieb, erwarb er sich den Ruf eines geduldigen und gerechten Mannes sowie ein beträchtliches Vermögen.
Und dieser Ruf begleitete Charles Darwin durch sein Leben in der englischen Gesellschaft wie in der Wissenschaft. Darwin studierte auf Wunsch des Vaters Theologie in Cambridge mit dem Ziel, Landpfarrer zu werden. Er schloss 1831 das Studium mit der schlechtesten, damals gerade noch ausreichenden Note ab. Wahrscheinlich sind es diese scheinbar ehrgeizlosen Äußerlichkeiten des »Langweilers namens Darwin«, so Stephen Jay Gould, die bis heute die Legende vom zu Hause grübelnden Darwin, der sich nicht um die institutionellen Karrierewege schert, aufrechterhalten.
In der Legende vom einsamen Denker ohne Ranküne und kaltes Kalkül kommt aber noch etwas anderes zum Ausdruck: ein Unverständnis der Gepflogenheiten angelsächsischer Universitäten zu Darwins Zeit. Es war und ist in England und den USA immer auch möglich, als so genannter akademischer Außenseiter oder Spinner in die Akademien einzudringen.
Eben das tat Darwin. Schon während seines Theologiestudiums hatte er in Cambridge regelmäßig die Vorlesungen und Exkursionen von John Stevens Henslow besucht. Dieser war Inhaber des Lehrstuhls für Botanik und arbeitete gleichzeitig als Gemeindepfarrer. Er wurde Darwins väterlicher Freund und führte ihn in die na­turwissenschaftliche Akademia ein. Von ihm lernte Darwin das exakte Beobachten und das systematische naturwissenschaftliche Arbeiten. Henslow war es auch, der Darwin für den Pos­ten eines unbezahlten Naturforschers auf der HMS Beagle vorschlug. Durch Henslow, der auch ein anerkannter Mineraloge war, wurde Darwin auch auf Charles Lyell aufmerksam.
Lyell war Professor für Geologie in London und nebenbei ein an Kunst und Geschichte interessierter Gesellschafter der feinen Leute, der im en­glischen Königshaus verkehrte. Sein Hauptwerk »Principles of Geology« erschien von 1830 bis 1833 in London. Darin beschrieb er die Erdgeschichte als ein raum-zeitliches Kontinuum. Zum einen widersprach das Werk den christlichen Vorstellungen über den Zeitraum der Entstehung der Erde und der Geschöpfe, indem Lyell nun riesige Zeiträume für die Geschichte der Erdmassen angab. Zum anderen räumte er mit der vor allem in Frankreich entwickelten Katastrophentheorie auf. Dieser Theorie zufolge waren die fossilen Organismen Überreste von großen Katastrophen, die die Erde heimgesucht hatten. Nach den Katastrophen war dieser Theorie zufolge die Erde jeweils von kleinen Gebieten aus neu besiedelt worden. Lyell hingegen postulierte, die Fossilien seien Zeugnisse eines allmählichen Aussterbens und die lebenden, von den fossilen Funden abweichenden Organismen seien das Ergebnis einer ständigen Neuerschaffung der Arten. Das ist noch keine richtige Evolutionstheorie, es ist aber die Eröffnung eines gewaltigen erdgeschichtlichen Zeitraums.
Das heißt: Mit dem Botaniker Henslow und dem Geologen Lyell hatte Darwin zwei der angesehensten Naturforscher Großbritanniens als Mentoren.

Die Galapagos-Inseln und die Darwinfinken
Es gibt Ortsnamen und Menschen, die nicht mehr zu trennen sind. Galapagos ist so ein Ort, »las Encantadas«, die verwunschenen Inseln, wie man sie zuerst nannte, gehören zu Charles Darwin. Um seinen Aufenthalt auf Galapagos ranken sich diverse Mythen. Als er 1835 auf den Inseln landete, soll er dort aufgrund seiner Beobachtungen an den heute berühmten Darwinfinken und den Riesenlandschildkröten die entscheidenden Anstöße zu seiner Evolutionstheorie bekommen haben. In Wahrheit verließ er die Inseln, wie er sie betreten hatte: als Kreationist, als Anhänger der christlichen Schöpfungsgeschichte.
Und so hatte er auch gesammelt und beobachtet. Seine Finkensammlung zum Beispiel war unbrauchbar, weil er sie schlecht oder gar nicht beschriftet hatte. Zu »Darwinfinken« wurden die 13 meist dunkelbraun oder schwarz gefärbten Finken erst nachträglich. Der englische Ornitho­loge David Lack gab ihnen 1947 den Namen. Zu Recht natürlich, denn die Finken sind heute eines der bestuntersuchten Beispiele für die Artbildung aus einer Ursprungsform. Wie gesagt: heute.
Doch erst einmal musste sich Darwin im September 1831 bei Kapitän Robert Fitzroy vorstellen. Und das wäre fast daneben gegangen. Fitzroy war ein Anhänger der Physiognomik und hatte Schwierigkeiten mit Darwins Nase. Darwin schrieb in seiner Autobiographie: »Er bezweifelte, ob irgendjemand mit meiner Nase hinreichende Energie und Entschlossenheit für diese Reise besitzen könne.« Nachdem allerdings vor Darwin bereits mehrere Kandidaten abgesagt hatten, nahm Fitzroy ihn dann doch mit.
Jedenfalls erwies sich Fitzroys Einschätzung, was Darwins Energie anging, als falsch. Darwin war auf der ganzen Reise als unermüdlicher Sammler von Tieren und Pflanzen tätig und nie krank. Wie er aber seine Finken auf Galapagos sammelte, lässt den Schluss zu, dass er zur Zeit seines Aufenthaltes noch keine Ahnung von der Evolutionstheorie hatte.
Genauso verhielt es sich mit Riesenschildkröten. Kapitän Fitzroy hatte zwar 30 große Schildkröten als Proviant an Bord genommen, aber niemand untersuchte sie. Man aß sie Stück für Stück auf und warf die Überreste über Bord. So erging es vielen größeren Tieren auf der Reise, wenn man sie als essbar identifiziert hatte. Zufällig hatte Darwin aber die Knochen von einem kleinen Straußenvogel, den er in Patagonien erlegt hatte, nach dem Essen eingesammelt und mit nach England genommen. Dort bestimmte der Ornithologe John Gould den kleinen Nandu als eigenständige Art und gab ihm den Namen »Rhea darwinii«. Das schmeichelte Darwin und weckte vor allem sein Interesse an den Vögeln Südamerikas. Als Gould Darwin dann noch zeigte, dass die unterschiedlichen Finken alle zu einer Familie gehören, fragte Darwin sich, ob sie nicht einen gemeinsamen Ursprung haben könnten.
Um das zu untersuchen, musste er zuerst Fitz­roy um dessen Finkensammlung bitten. Der bibeltreue Kapitän hatte alle seine auf den Galapagos-Inseln eingefangenen Finken korrekt mit Fundort etikettiert. Und so wurden, nachträglich, die Finken und die Abbildungen ihrer Schnäbel und Köpfe zu den Ikonen der neuen Theorie der Entstehung der Arten. Böse könnte man sagen: Sie sind die Rache der Evolutionisten am protestantischen Bildersturm.
Sie zeigen aber noch etwas anderes: nämlich die Verschiebung der ursprünglichen Erfahrung der Verschiedenheit vom Ohr ins Auge. Dar­wins erste Notiz, die er 1836 auf See in den »Ornithological Notes« niederschrieb und in der er die Stabilität der Arten in Frage stellte, bezog sich nicht auf Finken, sondern auf vier Galapagos-Spottdrosseln.
Wer die vier Arten, die jeweils auf verschiedenen Inseln vorkommen, mal erleben konnte, versteht sofort, warum sie Darwin auffielen. Die äußerlich nur wenig unterschiedenen Arten sind nämlich nicht zu überhören. Sie singen sehr laut, melodiös, schier unfassbar variabel und von Insel zu Insel merklich verschieden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass, im Fall der Spottdrosseln, der sich im Verhältnis zu Federfarben und Schnabelformen wesentlich schneller verändernde Gesang die Artbildung beförderte. Da­mit wären die Galapagos-Spottdrosseln ein Beispiel für die Entstehung der Arten aus dem Gesang.

Wie das Neue in die Welt kommt
Der Gesang der Spottdrosseln wird erlernt, wie der Gesang aller Singvögel. Also käme hier ein Mechanismus der Artentwicklung ins Spiel, den weder Darwin noch seine Nachfolger im biologischen Sinn erkannt haben. Nennen wir ihn ru­hig: das spielerische Element des Lebens.
Die Evolutionstheorie hat nämlich tatsächlich Schwierigkeiten, zum Beispiel die 40fache Entstehung des Auges im Tierreich widerspruchs­frei zu erklären; oder die Existenz von Erscheinungen ohne naturgeschichtliche Vorläufer, wie die der Augenflecken bei Schmetterlingen, aus den Darwinschen Mechanismen von Mutation und Selektion herzuleiten. Wie das Neue in die Welt kommt, das, weil es keine Vorläufer hat, nicht ab­geleitet werden kann, ist mit Darwin nicht zu erklären. Die Naturgesetzlichkeit, wie sie Darwin im Zusammenspiel von Mutationen und natürlicher Auslese bestimmt, lässt am Ende das Neue doch als Vorbestimmtes erscheinen. Sich verändern, also mutieren, kann nur das, was schon da ist.
Es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass einer der interessantesten nicht religiös fundierten Angriffe auf die darwinistische Evolutionstheorie von dem Schriftsteller und Schmetterlingsspezialisten Vladimir Nabokov stammt.
Der élan vital war Nabokov heilig. Die betriebs­wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analysen und mathematischen Optimalitätsmodelle geschäfts­tüchtiger Biologen ödeten ihn nicht nur an. Wenn ihre aus begrenzter Vorstellungskraft geformten Begriffe auf geschickte Propagandisten treffen, können sie direkt in die Barbarei führen.
»Kampf ums Dasein, ach was! … Die alten Bücher irren. An einem Sonntag wurde die Welt geschaffen«, schreibt Nabokov in seiner Autobiographie »Erinnerung, sprich«. Es geht aber um mehr: Wie zum Beispiel schafft es ein Schmetterling, mit den auf seinem hinteren Flügelpaar gelegenen Augenflecken und einer über den Flü­gel verlaufenden Linie einen Flüssig­keits­trop­fen so nachzuahmen, dass es für den Betrachter so aussieht, als blicke er durch einen wirklichen Wassertropfen auf das Flügelmuster? Nichts spricht dagegen, dass vor langer Zeit ein Tropfen auf einen Schmetterling fiel und irgendwie stammesgeschichtlich als Fleck beibehalten wurde. Man kann diese Idee Nabokovs als Spinnerei abtun, das Problem der Ursache natürlicher Variationen bleibt trotzdem bestehen.
Oder ein anderer Schmetterling imitiert ein Blatt und sieht nicht nur genauso aus wie das Blatt, sondern täuscht durch Schattierungen auch noch Raupenfraß vor. Viele Imitationen haben etwas Unnötiges, übertreffen sie doch das Unterscheidungsvermögen ihrer Fressfeinde bei weitem. Nur mit »natürlicher Auslese« und dem »Kampf ums Dasein« lassen sich viele Erscheinungen in ihrer Aufwendigkeit nicht erklären. Neben den Begriff des Nutzens muss noch ein Prinzip des zweckfreien Spielens treten. Nabokov will die schöpferischen Kräfte des Lebens gel­tend machen. Die Augenflecken der Schmetterlinge haben keine Vorläufer.
Und das heißt: Es gibt eine Entwicklung neuer Formen jenseits der Darwinschen Mechanismen von Mutation und Auslese.

Das Studium der Regenwürmer
Darwin selbst hätte diese Folgerungen im Unterschied zu vielen seiner Epigonen nicht bestritten. Denn auf seine Art ist er auch immer der sammelnde Naturforscher geblieben, der den Orchideen und Wespen tagelang folgte und jedes Detail der Pflanzen und Insekten für erwähnenswert hielt. So hat er als letztes Buch, als gro­ßes Alterswerk, keine philosophische Weltbetrachtung vorgelegt, sondern ein Buch über Regenwürmer geschrieben.
Darwin mochte Regenwürmer. Er hat sie in seinem Garten und auf seinem Acker mehr als 30 Jahre lang studiert. Die 1881 erschienene Monographie mit dem deutschen Titel »Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer« ist aber nicht nur ein Buch über Würmer. Es kommen in ihm noch einmal alle Methoden zur Anwendung, die Darwin auch zu seiner großen Entdeckung der »Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« verhalfen.
Dass das Wurmbuch wenig Beachtung fand, mag auch an seinem unterirdischen Gegenstand gelegen haben. Es wird aber sicherlich auch mit der Schwierigkeit zu tun haben, die Arbeit der Würmer an stetig größer werdenden Erträgen messen zu können. Die Humusschicht, von schwärz­licher Farbe und mehrere Zentimeter dick, wird normalerweise nicht höher. Darwin ging es darum, in dieser gleich scheinenden Schicht die dauernde Bewegung sichtbar zu ma­chen und den Erdumsatz auch quantitativ auszudrücken. Seine Berechnungen waren dabei von einer Genauigkeit, die bis heute Gültigkeit beanspruchen kann.
Regenwürmer fressen sich buchstäblich durch die Erde hindurch. Sie leben in zweierlei Gangsystemen. Das eine durchzieht die oberflächennahe Humusschicht in alle Richtungen, das andere dringt senkrecht nach unten in die Erde ein. Ein solcher Gang kann je nach Art bis acht Meter tief sein. Dorthin ziehen sich die Würmer bei ungünstigem Wetter, Kälte oder anhaltender Trockenheit zurück. In der Tiefe aufgenommene Erdpartikel werden vom Regenwurmmagen so zerkleinert, dass sie – oben abgegeben – die Wasserhaltung des Bodens verbessern und zugleich seine Minerallöslichkeit steigern.
Gegen Abend kommen die Würmer an die Öffnungen der Gänge und suchen nach Blättern. Wenn sie fündig geworden sind, saugen sie sich daran fest und schleppen sie in die Gänge zurück. Darwin hat mehrere Experimente zu diesem Verhalten gemacht, die ihn zu dem Schluss gelangen ließen, dass Intelligenz auch bei niederen Würmern vorhanden sei.
Intelligenz bei Regenwürmern zu entdecken, das ist Ende des 19. Jahrhunderts – und auch heute noch – entschieden antidarwinistisch. Ge­sellschaftlich war der Darwinismus am Ende des 19. Jahrhunderts rechts in den Dienst der um einen Platz an der Sonne kämpfenden Kolonialmächte getreten und links in die Idee des Fortschritts integriert worden. Man muss sich nur der anfangs zitierten Passagen Haeckels vom nie­deren Stand der »Australneger« bei den Hunden erinnern, um zu sehen, wie weit Darwins Vorstellung von intelligenten Würmern sich vom damals gängigen Darwinismus entfernt. Der Idee der höher schreitenden Entwicklung entzieht er mit der Entdeckung der Intelligenz bei niederen Würmern den biologischen Grund. Das heißt, für Darwin gibt es im Regenwurmbuch keine Linie mehr von dummen niederen Tieren zu geistig hochstehenden Menschen.
Andauernd arbeitet der Wurm in der Erde, allein der Ertrag – der Humus – wird nicht mehr. Das ist mehr als ein metaphorischer Kommentar zum Ökonomismus der Zeit. Das Regenwurmbuch ist Darwin ohne Kampf ums Dasein. Im gegenwärtigen, als »Globalisierung« bezeichneten neu entfachten Kampf aller gegen alle ist das eine Erinnerung an eine Position ohne Fortschritt, Weltmarkt und den Sieg der Besten.

Bei dem Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Radioessays, der für die von Eberhard Sens bis zu seiner Pensionierung 2008 geleitete Reihe »Perspektiven« im RBB entstand und dort Anfang 2008 gesendet wurde. Sens war einer der letzten entschiedenen Verfechter des Autorenradios, wofür ihm Dank gebührt.