Die Debatte nach dem »Ehrenmord«-Prozess in Hamburg

Zornige Vollstrecker

Teil der Lösung oder Teil des Problems? Nach dem Urteil im Hamburger »Ehrenmord-Prozess« wird über den Islam diskutiert.

»Ich bitte Sie, ermitteln Sie gründlich!« sagt die schöne türkische Anwältin, die eine eigene, recht noble Kanzlei besitzt. »Ich habe so viele Ehrenmordprozesse vor Gericht den Bach runtergehen sehen, weil die Ermittler geschlampt haben«, klagt sie den beiden Kriminalbeamten, die ihr erst zwei Minuten zuvor die Nachricht vom mysteriösen Tod ihrer Freundin überbracht haben.
Im Plot des in Bremen spielenden »Tatorts«, der kürzlich anlässlich des vierten Todestags der Berlinerin Hatun Sürücü ausgestrahlt wurde und für dessen Drehbuch die Schriftstellerin Thea Dorn und die Frauenrechtlerin Seyran Ates verantwortlich zeichnen, fehlt keines der Themen rund um das konservativ-muslimische Milieu: Patriarchen, Multikulti-Beziehungen, Zwangsheirat, Designer-Kopftücher, Operationen am Jungfernhäutchen. Als die türkische Anwältin doch noch für einen kurzen Moment der Trauer innehält und nachdenklich aus dem Fenster blickt, werden sofort leise orientalische Flöten- und Trommelklänge eingespielt. Da scheint das Mordmotiv »Ehre« eigentlich schon außer Frage zu stehen.

Zwischen solchen voreiligen Schlüssen über den »typischen« Mord im konservativ-muslimischen Milieu einerseits und der realen Undurchsichtigkeit einer zerstörten Familie andererseits bewegten sich die schwierigen Ermittlungen nach dem Mord an der 16jährigen Morsal Obeidi in Hamburg. Mehrere Familienmitglieder hatten die Schülerin wiederholt misshandelt. Ihr damals 23jähriger Bruder, der wegen Gewaltdelikten mehrfach vorbestraft ist, erstach Morsal vor einem Jahr auf einem Parkplatz. Kurz bevor das Hamburger Landgericht kürzlich sein Urteil bekannt gab, verkünde­te der Spiegel, von einem Ehrenmord könne keine Rede sein. Die Gründe der Tat lägen vielmehr in einem »lange schwelenden Geschwisterkonflikt«.
Das Gericht kam am Ende zu einem anderen Ergebnis. Unter lautstarken Protesten der Angehörigen verurteilte es Ahmad Obeidi am 13. Februar wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Der Täter habe »aus reiner Intoleranz« gegenüber Morsals Lebensstil gehandelt, erklärte der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen in seiner mündlichen Urteilsbegründung. Mit Blick auf die aus Afghanistan stammenden Eltern des Täters fügte der Richter hinzu, auch sie trügen eine »hohe moralische Mitschuld«. Der Sohn sei »zum Vollstrecker ihres Erziehungsverständnisses geworden«.

Damit falle dieses Urteil gewissermaßen aus der Reihe, sagt die Soziologin und Frauenrechtlerin Necla Kelek. »Der Richter hat diesmal ein Gesamtbild der Familie gezeichnet, anstatt nur den Täter als Einzelperson anzusprechen. Das ist neu und sehr begrüßenswert.«
Wenige Tage nach der Verurteilung diskutiert im Haus der »Patriotischen Gesellschaft von 1765« das Hamburger Establishment über den Fall. Bernd-Rüdeger Sonnen, Professor für Jugendstrafrecht, verdeutlicht dem vornehm gekleideten Publikum die Dringlichkeit des Themas. Ehrenmorde, also Morde, die nach bestimmten kulturellen Vorstellungen – »das möchte ich ausdrücklich nicht bewerten«, sagt Sonnen – »zur Verteidigung der Familienehre« als notwendig empfunden werden, seien hierzulande kein seltenes Phänomen mehr.
Durchschnittlich fünf Fälle pro Jahr zählt das Bundeskriminalamt. Daneben wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen. Nur die wenigsten Taten sind so spektakulär wie die Morde an Hatun Sürücü oder Morsal Obeidi. »Terre des Femmes« zufolge werden viele Taten als Unfälle getarnt. »Die Opfer stehen in einem Kulturkonflikt«, formuliert Sonnen vorsichtig. Und diesen Konflikt versuchen die Täter mit Gewalt zu entscheiden.
Über die »kulturellen Vorstellungen«, die Sonnen nicht bewerten möchte, weiß der Jugendstrafrechtler immerhin eines mit Sicherheit zu berichten: Er könne nur davor warnen, »missverständliche Verbindungen zum Islam zu ziehen«, sagt Sonnen. »Diese Vorstellungen sind aus Stammesriten entstanden, weit vor der religiösen Zeit.« Dem pflichtet auch die zweite Referentin des Abends bei, die Imamin Halima Krausen von der an der Außenalster gelegenen Iman-Ali-Moschee. Für ihre Aussage, die Ermordung Morsal Obeidis habe »überhaupt nichts mit dem Islam zu tun«, erhält sie den ersten Applaus.
»Man kann Ehre nicht verteidigen, indem man sich ehrlos verhält«, führt Krausen aus und hebt zu einer Erläuterung über den vielschichtigen islamischen Ehrbegriff an. »Zorn ist eine Schwäche, der man sich nicht hingeben darf. Ehre hat im Gegenteil mit Stärke zu tun.« Die Frage, weshalb nicht bereits jener »Zorn« das eigentliche Problem sein soll, bleibt dabei offen.

Dass die Angriffe auf Musliminnen, die sich einem patriarchalen Rollenbild nicht fügen wollen, nicht religiös begründet seien, darin sind sich auf dem Podium alle einig. Stattdessen empfiehlt Halima Krausen, als sie nach Möglichkeiten gefragt wird, wie derartige Taten künftig verhindert werden könnten, den Islam als Teil der Lösung. Jugendliche sollten mehr über Werte lernen, das heißt konkret: einen besseren Zugang zu theologischer Literatur sowie islamischen Religionsunterricht an Schulen erhalten.
»Oft wird beklagt: In anderem Zusammenhang spricht man von Familiendramen, im Zusammenhang mit dem Islam spricht man immer gleich von Ehrenmord«, schildert Krausen. Dieses Argument will sie sich zwar nicht zu Eigen machen. Mit der hierfür gewählten Formulierung tut sie es dann aber doch: »Für mich kommt es darauf nicht an. Mord ist Mord.«
Ist das so? Zwar spielen sich nicht nur Ehrenmorde, sondern die allermeisten der jährlich rund 2 500 Tötungsdelikte in Deutschland zwischen engen Bekannten oder Verwandten ab. Während aber durch den üblichen Beziehungsmord oder das herkömmliche »Familiendrama« Außenstehende allenfalls indirekt tangiert werden, ist dies bei Morden im Namen der Ehre gerade anders: Eine öffentliche Wirkung zu erzielen, ist hier sogar das Hauptmotiv. Mit der Tat teilt sich der männliche Täter anderen Männern mit, weshalb heimlich vorzugehen aus seiner Sicht auch nicht halb so effektiv ist wie ein Gemetzel auf offener Straße. Neben anderen Männern erreichen die Wirkungen der Tat natürlich auch Frauen: So wie dem einzelnen Ehrenmord stets verschiedene Stufen familiären Drucks voraus­gehen, so verleiht er, in die Tat umgesetzt, der Disziplinierung auch in anderen Familien Nachdruck.

Vielleicht liegt es an diesem politischen Charakter der Tat, dass der Bundesgerichtshof im Umgang mit Ehrenmördern inzwischen eine harte Linie verfolgt. Bis 1994 war dies in Deutschland allerdings noch anders. Über »abweichende kulturelle Wertvorstellungen« eines Täters wollten Strafgerichte sich keine Wertung anmaßen. Als »niedrige« Beweggründe sollten diese Vorstellungen nicht gewertet werden dürfen. Im Ergebnis konnten Täter in Ehrenmord-Prozessen nur wegen Totschlags bestraft werden.
Diese Rechtsprechung änderte der Bundesgerichtshof vor 15 Jahren in einem Grundsatzurteil. Seitdem legt die deutsche Justiz den Begriff der niedrigen Beweggründe im Falle von Tötungen im Namen der Ehre sogar strenger aus als in anderen Fällen, so dass die Täter im Regelfall wegen Mordes verurteilt werden. Die persönlichen Wertvorstellungen der Täter bleiben juristisch schlicht außer Betracht. Zumindest nach dem Eindruck von Necla Kelek sieht die Praxis bei Gericht dennoch häufig anders aus. »Bisher war es oft so, dass der kulturelle Hintergrund des Täters mildernd berücksichtigt wurde.«
Unmittelbar nach dem Mord an Morsal Obeidi hatte die Soziologin in einem Beitrag für das Hamburger Abendblatt den Islam als Ursache für dieses Verbrechen bezeichnet. Anders als etwa beim Thema Kopftuch oder Zwangsheirat ließ sich jedoch kaum jemand auf eine öffentliche Debatte mit ihr ein. »Das ist eben ein Bereich, in dem sich kaum jemand auskennt«, vermutet Kelek. »Die Sharia gibt ein Recht zur Vergeltung, auch in Bezug auf Verletzungen der Familienehre, aber es gibt in den islamischen Ländern überhaupt keine Auseinandersetzung darüber, wie weit ein Mann denn nun gehen darf. Das merken wir auch in Deutschland.« Ob Ahmad Obeidi, über dessen Interesse an Moscheen nichts bekannt ist, mit der von Kelek geforderten theologischen »Auseinandersetzung« allerdings erreicht worden wäre, ist zweifelhaft.