Die Nation als rettender Hafen

Rettende Häfen in stürmischer See

Was tun in der Krise? Beschäftigte auf Bettel­tour schicken und Milliardärstränen weinen, die Amerikaner loswerden, die heimische Wirtschaft abschotten. Wozu?

Etwas unerfreulich ist das. Karl Marx arbeitet he­raus, dass »Nichteigentümer« – heute würde man Manager sagen – mit dem Kapital »ganz anders ins Zeug gehen als der ängstlich die Schranken seines Privatkapitals erwägende Eigentümer«. Dabei demaskiert sich heute ein Eigentümer nach dem anderen als Hasardspieler. Nun auch Maria-Elisabeth Schaeffler. Ihr Vater hatte sich 1939/40 die jüdische Davistan AG gekrallt und sie 1942 in Schaeffler umbenannt. Sie mehrte zunächst das Kapital, bis sie im Sommer 2008 der Übermut einfing. Sie besorgte sich Kredite, um die dreimal größere Continental zu erwerben. Doch während sie den Coup im Nerzmantel feierte, fraß die Krise Absatz und Aktienwert weg. Geblieben sind Schulden und treue Mitarbeiter, die jetzt vom Staat Milliarden fordern. »Man kann nicht im Nerzmantel nach Staatshilfe rufen«, sagt der Arbeits- und Sozialminister Olaf Scholz, der übersieht, dass sie den längst nicht mehr trägt.
Als sie platinblond und in einem billigen Anorak aus dem Tor ihres Werkes trat, um sich von 8 000 hündischen Mitarbeitern hochleben zu lassen, dachte man für einen Augenblick, Isabel Perón sei auferstanden. Frau Schaeffler schniefte distinguiert ins Taschentuch, herzte einen Werkschützer und sprach: »Ich bin ergriffen, beeindruckt und dankbar.« Da brachen 8 000 Wälzlager-Fachwerker in Tränen aus. In Buenos Aires heulten Millionen, als Isabel Perón vom Balkon beteuerte, sie trage Pelzmäntel und Perlenketten nur für Arme, damit die sich wenigstens daran er­götzen könnten. Davor hatten Peronisten die Büros jener Gewerkschaften abgefackelt, die sich nicht in die nationale Front einreihen wollten. In Herzogenaurach ist alles gediegener. Die Schaef­flers sind jetzt für Mitbestimmung, die sie bislang unzeitgemäß fanden, und die Belegschaft und die IG Metall stehen hinter der Familie. Es macht sich gut für Kapitalisten, ihre Opfer vorzuschicken. Wenn die bescheiden auftreten, erweichen sie sogar das Herz von Horst Seehofer, der am Ascher­mittwoch einen »Pakt für Deutschland« versprach – mit »Fleiß statt Raffgier«.
Dass Jürgen Elsässer unter den 8 000 Demon­stranten für Schaeffler war und sich – überwältigt von der Seinsmacht der völkischen Erweckung – mit »Hoch!« und »Auch wir sind Schaef­fler!« den Hals heiser schrie, ist ein Gerücht. Wahr ist, dass Elsässer Frau Schaeffler vor Oskar Lafontaine schützt. Als dieser die Belegschaft gegen ihren Willen »am Betriebsvermögen beteiligen« wollte, wetterte Elsässer, deutsche Familien betrieben »keinen Raubtierkapitalismus« wie »die anglo­-amerikanische Finanz-Aristokratie«; die Parole laute: »Friede den Familienunternehmen, Krieg den Finanzpalästen!« Dabei machte Schaeffler sich wie ein Raubtier über jüdisches Eigentum, Zwangsarbeiter und – Spiegel-TV zufolge – über Menschenhaar aus Auschwitz her. Aber die Volksfront Jürgen Elsässers, der natürlich nur als Seismograf für antizipierten Irrsinn Beachtung verdient, kommt trotzdem nicht voran. Kein anglo-amerikanischer Hedgefonds, sondern die deutsche Commerzbank will Schaeffler durch Bankenbeteiligungen enteignen. Und die »Contianer« wünschen die »Schaeffleraner« zum Teufel, die »VWler« wünschen den »Opelanern« den Ruin.

Durch einen Tunnel ohne Licht
In der Krise platzt die Finanzblase mit einem Knall, der zur Annahme verleitet, Spekulanten seien Ursache der Krise. Verschwörer trennen das Kapital flugs in schaffendes und raffendes. Jenes nehmen sie in ihre völkische Obhut, dieses wähnen sie in angloamerikanisch-jüdischen Händen. Die Spekulation kann die Krise verstärken, wenn die hohe Scheinliquidität Unternehmer zu Abenteuern verführt. Aber sowohl am Schwarzen Freitag 1929 als auch heute war und ist die Beseitigung der Finanzblase nur ein Reflex auf die wirkliche Krise. Die stockende Kapitalakkumulation und der folgende Protektionismus haben die Weltwirtschaft nach 1929 in den Abgrund gerissen. Die Kapitalbildung entwickelte sich lange vor dem Crash zurück, während die Börsenkurse sich in drei Jahren verdreifacht hatten. Diesmal sind in drei Jahrzehnten die Welt-Sozialprodukte um das vierfache, Finanzanlagen aber um das 40fache gestiegen.
Der Kapitalismus gerät in Krisen, wenn die schnel­lere Ausdehnung der dinglichen Produktionssphäre in Relation zur lebendigen Arbeit die bisherige Profitabilität des Kapitals nicht mehr garantiert. Sinkende Profitrate und Überproduktion von Kapital lösen die Flucht in Geldanlagen (einschließlich neuer dubioser Schöpfungen) aus, bis die organische Zusammensetzung des Kapitals durch eine umfassende Entwertung und Vernichtung von Kapital korrigiert ist. In die­sem Prozess verschwindet das Unrentable, um dem Rentablen Platz zu machen, und Pleiten fördern die Konzentration des Mehrwerts auf weniger Kapitalisten.
Die Dimension der Kapitalvernichtung ist heute so groß, dass sogar der geschwätzige Bund der Steuerzahler, der sonst jeden verschwendeten Eu­ro der Öffentlichkeit meldet, angesichts der Milliarden verschlingenden Black-Box Hypo Real Estate sprachlos ist. Allein die Autoindustrie steht vor der Vernichtung eines Drittels ihrer Kapazitäten. General Motors (GM) legt vor. Der Kapitalismus fährt durch einen Tunnel ohne Licht, verursacht Karambolagen und zerfällt mindestens in zwei Fraktionen. Potenzielle Sieger kreisen wie Aasgeier über ihren verdurstenden Konkurrenten und warnen vor »Volkseigenen Betrieben«, die sie in China als Erfolgsmodell loben. Die andere Fraktion, der das Wasser bis zum Hals steht, entdeckt ihr Herz für Gewerkschaften, Staat und Keynes und schickt ihre Belegschaften auf Bet­teltour. Rette sich, wer kann!

Homing instinct
Beim Börsencrash 1987 registrierte die Financial Times einen panischen Rückzug »ausländischer Investoren in ihre vertraute Umgebung der heimischen Märkte« und sprach vom homing instinct. In Krisen ist die Nation der rettende Hafen in stürmischer See. Firmen können nur zu Hause auf Zuwendung und willfährige Belegschaften, Gewerkschaften und Parteien hoffen. Die Entglobalisierung von GM verläuft idealtypisch. In jedem Land werden Niederlassungen beseitigt oder zugunsten nationaler Lösungen gefleddert. In Deutschland spielt Opel-Betriebsrat Klaus Franz, diese gelungene Auto-Mensch-Symbiose, sich zum Kopf der Ohne-Amerika-Bewegung auf. Das Management ist durch Kollaboration mit den USA desavouiert. Franz setzt auf die nationale Protz­variante. Opel sei deutsches Gefühl, deutsche Geschichte, Yes we can – ohne GM. Reichspräsident Hindenburg hat 1930 einmal aus einem offenen Opel gewinkt, aber da war Opel schon amerikanisch. Opel verdiene nur dann deutsche Hilfe, heißt es, wenn die Firma frei ist von Amerika, einen Großinvestor findet, die Belegschaft eine Milliarde beisteuert … Nach der Meldung spielte N-TV Silbermond: »Gib mir ein kleines biss­chen Sicherheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint«, die zeitgemäße Variante von »Ein bisschen Frieden«.
Europa droht am homing instict zu zerbrechen. Westliche Investoren zogen 150 Milliarden aus Osteuropa ab. Es rächt sich, dass der Osten Grund­stücke verschenkte, auf Steuern verzichtete und die Infrastruktur auf Pump modernisierte. Osteuropa steht nun mit 1,5 Billionen Dollar beim Westen in der Kreide, von denen 400 Milliarden 2009 fällig werden. Nur Milliarden-Kredite könnten den kollektiven Bankrott aufhalten. Aber jeder Kredit ist mit IWF-Auflagen verbunden, die man aus der »Dritten Welt« kennt. Wenn die Ukraine Gas stehlen muss, um die Bevölkerung durch den Winter zu bringen, wird es ihr schlecht gehen. Auch Griechenland, Island, Irland und andere Staaten sollen pleite sein. In dieser Situation sind die Stabilitätskriterien für den Euro nur noch Makulatur; und schon wird gemunkelt, einige Staaten wollten zur eigenen Währung zurückkehren, um ihren Export durch Abwertungen wieder anzukurbeln.

Renationalisierung der Kapitalströme
Das Kapital strömt in die Heimat, und die schottet sich mit immer neuen Schutzklauseln gegen die ausländische Konkurrenz ab. Früher sollte der Standort herausgeputzt werden für fremdes Kapital, heute behält Deutschland sich vor, ausländische Beteiligungen über 25 Prozent nachträglich zu annullieren. Frankreich will mit einem Sonderfonds ausländischen Käufern zuvorzukommen. Überall sollen einheimische Waren gekauft werden. In Frankreich breitet sich die Bewe­gung »Made in France« aus, und Sarkozy verband zunächst Staatshilfen für die Autoindustrie mit der Aufforderung, die Produktion aus dem Ausland abzuziehen.
In den USA wurde die Klausel »Buy American« ins Konjunkturprogramm genommen. Bei Staats­aufträgen sollen keine Stahl- und Fertigprodukte aus dem Ausland eingesetzt werden. Landauf, landab wird aufgerufen, Amerika brauche »Patrioten, die in einheimische Unternehmen investieren«, und der Boss der United Steelworkers tönt, es sei an der Zeit, »dass Wirtschaftspatrioten sich für ihr Land erheben«. Ortsansässige deutsche Konzerne fragen sich, ob ihnen dasselbe blüht wie Opel, die zu Hause ihre Mutter verleugnen soll. Der spanische Industrieminister wirbt: »Wenn jeder Spanier für 150 Euro heimische Produkte« ausländischen vorziehe, »können 120 000 Jobs gesichert werden«. Als der britische Ölkonzern Total einen Bauauftrag an eine italienische Firma vergab, die Italiener und Portugiesen beschäftigt, verbarrikadierten britische Arbeiter in einem wilden Streik das Werk. Ihre Losung »British Jobs for British Workers« wird heute auf Demonstrationen gerufen und auf T-Shirts getragen.
Die Renationalisierung der Kapitalströme, der Konzernstrategien und der Gesinnung läuft synchron, als wolle ein unsichtbarer Lehrer uns die Verkettung von Sein und Bewusstsein einhämmern. Noch fehlt das Pathos, das den bei der FDP aufgehobenen Sozial-Darwinismus mit der völkischen Erweckung vereint und beides von der Fessel der staatlichen Legitimation löst; aber einen Manager, der Staatshilfe für Arbeitsplätze im Ausland beanspruchte, würde man wohl als »Judas« aus dem Land treiben. Demokratie ist kei­ne supranationale Einrichtung, sondern eine nationale, in der Repräsentanten bestenfalls zu irgendwas beauftragt werden. In der Krise sollen sie die nationale Wirtschaft fördern und Verluste dem Ausland aufhalsen. Der Staat hat gleich­zeitig auf die weltweite Ausdehnung der Märkte und den freien Zugang hinzuwirken. Nur so wächst der verteilbare Mehrwert, und nur so kann sein expansives Kapital Terrain erobern. Der Widerspruch zwischen Protektionismus und Freihandel ist nicht aufzulösen. Im Boom schlägt das Pendel zum Freihandel, in Krisen zum Protektionismus aus.

Blamage der bürgerlichen Wirtschaftstheorie
Die Nationen sind nicht gleichermaßen vom Protektionismus bedroht. Deutschland exportiert 35 Prozent seiner Wirtschaftsleistung, profitiert aber noch von der Produktions- und Konsumtionsverschachtelung im EU-Binnenmarkt. Japan verlor die Hälfte seines Exports und ist daher bereit, 100 Milliarden Dollar für »Länder in Not« zu spenden. Die USA, die nur sieben Prozent für den Export produzieren, können sich Abschottun­gen eher erlauben. Ihr Problem ist die Abhängigkeit von China. Ihr Konjunkturprogramm lässt sich nur finanzieren, wenn China ihnen Schatzbriefe abkauft. Hillary Clinton, die im Wahlkampf noch »China aggressiv die Stirn bieten« wollte, bittet heute »Peking« darum, »uns durch den Kauf von Staatsanleihen zu unterstützen«. China sagte 700 Milliarden Dollar zu, denn die Abhängigkeit ist gegenseitig. 40 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung gehen ins Ausland, davon ein Viertel in die USA.
Krisen blamieren die bürgerliche Wirtschaftstheorie. Man darf sich nicht wundern, wenn sie sich wieder darauf beschränkt, Autobahnen zu bauen oder Wälder roden zu lassen, um Maisfelder für Biosprit anzulegen. Zurzeit sind Keynes und Roosevelts New Deal hoch im Kurs. Keynes’ Staatsnachfrage war unter Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt und Schmidt, unter Kohl gab’s Wiedervereinigungs-, heute gibt’s Krisen-Keynesianismus. Eigentlich ist immer Keynesianismus, für arme und reiche Keynesianer und alle anderen. Wegen der Schulden muss der Etat hin und wieder saniert werden. Dann ist vorübergehend Monetarismus angesagt. Der New Deal ist kein Beweis für die gelungene Staatsintervention. Als Roosevelt 1933 US-Präsident wurde und Mindestlöhne und Schutzzölle einführte sowie Millionen Arbeitslose dazu verpflichtete, das Tennessee-Becken zu industrialisieren, hatte die Wirtschaft bereits Jahre massiver Kapitalvernichtung hinter sich, mithin die organische Zusammensetzung des Kapitals korrigiert.

200 000 Euro für jeden Opelaner!
Kein Mensch weiß, ob vom deficit spending mehr bleibt als das Defizit. Wenn der Staat unproduktive Sektoren im Wachkoma hält, behindert er die Regeneration, und die Umlenkung von Wertmasse und Nachfrage in morbide Sektoren senkt Mehrwert und Durchschnittsprofit. Später müssen welt­marktfähige Sektoren, aber vor allem Rentner, Arbeitslose, Kranke und Studenten das Loch stopfen. Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut rechnet wegen der Geldschwemme ab 2010 mit einer Inflation von fünf bis zehn Prozent. Dann wären auch die Löhne dran.
Wenn »Linke« nicht wie Drogenhunde nach anglo-amerikanischem Geld schnüffeln, verplanen sie eine Millionärssteuer von fünf Prozent (»Die Linke«) oder die Tobinsteuer auf Spekulationen von 0,01 Prozent (Attac). Beide müssen darauf hoffen, dass Millionäre und Spekulationen ins Kraut schießen. Sonst gibt es nichts. Sahra Wagenknecht (»Ich bin jetzt keine einsame Stimme mehr«) überrascht mit der Belohnung von Leistungsträgern: »Es gibt genug Anreiz, wenn ei­ner fünfmal so viel hat wie der andere.« Vielleicht ist das so. Aber zu was reizt das wen an? Und der Staat solle seine Hilfen in Eigentumstitel umwandeln. So weit kommt es noch, dass man meine sauer verdienten Steuergroschen in marode Unternehmen steckt!
Wozu die Quälerei? Lasst Opel pleite gehen und schüttet die Milliarden an die Kollegen aus. 200 000 Euro für jeden! Das wäre auch im Sinne der Nachhaltigkeit, denn keiner bleibt so stoisch seiner Linie treu wie der Konsument. Man kann es drehen und wenden: Entweder kämpft man für die Beseitigung des Kapitalismus, um ihn durch ein solidarisches und demokratisches Plan­system zu ersetzen, oder man bleibt Spielball seiner Krisen und ist zeitlebens der Unterwerfung und Demütigung durch ihn ausgesetzt – mit oder ohne Krisen, Keynes und Staatsbeteiligung.