Ende einer Karriere

Das chilenische Erfolgsmodell, einst Vorbild für ganz Lateinamerika, steckt in einer tiefen Krise

Die Sorgenfalten in den Gesichtern der Unternehmer aus Santiago könnten tiefer kaum sein. Chile, dessen neoliberale Wirtschaftspolitik einst Vorbild für den gesamten Kontinent war, befindet sich in einer tiefen ökonomischen Krise. Kein lateinamerikanisches Land hat unter der Asienkrise so zu leiden wie der Andenstaat. Fast ein Fünftel der chilenischen Exporte gingen 1997 nach Japan, weitere zwölf Prozent entfielen auf die ehemals aufstrebenden asiatischen "Tigerstaaten". Mit den rückläufigen Auftragseingängen aus der Region wächst jedoch das chilenische Handelsbilanzdefizit in ungeahnte Höhen.

In den ersten sechs Monaten des Jahres vergrößerte sich das Minus auf immerhin rund 1,1 Milliarden US-Dollar und hat damit beinahe schon das Niveau des gesamten Vorjahrs erreicht. Bis Ende 1998 rechnet das Wirtschaftsministerium mit etwa 3,2 Milliarden US-Dollar. Dem Einbruch bei den Exporten von elf Prozent in den ersten fünf Monaten des Jahres steht ein Wachstum von zwölf Prozent bei den Importen gegenüber, da billige Waren aus Asien auf den chilenischen Markt drängen.

Doch nicht allein der rückläufige Handel mit Fernost, sondern auch der Preisverfall an den internationalen Märkten für das wichtigste Exportprodukt Chiles, das Kupfer, hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsbilanz und den Staatshaushalt. Bei dem derzeitigen Preis von 72 Cents für die Libra (454 Gramm), immerhin 31 Cents unter dem Durchschnittspreis des vergangenen Jahres, schreiben die Bergbauunternehmen rote Zahlen und schlossen bereits die ersten Gruben. Der chilenische Haushalt hat gleich doppelt unter der sich anbahnenden Bergbaukrise zu leiden, da weder die Steuereinnahmen noch die Gewinntransfers der Staatsunternehmen den kalkulierten Rahmen erreichen. Das trifft vor allem auf den Riesen der Branche - die Cooperac'on Nacional de Cobre de Chile (Codelco) - zu, der im ersten Quartal 1997 noch 333 Millionen US-Dollar an die Regierung überwies. Im ersten Quartal 1998 pumpte der weltgrößte Kupferkonzern gerade mal ein Drittel dieser Summe in die öffentlichen Kassen.

Angesichts dieser negativen Effekte rechnet das Brokerhaus J.P. Morgan nur mit einer Wachstumsquote von vier Prozent, nach sieben Prozent im Vorjahr. An eine weitere Forcierung der Expansionspläne im Bergbau ist kaum mehr zu denken. Bestehende Pläne werden entweder überarbeitet oder gleich auf Eis gelegt, was nicht nur mit der Absatzkrise zu tun hat, sondern auch mit fehlendem Investitionskapital. Die Regierung bemüht sich, mit zwei Sparprogrammen das Haushaltsdefizit um 680 Millionen US-Dollar zu reduzieren. Davon sind auch die öffentlichen Investitionen betroffen, während die Unternehmer unter rückläufigen Direktinvestitionen stöhnen. Zwar ist der Rückgang nach Angaben des Wirtschaftsministeriums im ersten Halbjahr noch moderat, aber angesichts der Turbulenzen auf den internationalen Märkten sind die Perspektiven düster.

Der Mangel an Kapital bei gleichzeitigem Abwertungsdruck auf den heimischen Peso, der binnen eines Jahres trotz der Stützungsaktionen der Zentralbank rund ein Siebtel seines Wertes einbüßte, haben die Regierung auch zu Maßnahmen veranlaßt, die noch vor einem Jahr undenkbar gewesen wären: Der Finanzsektor des Landes wurde dem kurzfristigen Kapital geöffnet.

Mitte September verkündete der Zentralbankpräsident Carlos Massad gemeinsam mit Finanzminister Eduardo Aninat, daß Chile seine Vorschriften zur Regulierung der kurzfristigen Kapitalanlagen streichen werde. Im Juni 1991 wurden sie von der chilenischen Zentralbank eingeführt und selbst der IWF bescheinigt den Chilenen gute Erfahrungen mit den Kapitalverkehrskontrollen. Sie hätten, so steht es im Chile-Survey des IWF von 1995, das Land vor den Auswirkungen der mexikanischen "Tequila-Krise" geschützt, da der Kapitalabfluß in engen Grenzen gehalten werden konnte.

Das Modell ist denkbar einfach - das kurzfristige Kapital, dessen Abzug so manches asiatische Land in den letzten 12 Monaten hat kriseln lassen, wird an die Kette gelegt. Das ganze funktioniert folgendermaßen: Unternehmen, die kurzfristige Kredite im Ausland aufnehmen, müssen 30 Prozent der Investitionssumme bei der Zentralbank für ein Jahr hinterlegen. Zinsen winken ihnen für diese Einlage allerdings nicht, weshalb de facto kurzfristiges Anlagevermögen verteuert wird. Für kleine und mittlere Unternehmen ist es angesichts der hohen Zinsen in Chile fast ausgeschlossen, ihre Investitionen mit Krediten zu finanzieren, monieren Kritiker.

Demgegenüber verweist das Finanzministerium auf den geringen Anteil der kurzfristigen Verbindlichkeiten an den Gesamtschulden, die Chile weniger anfällig in Krisenzeiten mache. "Wir wollen nicht dem Beispiel der südostasiatischen Länder folgen, deswegen halten wir Spekulationskapital aus dem Lande", verteidigte Finanzminister Eduardo Aninat die rigide Kapitalpolitik.

1995 zum Höhepunkt der mexikanischen "Tequila-Krise" hatte Chile die Überwachung des Kapitalverkehrs weiter verschärft, wodurch der Anteil der kurzfristigen Auslandsverbindlichkeiten an den Gesamtschulden von 26 Prozent auf derzeit vier Prozent gesunken war. Anders als Argentinien oder Brasilien blieb Chile dadurch vom kurzfristigen Kapitalabzug verschont und überstand sowohl die "Tequila-Krise", aber auch die erste Welle der Asien-Krise nahezu unbeschadet. "Doch derartige Kontrollmechanismen sind nur sinnvoll, wenn ein Überangebot an Kapital zur Verfügung steht, was derzeit nicht der Fall ist", erklärt Günter Köhne, Analyst der Dresdner Bank Lateinamerika AG.

Für ihn ist es keine Überraschung, daß Chile die entsprechenden Passagen aus dem Kapitel 14 der Zentralbankregularien im September ersatzlos gestrichen hat. Investitionen, nun auch kurzfristiger Art, sind erwünscht, um der sinkenden chilenischen Investitionsquote Auftrieb zu geben. Von den Unternehmern wurde die Regierungsentscheidung zwar begrüßt, jedoch gilt es keineswegs als sicher, daß sie nun ihre Investitionspolitik ändern werden. Sie haben in den letzten Jahren ihr Geld vermehrt im Ausland investiert, allein 1997 waren es rund drei Milliarden US-Dollar, die vorwiegend in Argentinien und Peru angelegt wurden.

Den Grund dafür sieht die chilenische Handelskammer in der Wirtschaftspolitik der Regierung Frei, die wenig innovative Elemente beinhalte. Die Vorreiterrolle, die Chile lange Jahre innehatte und die es zu einem Modell für andere Staaten der Region gemacht hatte, ist längst dahin, so ist aus der Kammer zu hören. Die Regierung verwalte, statt zu gestalten, wodurch die Nachbarländer Chile eingeholt und zum Teil überholt hätten, kritisiert nicht nur José Pi-eiro, einer der Chicago-Boys, die sich General Pinochet vor 25 Jahren ins Kabinett holte.

Diese Einschätzung wird auch vom Uno-Forschungsinstitut Cepal in Santiago geteilt. Das Institut rät den Chilenen, die Exportwirtschaft zu diversifizieren und die zweite Modernisierungswelle zu starten. Während in den Nachbarländern ausländisches Kapital in den Ausbau der Infrastruktur fließt, beraten in Chile die Verantwortlichen noch immer über das Procedere der Konzessionierung. Dadurch büßt das Land internationale Konkurrenzfähigkeit ein, monieren Kritiker, denen auch die Ausgabenpolitik der Regierung ein Dorn im Auge ist.

Diese hatte in den letzten Jahren die Ausgaben für Gesundheit und Ausbildung langsam erhöht und damit die Lebensqualität gerade in den ärmeren Regionen des Landes verbessert. Ein Ansatz, der für Vittorio Corbo, Ökonom an Santiagos katholischer Universität, durchaus sinnvoll ist, da das Land nur über vermehrte Anstrengungen im Bildungssektor langfristig seine einseitige Abhängigkeit vom Rohstoffexport abbauen könne.

So langfristig wie Cobro denken Chiles Unternehmer allem Anschein nach nicht. Sie fordern, daß die Regierung das Investionsklima verbessert, Auslandskapital ins Land holt, statt sich für die Erhöhung des Mindestlohns stark zu machen, wie jüngst geschehen.