Ist CS-Gas abwaschbar?

Gefährliche Orte XLI: In Tempelhof ist sogar das Verbrechen langweilig. Auch ein Supermarktüberfall kann den Bezirk nur kurzzeitig aus der Lethargie befreien

Tempelhof gehört zu den ruhigen, unauffälligen Bezirken Berlins. Neben dem Flughafen verfügt der deutlich überalterte Stadtteil über sichere Listenplätze für CDU-Kandidaten, denn hier wählt man derart beharrlich konservativ, daß Stadtbedienstete den Neuhinzugezogenen beim Anmelden schon mal zuflüstern: "Klasse, wenn hier Jüngere herziehen, vielleicht schaffen wir es dann irgendwann mal, die CDU-Mehrheit zu brechen."

Daß Menschen, die erkennbar keine CDU-Wähler sind, deswegen immer noch nicht unbedingt zu den Sozialdemokraten neigen, kann man sich in Tempelhof offenbar nur schwer vorstellen. Als jetzt bei der Bundestagswahl nicht Rupert Scholz wie in all den Jahren zuvor das Direktmandat errang, sondern eine SPD-Frau gewann, war es eine derartige Sensation, daß die verschiedenen Tempelhofer Anzeigenblättchen sich gar nicht beruhigen konnten und noch wochenlang darüber berichteten. Denn Tempelhof scheint sich zu wandeln.

Auch das Verbrechen zieht langsam ein. Richtiges Verbrechen, nicht bloß Handtaschenklau und Zigarettenautomaten-Aufbrechen. Vor kurzem gab es sogar einen echten Supermarktüberfall - weder gut organisiert noch professionell durchgeführt, aber immerhin erfolgreich.

Die Kaiser's-Filiale am Marienhofer Damm, kaum zwei Jahre alt und zentral gelegen, war bisher nur durch den unangenehm ruckelnden Fahrstuhl von der Tiefgarage zum Laden aufgefallen. Nun aber kommt man dort an und muß sich sehr wundern: Im Vorraum stinkt es. So extrem, daß der stechende Geruch sogar die völlig verstopfte Schnupfennase durchdringt. Irgend etwas stimmt da nicht. Zwei Mädchen erklären fröhlich den Grund: "Hier war gerade ein Überfall, die haben mit Tränengas gesprüht."

Mit viel Tränengas, denn es ist zwar möglich, sich einen Einkaufswagen zu holen, dann muß man den Einkaufsbummel aber auch schon wieder abbrechen und schnell nach draußen gehen: atmen. Dort hat sich inzwischen eine kleinere Menge Einkaufswilliger versammelt, die hustend und schnupfend abwartet, bis das sich CS-Gas verzogen hat. Das dauert jedoch, außerdem kann man durch die Glastür erkennen, daß im Markt selbst durchaus Menschen unterwegs sind, die völlig unbeeindruckt Waren einsammeln. Um den Einkaufswagen zurückzubringen und die Mark wiederzubekommen, muß man sowieso wieder hinein in den Gestank, deswegen betritt man zum ersten Mal im Leben völlig vermummt einen Supermarkt - und fällt dabei überhaupt nicht auf.

Schon in der Gemüseabteilung stellen sich jedoch Fragen, die nicht so einfach zu beantworten, trotzdem vielleicht von existentieller Bedeutung sind: Ist CS-Gas abwaschbar? Wenn ja, womit? Und wenn nein, welche Folgen kann CS-Salat haben? Durchdringt das Reizgas auch Bananenschalen? Das zum Antworten verpflichtete Verkaufspersonal ist nicht zu sehen, die schwere Entscheidung muß ganz allein getroffen werden. Sie fällt dann doch zugunsten der Vitaminversorgung aus.

Auch die anderen Grundbedürfnisse wollen gestillt werden, da kann auf Einzelschicksale keine Rücksicht genommen werden. Deswegen wird so lange an der Leergut-Annahme geklingelt, bis die zuständige Dame die Tür zum Lagerraum öffnet und den Sprudelkasten annimmt. Die Frau hat es ganz offensichtlich schwer erwischt, sie schnieft und tränt und sieht noch dazu ziemlich verängstigt aus. Kein Wunder, denn sie war in der Nähe, als die beiden Täter in die Kasse griffen, das Geld einsackten und wegrannten.

Der Filialleiter nahm sofort die Verfolgung auf, eine ganz dumme Idee, wie sich nur kurze Zeit später herausstellte: Erstens waren die beiden schneller, und zweitens nebelten sie im Wegrennen den Mann und seinen Laden noch schnell mit dem CS-Gas ein: Nun ist also nicht nur das Geld weg, sondern auch das Einkaufen relativ schwierig geworden.

Und das Verlassen des Supermarktes auch. Denn mittlerweile ist die Polizei angekommen, hat im Eingangsbereich Aufstellung genommen und eine Vierer-Menschenkette gebildet. Das sieht unglaublich doof aus. Einer, der mit dem Einkauf fertig ist und nach Hause möchte, wird von den Beamten zurückgedrängt. Der Mann wird böse, zunächst leise, dann immer lauter: "Was soll das? Dazu haben Sie kein Recht! Lassen Sie mich sofort hier raus!" Ein schnurbärtiger Polizist zitiert auswendig die Gesetzeslage, nach der Zeugen von Kaiser's-Überfällen den Supermarkt nicht verlassen dürfen, was den Mann nur noch wütender macht. Der ist nämlich Rechtsanwalt und hat von dem Gesetz noch nie gehört und überhaupt von dem Überfall gar nichts mitbekommen. Deswegen wird er, sollte er je nach Hause kommen, sich dort sofort an seinen Schreibtisch setzen und eine geharnischte Dienstaufsichtsbeschwerde formulieren. Ha!

Die anderen Kunden sehen einander unsicher an. Daß da vorne einer einen einsamen Kampf auch um ihre Grundrechte kämpft, hat man zwar erfaßt, aber die große Solidarisierungswelle bleibt aus. Wenn der Aufenthalt zwangsweise etwas länger dauern wird, dann muß man sich eben die Zeit anderweitig vertreiben. So stehen überall vor den Regalen Menschen, die konzentriert die Etiketten vom Marmeladengläsern und Fertigmenüs durchlesen, denn am Zeitschriftenstand ist kein Platz mehr, dort kann man nämlich endlich auch mal längere Artikel durchlesen, ohne von heftig mißbilligenden Verkäuferinnen gestört zu werden.

Trotzdem kann man sich nicht restlos auf die Lektüre konzentrieren, denn man muß gleichzeitig den Kampf des Anwalts gegen die Berliner Polizei verfolgen, der schließlich ein jähes Ende findet. Die Polizisten machen die Eingangstür frei, der Supermarkt kann wieder verlassen werden. Weil die Kripo, die für Überfälle zuständig ist, noch nicht angekommen ist, schlendern die Ordnungshüter nun herum und gucken die Einkäufermasse prüfend an - irgendwie ein verdächtiges Pack.

Schnell löst sich die Gruppe der illegal Lesenden auf, nicht ohne noch ein paar empörte Worte über Supermarkt-Räuber im allgemeinen und im besonderen fallenzulassen, laut genug, daß auch die Polizei die gerechte Empörung der gesetzestreuen Bürger mitbekommen muß. Nun kann man wieder das tun, wozu man eigentlich hergekommen war.

Die Fleisch- und Käsethekenbesatzung arbeitet schwer unmotiviert vor sich hin und möchte eigentlich lieber das Geschehene diskutieren als Fragen über kontrollierte Rinderaufzucht zu beantworten. Denn in dieser Kaiser's-Filiale wird auch unter normalen Umständen gerne geredet: Am Tag von Berti Vogts' Rücktritt informierten die Damen an der Kasse persönlich jeden Kunden darüber, daß der Bundestrainer endlich das Handtuch geschmissen hatte und waren gerne bereit, die Nachfolge-Frage zu klären - Erich Ribbeck kam in ihren Plänen jedoch nicht vor. Diesmal sitzen die Kassiererinnen eher still da und ziehen Waren über den Scanner, und bevor sie die Kasse öffnen, schauen sie sich die in der Schlange Wartenden genauer an, denn das ist seit heute klar: Jeder Kunde ist ein potentieller Feind.

Draußen ergibt sich dann ein weiteres Problem: Die Polizei hat derart dämlich geparkt, daß die autofahrenden Kaiser's-Kunden keine Chance haben, unfallfrei auf den Mariendorfer Damm zu gelangen. Darf man Bullen anhupen? Irgendwann stellt sich dann einer der Beamten, der viel lieber das Verbrechen aufgeklärt hätte, widerstrebend auf die Straße und regelt den Verkehr. Irgendwie ist sogar das Verbrechen in Tempelhof langweilig.