Karl Lauterbach im Gespräch über die Zwei-Klassen-Medizin

»Was macht Spaß am Ketterauchen?«

Karl Lauterbach sitzt seit 2005 für die SPD im Bundestag. Vorher war er Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und der so genannten Rürup-Kommission. Für die SPD war Lauterbach maßgeblich an der Entwicklung des Konzepts der Bürgerversicherung beteiligt. Er gilt als Kritiker der so genannten Zwei-Klassen-Medizin. Kürzlich hat er sein neues Buch veröffentlicht: »Gesund im kranken System. Ein Wegweiser«.

Was ist krank am deutschen Gesundheits­system?

Die größten Mängel im Gesundheitssystem rühren daher, dass wir zu wenig für die Vorbeugung tun. Das hat zum einen den Hintergrund, dass diese kein Schwerpunkt in der Ausbildung von Medizinstudenten ist. Zum zweiten gibt es wenig Geld dafür, wenn man Vorbeugung praktiziert. Wir könnten einen großen Teil der Fälle von Zuckerkrankheit, von Herzkrankheit, von Bluthochdruck mit vorbeugender Medizin verhindern.

Liegt der Fehler nicht schon in der Struktur des Systems, in der Aufteilung in private und gesetzliche Krankenkassen?

Da besteht das Problem einer Zwei-Klassen-Medizin. Diese ist in Deutschland sehr ausgeprägt. Es gibt einen großen Unterschied zwischen privat Versicherten und gesetzlich Versicherten: Privat Versicherte haben bei einer schweren Erkrankung einen deutlich besseren Zugang zu Spezialisten, weil ein Arzt für die Behandlung derselben Krankheit eindeutig besser bezahlt wird als bei gesetzlich Versicherten. Selbst einfache Fachärzte vergeben ihre Termine heutzutage bevorzugt an Privatpatienten.
Zum anderen brauchen wir große Gesundheitsreformen. Es ist aber so, dass die meisten Bundestagsabgeordneten, die meisten Professoren, also die Meinungsführer in der Sache, privat versichert und von den Reformen im gesetzlichen System, die sie zum Teil mitverantworten, gar nicht betroffen sind. Das behindert den Reformprozess.

Wie wirkt sich der seit diesem Jahr bestehende Gesundheitsfonds auf die Lage aus?

Der Gesundheitsfonds hat bis jetzt keine Auswirkungen. Ein Problem an ihm könnte Folgendes sein: Es wurde beschlossen, dass es im Gesundheitsfonds einen einheitlichen Beitragssatz gibt. Sollte der demnächst nicht mehr ausreichen, müssten die Krankenkassen eine Kopfpauschale erheben, die vom Einkommen unabhängig ist. Das könnte eine zusätzliche Belastung für Geringverdiener werden. Deshalb habe ich den Gesundheitsfonds in seiner jetzigen Form auch abgelehnt.

Dennoch hat Ihre Partei den Gesundheitsfonds ebenso zu verantworten wie vorangegangene Reformen, die Lohnabhängigen und Geringverdienern Nachteile gebracht haben. Warum sollte man ausgerechnet von der SPD eine Besserung der Lage erwarten?

Der SPD ist es gelungen, durch die Einführung der so genannten Chronikerprogramme die Behandlung von Zucker-, Herz- oder Asthmapatienten deutlich zu verbessern. Die Zahl der Herzinfarkte und Schlaganfälle bei Patienten mit Diabetes ist um 20 000 bis 30 000 gesunken. Das ist ein großer Erfolg, es sind viele Menschenleben gerettet worden. Für diese Betroffenen ist das wichtiger als der Beitragssatz. Niemand sagt: »Jetzt habe ich zwar einen Schlaganfall bekommen, dafür konnte aber wenigstens der Beitragssatz stabil gehalten werden.«
Den Gesundheitsfonds konnten wir mit der Union nicht besser gestalten. Die Große Koalition ist für die Gesundheitspolitik kein Erfolgsmodell.

Die Praxisgebühr oder den Sonderbeitrag für lohnabhängig Beschäftigte, mit dem ganz im Sinn der Unternehmer die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung faktisch beendet wurde, hat die SPD aber noch während der rot-grünen Koalition eingeführt.

Die SPD ist in der letzten Wahl mit der Bürgerversicherung angetreten, das tut sie in diesem Jahr wieder. Ich persönlich halte mich nie damit auf, was in der Vergangenheit gewesen ist. Mir geht es darum, wie man eine Bürgerversicherung, durch die jeder unabhängig vom Einkommen medizinisch gut versorgt wird, in Zukunft politisch durch­setzen kann.
Und man darf nicht vergessen: Wir regieren in der Gesundheitspolitik seit vielen Jahren gegen einen von der Union dominierten Bundesrat. Deshalb sind alle Reformen der letzten Jahre Kompromisse mit der Union gewesen wie z.B. die Reform von 2003, die Sie indirekt kritisiert haben.

Was hätten die Patienten von der Bürgerversicherung zu erwarten?

Es gäbe zum einen keinen Unterschied mehr zwischen der Behandlung von gesetzlich und privat Versicherten. Mit gleichen Honoraren für die Ärzte würde der Unterschied in der Versorgung verschwinden. Zweitens wäre der Beitrag vom Einkommen abhängig. Wer gut verdient, könnte sich nicht der Solidarität entziehen, sondern würde auch in ein gemeinsames Modell einzahlen. Das Modell der Bürgerversicherung ist gekennzeichnet durch gleiche Behandlungsqualität unabhängig vom Einkommen und zugleich durch eine höhere Einzahlung in das System durch die Einkommensstarken.
Die skandinavischen Länder haben im Großen und Ganzen Bürgerversicherungen, alle Patienten sind in einem System. In diesen Ländern sind zum Teil die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Armen und Reichen deutlich niedriger. Sie betragen dort nur zwei bis vier Jahre, in Deutsch­land liegen sie zwischen sechs und zehn Jahren.

In Ihrem Buch geben Sie nicht nur einen Überblick über das Gesundheitssystem, sondern auch Ratschläge, wie man sich gesund halten könne. Sind solche Anleitungen zu »wachsender Eigenverantwortung« nicht Teil der Entwicklung, in der die Kosten für die eigene Gesundheit zunehmend den Einzelnen aufgezwungen werden?

Ich persönlich habe kein Interesse daran, die Patienten stärker zu belasten, ich bin gegen höhere Zuzahlungen zu Arzneimitteln oder beim Arzt­besuch, die oft kranke, einkommensschwache Menschen davon abschrecken, eine Praxis aufzusuchen. So werden Krankheiten teilweise verschleppt. Eine bessere Vorsorge, durch die Menschen weniger Salz, Zucker, Nikotin und Fett konsumieren, ist aber eine humanitäre Aufgabe. Es ist nicht links, stark zu rauchen, sich wenig zu bewegen und dann krank zu werden.

Von Genussmitteln wie Tabak und Alkohol wird in der öffentlichen Debatte häufig als Ursachen von Krankheiten gesprochen, auch von schlechter Ernährung oder mangelnder Bewegung. Andere Krankheitsursachen werden eher selten erwähnt: Arbeit, sei es nun zu viel oder unter schlechten Bedingungen, oder Arbeitslosigkeit mit den zugehörigen materiellen und psychischen Nöten.

Dass z.B. Arbeitslosigkeit sehr schnell krank macht, ist bekannt. Man darf aber das eine nicht gegen das andere ausspielen und sagen: Solange die Leute Arbeit haben, sollen sie rauchen. Derjenige, der wenig Stress und Arbeit hat und raucht, wird trotzdem mit größerer Wahrscheinlichkeit an Krebs erkranken als derjenige, der keine Arbeit hat und nicht raucht. Arbeit spielt dennoch eine wichtige Rolle. Wir müssten viel mehr tun, um allen Menschen eine auskömmliche Arbeit zu beschaffen.
Aber ich ärgere mich auch immer darüber, wenn der Eindruck vermittelt wird, die Menschen blieben gesund, wenn nur die sozialen Verhältnisse besser wären. Auch in Kuba oder in Schweden leiden die Einkommensschwachen unter schweren, aber vermeidbaren Krankheiten – wobei in Kuba natürlich auch alles andere als ideale Bedingungen bestehen. Machen wir uns nichts vor: Vermeidbare Krankheiten sollten vermieden werden. Dabei müssen die Leute nicht ohne Spaß leben. Aber was macht Spaß am Ketterauchen?

Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, hat kürzlich die Forderung vorgebracht, medizinische Behandlungen zu rationieren. Das hat für großen Aufruhr in der Presse und der Politik gesorgt. Besteht nicht längst eine verdeckte Rationierung, etwa durch die Quartalspauschalen, mit denen Ärzte wirtschaften?

Im Einzelfall gibt es sicher Ärzte, die Patienten schon mal in das nächste Quartal schieben, um den neuen Krankenschein abrechnen zu können. Kranke Menschen im Kalender nach hinten zu schieben, um noch mal kassieren zu können, halte ich für unethisch, zumal deutsche Ärzte im Durchschnitt nicht schlecht verdienen. Nach wie vor verfügen sie über ein Durchschnittseinkommen von etwa 10 000 Euro monatlich vor Steuern. Nur Hausärzte und Kinderärzte verdienen zu wenig. Aber man darf sich den Wunsch nach einem höheren Einkommen, der bei den ohnehin gut verdienenden Röntgen- oder Laborärzten besteht, nicht als Notwendigkeit zur Rationierung verkaufen lassen. Verteilte man das vorhandene Geld besser, käme man gut mit ihm aus.

Ärztevertreter wie Hoppe behaupten das Gegenteil und sprechen von fehlendem Geld.

Innerhalb der Ärzteschaft könnte man das Geld besser verteilen, indem man die Kassenärztlichen Vereinigungen abschafft. Dann könnten staatliche Gremien oder Kommunen den Bedarf regeln, die Facharztgruppen, die derzeit zu kurz kommen, könnte man besser honorieren. Warum sollen Pathologen, Labor- und Röntgenärzte doppelt so viel verdienen wie Haus- oder Kinderärzte? Es ist aber insgesamt aus meiner Sicht genug Geld im System.

Wäre es nicht ohnehin dringender geboten, die Arbeitsbedingungen von Lohnabhängigen im medizinischen Bereich wie etwa Krankenpflegern deutlich zu verbessern, als über die Einkünfte der Ärzte zu reden?

Zurzeit gibt es in den Krankenhäusern einen Verteilungskonflikt: Die Ärzte werden wegen neuer Tarifstrukturen deutlich besser bezahlt. Die Krankenhäuser sparen nun das Geld, das zusätzlich an die Ärzte geht, zum Teil dadurch, dass sie Krankenpfleger entlassen oder schlechter bezahlen. Dieses Tarifgefüge im Krankenhaus muss verändert werden. Denn wenn wir mittelfristig nicht den Pflegeberuf attraktiver machen, werden wir in den Krankenhäusern einen massiven Mangel an Pflegekräften haben.