Über das Buch »Die Blumen von Tarbes« von Jean Paulhan

Leichte Ekstase

Eine Sensation, auch wenn’s keiner merkt: Jean Paulhans »Die Blumen von Tarbes«, ein Hauptwerk der Poetik, erscheint zum ersten Mal auf Deutsch.

ean Paulhan ist der bekannteste Unbekannte der französischen Literatur. Jeder, der sich mit ihrer Geschichte befasst, wird ihm früher oder später begegnen. Paulhan war 40 Jahre lang Lektor des wichtigsten Verlages, Gallimard, er war 30 Jahre lang Herausgeber der wichtigsten literarischen Zeitschrift, der Nouvelle Revue Française (NRF). Es gibt keinen bedeutenden französischen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts, mit dem er nicht in Verbindung gestanden, kaum einen, den er nicht entdeckt, gefördert, zurückgewiesen oder gedemütigt hätte. Allein die veröffentlichte Korrespondenz umfasst einen Regalmeter.
Nicht selten stand er im Mittelpunkt politischer und gesellschaftlicher Skandale. Paulhan gehört zu den ersten, die der Résistance beitreten, er wird verhaftet, wird bedroht, aber wieder entlassen (die Geschichte erzählt er in »Une semaine au secret«). Grund für seine Verschonung ist, dass er immer auch Kontakte zu Kol­laborateuren gehalten hat. Und nach dem Krieg gehört er zu den ersten, die eine Amnestie für sie fordern. Wie Albert Camus, wie René Char verachtet er die Tribunale. Er verachtet auch die KP, und das ist vielleicht der Grund dafür, dass er in den Jahren, in denen jeder Intellektuelle, der auf sich hält, in der Partei ist, an Einfluss verliert. Aber es ist nicht der einzige Grund.
Paulhans völlige Unabhängigkeit ist seine Stärke und sein Fluch. Obwohl in der Ehrenlegion und in der Académie, benimmt er sich keineswegs wie ein würdiger Akademiker. Er schreibt das Vorwort zur »Geschichte der O.«, deren Verfasserin, Dominique Aury, seine Geliebte ist. Obwohl dekorierter Résistance-Kämpfer, ist er es, der nach dem Krieg den Kollaborateur Louis-Ferdinand Céline gegen alle Proteste wieder veröffentlicht. Paulhan tritt kurz vor seinem Tod 1968 sogar für die Begnadigung von Rudolf Heß ein. Die persönliche stellt er stets über die poli­tische Moral, was einen durchaus befremden kann.
Und obwohl er eine berühmte Betriebsnudel ist, ist er trotzdem ein Schriftsteller, was einander doch ausschließen sollte. Es gibt jedenfalls in Deutschland keinen Lektor oder Verbandsvorsitzenden, keinen Leiter von Symposien, keinen literarischen Juroren oder Conférencier, der gleichzeitig ein interessanter Schriftsteller wäre. Paulhan ist aber genau das, ein interessanter Schriftsteller. Auch in Frankreich wissen das nicht allzu viele.
Zwar hat er selbst noch eine Ausgabe seiner Schriften vorgelegt, die aber kaum beachtet worden ist. Nachdem er fast in Vergessen geraten war, erschien vor drei Jahren bei seinem alten Verlag Gallimard der erste Band einer neuen Gesamtausgabe. Er enthält die Erzählungen; kurze Stücke von finsterer Komik und von einer geradezu beängstigenden Strenge der Form. Sie sind wie alles, was Paulhan schreibt, sehr dicht und von einer großen Widerborstigkeit. Und dasselbe gilt auch für Paulhans Hauptwerk, die Essays zur Poetik und Ästhetik, allen voran »Die Blumen von Tarbes« (1941).
Dieser Essay gehört zum Besten, was in den vergangenen 100 Jahren zum Thema geschrieben worden ist. Aber nicht einmal die zuständigen Fachleute, die Ästhetiker, zitieren ihn. Denn Paulhan ist bei aller Strenge so unseriös wie nur möglich. Er bringt abgelegene Zitate wie Blüten in Umlauf, er erzählt Anekdoten, Witze, erfindet mathematische Formeln, springt von der Metaphysik in den Matsch, lacht, beobachtet die Nachbarsfrau oder den Schornsteinfeger, vergleicht sie mit Beckett, wundert sich, lässt berühmte Dichter wie Waschweiber miteinander streiten und stellt verdiente Linguisten als senile Käuze hin. Zugleich fordert er vom Leser eine hohe Konzentration, denn auch wenn einmal weiter ausgeholt wird, folgen die Pointen überraschend wie die Haken eines Boxers. Und obwohl er sichtlich ein Mann des Common Sense ist, ist es doch der Common Sense von Jean Paulhan. Er gibt sowohl dem Klassiker (den er »Rhetoriker« nennt) wie dem Romantiker (dem »Terroristen«) Recht, die beiden Streithähne hackten, meint er, immerzu auf sich selbst ein. Das ist zu abgeklärt, um erfolgreich zu sein; Paulhan schreibt zu komisch für Dr. Dingsda und zu ernst für Papa im Ohrensessel.
Obwohl sich Friedhelm Kemp in den sechziger Jahren ein wenig um ihn gekümmert und der Verlag Gachnang & Springer drei (sehr empfehlenswerte) Büchlein mit Aufsätzen von Paulhan veröffentlicht hat, liegt kaum etwas von ihm in deutscher Übersetzung vor. Selbst sein Hauptwerk erscheint nun zum ersten Mal – nicht bei Hanser, nicht bei Suhrkamp, nicht bei Fischer oder Piper, sondern bei Urs Engeler, einem Schweizer Einmannverlag. Für die wichtigen Bücher sorgen die Kleinen. Das hat seinen Preis; Engeler hat angekündigt, dass sein nächstes Herbstprogramm sein vorerst letztes sein wird. Aber hätte er nur dieses eine Buch herausgebracht, die Mühe wäre es wert gewesen.
Hans-Jost Frey hat die Schriften Paulhans glänzend ins Deutsche übertragen; zwei ältere Übersetzungen von Kemp sind beigegeben. Enthalten sind nicht alle, aber doch die meisten Einlassungen Paulhans zu seinem Lebensthema, dem Verhältnis von Wort, Gedanke und Gegenstand. Im Zusammenhang gelesen, wird deutlich, dass es Paulhan um deren Vereinigung ging.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass der Verbalist immer der andere ist. Ein Politiker bezichtigt den andern der leeren Worte. Der Politikverächter hat gar alle Politiker im Verdacht, Stroh zu dreschen. Der Buchhalter hält den Philosophen, der Philosoph den Lyriker, der Lyriker den Moderator, der Moderator den Buchhalter für einen üblen Verbalisten. Aber nie hat einer sich selbst im Verdacht, Verbalist zu sein, und zwar deshalb, sagt Paulhan, weil für einen jeden die eigenen Wörter, mögen sie auch für alle anderen bloß Gewäsch sein, Bedeutung besitzen. Auch ist die Diskussion, ob »Demokratie« bloß ein Wort ist, rasch vergessen, wenn die Faschisten kommen. Und »Geld« und »Tod« mögen für einen Atheisten so nichtssagende Abstrakta sein wie »Gott«, aber nicht, wenn er im Lotto gewinnt oder sein Vater stirbt.
So lässt sich in der Literaturgeschichte das Phänomen beobachten, dass immer eine Generation der ihr vorangegangenen vorwirft, bloß in Wörtergirlanden und Formgeranke verliebt zu sein, während es doch um ganz etwas anderes gehe: Lebendigkeit, Gefühl, Wahrheit, Traum, Revolution, was immer. Die Weimarer Klassiker haben den Barock und die französische Klassik als formalistisch verspottet, die Romantiker die Klassiker, die Naturalisten die Romantiker, die Expressionisten die Naturalisten, die Sach­lichen die Expressionisten, und so bis auf den heutigen Tag weiter; man denke an den Spott der inzwischen auch so gut wie vergessenen handfesten Erzähler über die postmodernen »Flaneure«.
Jede neue Generation will glauben machen, es ginge ihr anders als der alten nicht um Literatur, sondern um etwas viel Wichtigeres. »Ich bin nicht Schriftsteller, sagt der Schriftsteller.« Daraus entsteht dann wieder rebellische Literatur, die kurz später von jüngeren Rebellen für abgeschmackt gehalten wird. Höchst selten kommt einem Schriftsteller zu Bewusstsein, dass das, was er hat, auch nicht mehr ist als ein Wort, welches die 20 Jahre Jüngeren schon jetzt für ein Klischee halten. Es bleibt den Verächtern der Rhetorik verborgen, dass sie einer Rhetorik gehorchen. Sie träumen sich jenseits der Sprache.
Wie Frey schreibt, leben sie in einer »referentiellen Illusion«, sie glauben, dass allein ihr Wort Bedeutung besitze, manchmal sogar, dass es nur ein Wort für das gebe, was sie sagen wollen. (Ausführlich dazu: »Ich war einmal ein Terrorist«, Jungle World, 15/2006) Vor allem die nach den »Blumen von Tarbes« entstandenen Aufsätze verdeutlichen, dass Paulhan für diese Illusion Verständnis hat. Er verteidigt nicht die Fremdheit und Künstlichkeit der Sprache. Auch er fordert die Unterordnung des Körpers unter den Geist, folglich auch die der Sprache, »dieses Körpers des Denkens«, unter den Gedanken. Auch für ihn ist das Wort lediglich ein Ve­hikel, um von hier nach da zu kommen. Aber er stellt fest, dass es kein anderes gibt, und dass man es deshalb nicht zu gering schätzen sollte, auch selbst wenn es kein Nachen ist, sondern eine stinkende alte Fähre, die schon viele befördert hat.
Am Ende von »Die Gabe der Sprachen« (1963–65) verwandelt sich die Unverbundenheit von Wort und Gedanke, die der small talk so mühelos verbinden kann, in eine Unio mystica. Pragmatik nähert sich mit einem Mal der Esoterik. Frey schreibt von einer »Erinnerung an eine ursprüngliche Einheit von Wort und Gedanke«. Daran haben auch Walter Benjamin und andere geglaubt. Doch ist das nicht genau die Sprach­magie, die der junge und jüngere Paulhan entschieden bekämpft hat? Nicht nur deshalb ist es bedauerlich, dass der Band antimagische Schriften wie »Jacob Cow« (1921) oder »La Preuve par l’étymologie« (Etymologie als Beweis, 1953) nicht enthält.
Die mystische Wende kommt selbst noch in »Die Gabe der Sprachen« ziemlich überraschend. Denn seitenlang hat er zuvor das Auseinanderfallen von Wort, Gedanke und Sache mit drolligen und exzentrischen Beispielen gefeiert, nicht nur Wortspielen, Kalauern und Vieldeutigkeiten, auch Lügen, Verdrehungen und Prahlereien. »›Guten Tag, Micheline. Was für ein schöner Bisonmantel!‹ ›Und nicht einmal teuer, Michel: ich habe fünftausend Francs dafür bezahlt.‹ ›Fünftausend Francs, Micheline? Das kann nicht wahr sein.‹ ›Es ist auch nicht wahr, Michel. Aber gib zu, dass es nicht teuer ist.‹«
Die Sprache läuft zu ganzer Größe auf, wenn sie ihre Gegenstände absichtlich oder unabsichtlich verfehlt, sie verwechselt, verwirrt, vermischt. Und was wäre die adamitische Ursprache, in der Wort, Ding und Gedanke dasselbe sind, anderes als ein Automat, in den einer ein Geldstück einwirft und dafür tatsächlich die richtige Schokolade erhält? Eine langweilige Sache.
Paulhans Mystik will aber die babylonische Sprachverwirrung gar nicht ungeschehen machen. Er erkennt bloß ein Wunder an, das täglich geschieht. Wir plaudern ohne nachzudenken, und Wörter, Dinge, Gedanken sind dabei tatsächlich eins oder scheinen es wenigstens zu sein. Sie trennen sich erst in der Reflexion – und in der Literatur. Wie wäre es aber, wenn Reflexion das Vorreflexive einholen oder Denken das Denken wegdenken könnte? Paulhan führt das Beispiel eines Faulpelzes an, der morgens nicht aus dem Bett kommt und sich dann mit einem ganz einfachen Trick behilft: »Er lässt Überlegungen und Ideen (wie man treffend sagt) fallen. Er lässt sich treiben, er schafft Nacht in seinem Geist. Er gehorcht ich weiß nicht was für einer leichten Ekstase. Und was geschieht? Nach wenigen Augenblicken findet er sich auf seinen Füßen, ohne dass er weiß wie und warum, ohne dass er seine Hände und Füße gebrauchen musste. Aber immerhin auf den Füßen. Das ist alles, was es brauchte.«
Die »leichte Ekstase«, die hier beschrieben wird, gleicht derjenigen, die auf die vollendete Skepsis folgt. Der erst an den Wörtern zweifelte, zweifelt nun an seinem Zweifel. Dichtung, so scheint er am Ende zu sagen, sollte gelingen wie ein Geplauder mit der Bäckersfrau. Selbst der Mystiker Paulhan schwebt nicht, er steht immer auf seinen Füßen. Er hat es nicht nötig, sich aufzublasen. Er weiß, dass das Einfache kompliziert ist, und dass das Komplizierte es sich oft zu einfach macht.

Jean Paulhan: Die Blumen von Tarbes und weitere Schriften zur Theorie der Literatur. Herausgegeben von Hans-Jost Frey. Aus dem Französischen von Hans-Jost Frey und Friedhelm Kemp. Urs Engeler Editor, Basel/Weil 2009, 363 Seiten, 32 Euro