Die Proteste im Iran

Wehe den Betrügern!

So warnt die 83. Sure des Korans. Der religiöse Führer des Iran, Ali Khamenei, beherzigte diese Warnung nicht. Nun ist er mit Massenprotesten und einer Spaltung des Establishments konfrontiert.

Wer göttliche Rechtleitung für sich in Anspruch nimmt, hat es nicht immer leicht. Denn man erwartet von ihm, dass er an einem einmal getroffenen Urteil festhält. Doch Ali Khamenei, der religiöse Führer des Iran, bezeichnete den angeblichen Wahlsieg Mahmoud Ahmadinejads am Sams­tag als »Gottesurteil«, am Montag ordnete er an, das Wahlergebnis noch einmal zu überprüfen.
Die naheliegende Frage, ob Gott es sich am Sonntag anders überlegt hat, spielt in der iranischen Debatte derzeit keine Rolle. Obwohl das Regime zeitweilig die Internetverbindungen kappte und den Mobiltelefonverkehr unterband, versammelten sich nach der Wahl erst Tausende, dann Zehn- und am Montag sogar Hunderttausende auf den Straßen Teherans und anderer Städte, um gegen den offensichtlichen Wahlbetrug zu protestieren. Die Wut ist groß, zahlreiche Polizisten und Milizionäre, die Demonstranten angegriffen hatten, wurden verprügelt. Anfänglich beschränkte sich die Staatsmacht auf den Einsatz von Knüppeln und Tränengas. Doch in der Nacht zum Dienstag wurden nach Angaben der staatlichen Radios in Teheran sieben Protestierende getötet, angeblich hatten sie versucht, einen Militärposten zu stürmen. Die tatsächliche Zahl der Toten könnte weit höher liegen, zumal es aus anderen Städten bislang keine Informationen über den Verlauf der Proteste gibt.

Dass Khamenei es sich anders überlegt hat, ist allerdings wohl weniger der Angst vor einer Ausweitung der Proteste zu verdanken. Glücklich sind die Geistlichen sicherlich nicht darüber, dass eine wachsende Zahl von Iranern sich mehr oder minder offen gegen das islamistische System wendet. Vor allem unter Arbeitern, Frauen und Studenten haben sich eine Reihe illegaler und halb­legaler Oppositionsgruppen gebildet, die nun auf der Straße zusammenfinden. Noushin Ahmadi Khorasani gehörte zu den Dissidenten, die im Jahr 2007 versuchten, eine Million Unterschriften für eine rechtliche Gleichstellung der Frauen zu sammeln. Die Bewegung wurde unterdrückt. »Der Wahlkampf gibt diesen Bewegungen eine Gelegenheit, eine gemeinsame Plattform zu finden«, schrieb sie vor der Wahl im Online-Magazin The Mark.
Derzeit vereint die Demonstranten jedoch vornehmlich die Feindschaft gegenüber Ahmadinejad, und der Opposition fehlt es noch an einer lan­desweiten Organisationsstruktur. Für die Unterdrückung der Bewegung stehen neben der Polizei und der Armee auch noch »Revolutionswächter« und andere ideologisch überzeugte Milizionäre be­reit. Akut gefährdet ist das Regime durch die Massenproteste daher nicht.
Doch der Machtkampf innerhalb des Regimes ist eskaliert, und offenbar hat Khamenei so viele Gegner im Establishment, dass er vielleicht sogar um sein Amt fürchten muss, wenn er keine Zu­geständnisse macht. Eine Absetzung des religiösen Führers ist eigentlich nicht vorgesehen, da sie die Legitimation des Regimes in Frage stellt, Ar­tikel 111 der Verfassung gestattet diese Maßnahme jedoch. Die Gegner Ahmadinejads könnten sich aussuchen, ob sie ihm »sozialen und politischen Scharfsinn«, »Besonnenheit« oder die »angemessenen Führungsqualitäten« absprechen, die einen religiösen Führer auszeichnen müssen. Sie könnten ihm auch nachträglich die theologische Qualifikation aberkennen.
Khamenei, der als langweiliger Prediger und bes­tenfalls mittelmäßiger Gelehrter gilt, verdankte seine Ernennung im Jahr 1989 vornehmlich dem Mangel an hochrangigen Theologen, die zuverlässig genug für einen so bedeutenden Posten erschienen. Im Schnellverfahren wurden ihm damals die notwendigen Titel zuerkannt. Die Anhänger Khomeinis hatten sich auch gegen widerspenstige Kleriker durchsetzen müssen, die an der traditionellen schiitischen Doktrin festhielten und gesellschaftlichen Einfluss beanspruchten, die Machtübernahme der Geistlichkeit aber für ein gefährliches politisches Abenteuer hielten. Diese Geistlichen wurden isoliert, haben jedoch weiterhin Anhänger, und nun hat Khamenei auch vie­le regimetreue Kleriker gegen sich aufgebracht.
Zuständig für eine Amtsenthebung ist der »Expertenrat«. Dessen 86 Mitglieder werden gewählt, kandidieren dürfen jedoch nur vom Wächterrat ausgewählte Männer. Die Hälfte der zwölf Mitglieder des Wächterrats ernennt der religiöse Führer, die anderen sechs werden vom Parlament unter Kandidaten ausgewählt, die der Oberste Richter zugelassen hat, der wiederum vom religiösen Führer ernannt wird.
Obwohl dieses islamistische System der checks and balances dem religiösen Führer fast unbeschränkte Macht zuerkennt, erwartet man von ihm, eine Art ideeller Gesamtmullah zu sein. Er soll Kompromisse schließen und berücksichtigen, dass sein Regime aus Fraktionen konkurrierender Geistlicher, Offiziere, Politiker und Geschäftsleute besteht. Ein beachtlicher Teil des Establishments will Ahmadinejad loswerden. Die Grundlagen des islamistischen Systems stellen die etablierten Gegner des Präsidenten nicht in Frage, doch halten sie es für ratsam, den Iranern im Alltag kleine Freiheiten zu gewähren, und glau­ben, dass der Iran weit leichter zu einer starken und anerkannten Regionalmacht werden kann, wenn der Präsident auf Holocaust-Leugnung und Vernichtungsdrohungen gegen Israel verzichtet.

Die Wahlen dienen vornehmlich dem Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Fraktionen des Regimes. Manipuliert wurden sie immer, doch auch beim Wahlbetrug gilt, dass divergierende Interessen berücksichtigt, unterlegene Frak­tionen also entschädigt werden sollen. Khamenei hat diese informelle Regel gebrochen, er will den »Reformern« ihren Anteil nicht gönnen. Für gewöhnlich wird das offizielle Ergebnis erst drei Tage nach der Wahl bekannt gegeben, in dieser Zeit kann über eine Kompensation für die Verlierer verhandelt werden. Diesmal betrug die Frist nur drei Stunden, eine verdächtig kurze Zeit­spanne für die Auszählung von angeblich etwa 40 Millionen Stimmzetteln. Überdies beachteten die Fälscher nicht einmal die elementarsten Regeln für eine halbwegs glaubwürdige Manipulation, so wurde den unterlegenen Kandidaten nicht einmal in ihrer Herkunftsprovinz eine Mehr­heit zuerkannt.
Damit brach Khamenei noch eine weitere informelle Regel, denn die Stimmung der Bevölkerung, deren Widerstandsbereitschaft angesichts der harten Repression immer wieder erstaunt, kann den Ayatollahs nicht gleichgültig sein. Das Regime legt großen Wert darauf, den Eindruck zu erwecken, es repräsentiere den Willen Gottes und der Bevölkerung. Die nun offen zutage getretene Spaltung schadet dem gesamten Establishment, und offenbar machen recht viele Geistliche und Politiker Ahmadinejad und seinen Men­tor Khamenei dafür verantwortlich.
Bislang hat sich noch kein bedeutender Geistlicher gefunden, der Ahmadinejads angeblichen Sieg anerkennen mag. Der Klerus schweigt oder wendet sich gegen Khamenei wie Ayatollah Yussef Sanei, der Wahlmanipulationen als »Todsünde« und Ahmadinejads Sieg als »illegitim« bezeichnete. Die »Vereinigung der kämpferischen Kleriker« gibt zu bedenken: »Wenn dieses Vorgehen zur Normalität wird, schädigt dies die republikanischen Elemente der Regierung, und die Bevölkerung wird das Vertrauen in das System verlieren.«
Mir Hussein Mousavi scheint nun mit einer Doppelstrategie gegen den religiösen Führer vorgehen zu wollen. Einerseits ruft er zu öffentlichen Protesten auf, er bemüht sich um street credibility und will beweisen, dass die Iraner hinter ihm stehen. Am Montag sprach er bei einer an sich verbotenen Kundgebung in Teheran, der »Reformer« Mohammed Khatami hatte in seiner Amts­zeit dergleichen nie gewagt.
Andererseits mobilisiert Mousavi die Geistlichkeit, er beklagte sich in einem Brief beim Wächterrat über den Wahlbetrug, scheint sich aber vor allem um Unterstützung im Expertenrat zu bemühen, dessen Vorsitzender sein Verbündeter Ha­shemi Rafsanjani ist. Rafsanjani ist der nach Khamenei wohl einflussreichste Politiker im Iran und überdies der Repräsentant der islamistischen Bourgeoisie. Angeblich begab er sich in die »heilige Stadt« Qom, das Zentrum der Geistlichkeit, um Bündnisgespräche zu führen und zu erkunden, ob er im Expertenrat eine Mehrheit für die Absetzung Khameneis finden kann.
Ob Rafsanjani tatsächlich so weit gehen will, ist unklar, doch offenbar hat ein informelles Bündnis hochrangiger Geistlicher und Politiker Khamenei klar gemacht, dass er zu weit gegangen ist. Dass der religiöse Führer nun sein »Gottesurteil« zurücknehmen musste, bedeutet allerdings noch nicht, dass er den Machtkampf verloren hat. Er hat weiterhin die Möglichkeit, zögerliche Geistliche unter Druck zu setzen oder zu bestechen, und er weiß den Militärapparat auf seiner Seite. Auch Ahmadinejad, ein ehemaliger Offizier der Revolutionsgarden, hat eine Massenbasis. Er repräsentiert zwar nicht die Armen und gewiss nicht die für unabhängige Gewerkschaften kämp­fenden Industriearbeiter, wird aber von vielen im informellen Sektor Beschäftigten unterstützt, teils aus Überzeugung, teils weil er dieser Klientel immer wieder Geschenke zukommen lässt. Bedeutsamer im Konfliktfall ist sein Anhang unter den Milizen, er kann auf mehrere Millionen Bewaffnete zählen.

Beide Seiten gehen in diesem Konflikt hohe Risiken ein. Die Bewegung auf der Straße hat in den ersten Tagen enorm an Zulauf gewonnen, es ist fraglich, ob Mousavi sie dauerhaft kontrollieren kann. In Teheran kursieren offenbar Aufrufe für einen Generalstreik. Die Proteste könnten sich radikalisieren und das gesamte Regime angreifen. Dann dürfte Mousavi die Unterstützung des Establishments verlieren. Khamenei hat erst­mals Schwäche gezeigt, in einer Diktatur ist das für alle Gegner eine Ermutigung. Gesteht er den Wahlbetrug ein, diskreditiert er sich und das Regime. Betrügt er noch einmal bei der Überprüfung, die der Wächterrat bis Mitte kommender Woche abschließen will, wird er die Bewegung unterdrücken und mit einem diskreditierten Präsidenten gegen einen erheblichen Teil des Establishments regieren müssen.