Ali Erol und Joelle im Gespräch über Homosexualität und Homophobie im Nahen Osten

»Wir sind keine Opfer«

Ali Erol, von der Schwulen- und Lesbenorga­nisation Kaos GL aus Ankara, und ­Joelle, von der Gruppe Meem, einer Organisation von nicht-heterosexuellen Frauen aus Beirut, sprachen mit der Jungle World über die rechtliche, politische und soziale Lage von Homosexuellen im Nahen Osten. Das Gespräch fand im Rahmen des Festivals »Love me Gender – Gender is Happening« des Gunda-Werner-Instituts in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin statt.

Was können Sie über die Gaypride-Paraden in Ihren Ländern berichten?

Ali: Die Gaypride-Parade in Istanbul war mit rund 2 500 Teilnehmern und Teilnehmerinnen ein Erfolg. Obwohl die Parade zum siebten Mal stattfand, kann man die Lage nicht mit Berlin vergleichen, wo am selben Tag zwei Veranstaltungen stattfanden, die »offizielle« Mainstream-Parade und der Transgeniale CSD in Kreuzberg. Wir haben bis jetzt nur eine Parade und sind damit zufrieden. Aber obwohl die türkischen und westlichen Medien ihre Aufmerksamkeit immer auf Istanbul richten, ist es für uns sehr wichtig, ­darauf hinzuweisen, dass auch in anderen Städten der Türkei etwas geschieht. Unsere Orga­nisation hat ihren Sitz in Ankara, dort gab es eine Demonstration am 17. Mai, am internationalen Tag gegen Homophobie. Verschiede LGBT-Gruppen marschierten in der Hauptstadt vor dem Parlamentsgebäude. Es war eine sehr wichtige Veranstaltung für die Sichtbarkeit von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgendern in unserem Land.
Joelle: Im Libanon gab es keine Pride-Parade. Selbst wenn die Existenz der LGBT-Community von Staat und Gesellschaft in gewissem Maße toleriert wird, ist es in unserem Land zu früh für Veranstaltungen dieser Art. Ein wichtiges öffentliches Ereignis, das mit dem Gaypride verglichen wurde, fand im Februar statt. Es war eine Demonstration gegen Homophobie, die allerdings nicht ausschließlich als schwul-lesbische Veranstaltung geplant war. Kurz davor waren zwei Schwu­le an einem öffentlichen Ort in Beirut zusammengeschlagen worden. Viele Medien im Libanon berichteten darüber und bezeichneten Homophobie als Verletzung der Menschenrechte. Auch wegen der großen Medienresonanz rief Helem, die einzige offizielle Organisation in der arabischen Welt, die sich für die Rechte von LGBT einsetzt, zu einem Sit-In gegen jede Form von Diskriminierung und Gewalt auf. Weil so viele Homosexuelle daran teilnahmen, wurde es als die erste Demonstration von LGBT im Libanon bezeichnet.

Möchten Sie eine solche Parade überhaupt haben? Es soll die Kritik geben, die Gaypride sei ein Import aus dem Westen.

Joelle: Diese Kritik gibt es, und wir versuchen, damit umzugehen, indem wir sehr vorsichtig unsere Veranstaltungen planen. Das Thema der Sicht­barkeit von LGBT im Libanon ist komplex. Ein sehr verbreitetes homophobes Argument im Nahen Osten ist, dass Homosexualität ein Import aus dem Westen sei. Im Vergleich zu anderen arabischen Ländern gilt der Libanon als »liberal«, homosexuelles Verhalten bleibt allerdings offiziell illegal. Trotzdem wollen wir nicht als Opfer wahrgenommen werden, was die internationalen Medien häufig tun.
Wir sind keine Opfer. Mit der Frage der Sichtbarkeit müssen wir allerdings vorsichtig umgehen. Denn sichtbar zu sein, bedeutet auch, verletzlich zu sein. Wir müssen uns zuerst in unseren Strukturen stärken und dafür sorgen, dass wir uns schützen können. Was den CSD angeht und die Frage, ob er mehr eine Party oder eine politische Demonstration ist, kann ich nur sagen: Wenn wir einen hätten, wäre er politischer. Wir dürfen nicht dieselben Stereotypen verbreiten, die in der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft gelten, wonach Homosexuelle immer mit Sex und Exzess in Verbindung gebracht werden. Und um ­Toleranz im Sinne von »geduldet werden« soll es beim CSD nicht gehen. Ich fand das Motto »Toleranz, nein danke« beim Transgenialen CSD in Berlin-Kreuzberg insofern ein richtiges politisches Statement. Wir bitten nicht um irgendetwas, sondern stellen Forderungen nach Respekt und Rechten.

Im Diskurs über die Bewegung für die Rechte von LGBT ist oft – abgesehen von der politisch korrekten Bezeichnung – von »Homosexuellen« die Rede. In der politischen Praxis sowie im alltäglichen Leben sind Homosexuelle als einheitliche »Community« jedoch eher eine Abstraktion. Wie versuchen Sie in Ihrer Arbeit die verschiedenen Positionen, Bedürfnisse und Forderungen zu artikulieren?

Joelle: Als Gruppe nicht heterosexueller Frauen ist unser Fokus ganz klar. Im Libanon, wie in den meisten anderen Ländern – im Nahen Osten wie im Westen –, sind Lesben viel weniger sichtbar als Schwule. In unserer sexistischen Gesellschaft ist es für Frauen viel schwieriger, über ihre Sexualität selbst zu bestimmen. Das gilt für Lesben, aber auch für bi- oder heterosexuelle Frauen, ganz zu schweigen von Transgendern. Als Frauengruppe versuchen wir, das zu brechen. Und hier betone ich Frauengruppe, ohne irgendwelche Zuschreibung bezüglich der sexuellen Identität. Es gibt eine Menge Klischees und Tabus über weibliche Sexualität, die demontiert werden müssen. Das wollen wir zunächst unter uns machen, deshalb haben wir die Organisation Meem gegründet, die vor zwei Jahren aus einer Mailing-Liste von Helem entstanden ist. Wir brauchten dringend eine Diskussion über weibliche Sexualität, die wir nach außen tragen konnten.
Ali: Für uns war der Ausgangspunkt ganz klar. Es gibt nicht nur Heterosexuelle in unserer Gesellschaft, das muss ins öffentliche Bewusstsein rücken. Um dieses Ziel zu erreichen, fanden wir es wichtig, auch heterosexuelle Menschen in unsere Arbeit einzubeziehen. Wir versuchten, Leute in den Medien, in der akademischen Welt und in der Zivilgesellschaft zu erreichen – ohne auf ihre sexuelle Identität zu fokussieren. Unser Ziel war es, ein starkes Netzwerk zu bilden. Wenn Gruppen mit besonderen Schwerpunkten zu uns kommen, versuchen wir, mit unserer Infrastruktur ihnen zu helfen, selbständig ihre Bedürfnisse und Forderungen zu artikulieren. Ein Beispiel dafür ist die größte Transsexuellen-Organisation in der Türkei, Pembe Hayat (Pink Life), die durch unsere Unterstützung entstanden und gewachsen ist.
LGBT haben manchmal unterschiedliche Bedürfnisse und kommen aus verschiedenen Kontexten. Auch wenn es wichtig ist, zusammenzustehen, ist es genauso wichtig, auf die Unterschiede zu achten. Nicht nur die sexuelle Identität unterscheidet uns in der Community, sondern auch das Alter. Bei Kaos GL hat sich zum Beispiel neulich eine Fraktion von jungen Mädchen gegründet, die eine eigene Plattform mit eigenen Schwerpunkten entwickeln will, die sich spezifisch auf junge homosexuelle Menschen beziehen, das ist wichtig, um Leute draußen zu erreichen.

Da draußen ist die homophobe Mehrheitsgesellschaft. Wie artikuliert sich Homophobie in euren Ländern? Im Juli vergangenen Jahres wurde in Istanbul Ahmet Yildiz erschossen, was als der erste so genannte Ehrenmord an einem schwulen Mann gilt. Gibt es eine Debatte über dieses Thema in der Türkei?

Ali: Dieser brutale Mord fand eine große Resonanz in den türkischen Medien, vor allem, weil die britische Zeitung The Independent darüber berichtete und die Geschichte außerhalb der Türkei verbreitete. Es war sofort ziemlich klar, dass Ahmet von einem Familienmitglied erschossen wurde. Im September wird der Prozess eröffnet. Angeklagt wird der Vater von Ahmet, der sich wahrscheinlich im Irak versteckt hält, und zum ersten Mal wird damit ein so genannter Ehrenmord an einem schwulen Mann vor Gericht kommen. Ich würde aber nicht sagen, dass es sich um ein verbreitetes Phänomen in der Tükei handelt. So genannte Ehrenmorde sind in der Türkei ein Problem, das weiterhin vor allem Frauen trifft, solche Verbrechen an schwulen Männern sind sehr ungewöhnlich. Hassverbrechen gibt es dagegen viele. Einige Monate nach dem Mord an Ahmet wurde die Transsexuelle Dilek Ince in Ankara erschossen.
Bei Ehren- sowie bei Hassmorden war es in der Türkei schon immer so, dass die Täter nicht verfolgt oder sehr mild bestraft werden. Das erlaubt das Gesetz, welches eine Strafmilderung vorsieht in den Fällen, in denen – egal ob die Opfer Frauen, Schwule oder Transsexuelle sind – die so genannte Ehre in Frage kommt. Das Gesetz muss an diesem Punkt geändert werden, denn es schützt die Hassmörder.
Joelle: Ehrenmorde sind im Libanon heute nicht mehr so verbreitet wie in der Vergangenheit. Das bedeutet aber nicht, dass von den Familien keine Gewalt ausgeht, psychologisch wie körperlich, vor allem gegen Frauen. Auf der Straße sind es fast immer Männer, die zum Ziel homophober Gewalt werden, ein femininer Mann fällt ja mehr auf als eine maskuline Frau. Gewalt in der Familie bleibt für Frauen ein großes Problem. Und das gilt schon wieder für Lesben, für bi- und heterosexuelle Frauen, weil sie nicht nur psychologisch, sondern auch ökonomisch von ihren Familien abhängig sind.
Homophobie wird aber auch vom Staat propagiert und ist gesetzlich verankert durch das so genannte Antisodomiegesetz. Dieses Gesetz verbietet sexuelle Beziehungen, die »im Widerspruch zu den Gesetzen der Natur« sind. Die Höchststrafe liegt bei einem Jahr Gefängnis. Ähnlich wie in der Türkei stellt dieses Gesetz auf der juristischen Ebene eine Rechtfertigung homophober Gewalt dar und muss abgeschafft werden.

Ist es Ihnen wichtiger, auf der juristischen Ebene etwas zu erreichen, als die homophoben Einstellungen in der Gesellschaft zu ändern?

Ali: Im offiziellen Diskurs über Homosexualität gilt in der Türkei: Homosexualität ist kein Teil unserer Geschichte, unserer »Kultur«, es ist etwas, das aus dem Westen importiert wurde. Wir sagen dagegen: Nein, das ist falsch. Uns ist es wichtig, dass dies ein Teil des öffentlichen Bewusstseins wird. Uns geht es aber auch darum, die heterosexuelle Norm in Frage zu stellen.

Joelle: Auch unsere Arbeit geht in die Richtung einer Infragestellung der heterosexuellen Norm, das steht im Vordergrund und nicht identitäre Definitionen bezüglich verschiedener sexueller Präferenzen. Wir versuchen, den heteronormativen Konsens zu brechen. Dabei arbeiten wir auf verschiedenen Ebenen. Diese betreffen die Religion, die patriarchale Gesellschaft und ihre Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, die sozialen Unterschiede. Wir wollen diese repressiven Strukturen in der Gesellschaft, die heute nicht mehr funktionieren können, brechen. Wir arbeiten viel im Bereich der Familien und setzen uns für Aufklärung ein zum Thema weibliche Sexualität allgemein. Wichtiger als offen als Lesben aufzutreten ist uns derzeit, dass Frauen über ihre Sexualität selbst bestimmen können.