Von Cloppenburg zur Charakteranalyse

Innenminister Kanther hat den sofortigen Aufbau einer zentralen Gendatei durchgesetzt. Die FDP klagt über fehlende Gesetzesgrundlagen, aber die Zustimmung des Bundesrats gilt als sicher

Man versetze sich ins Kreisgericht Cloppenburg, Niedersachsen, irgendwann Ende 1998. Der Prozeß gegen den per Genanalyse überführten Mörder der Mitte März von ihm vergewaltigten und erdrosselten "kleinen Christina" Nytsch (11) ist gerade zu Ende gegangen: "Der Gerichtsvorsitzende schweigt, als das Publikum im Gerichtssaal auf das Urteil 'Lebenslänglich' hin klatscht und Bravo ruft, wo Beifalls- und Mißfallensbekundungen aus gutem Grund sonst gerügt werden, schweigt, wo eine Gesellschaft sich durch ihren Haß auf einen Kindermörder jenes gute Gewissen verschafft, das sie braucht, um zum Kindermorden in Vietnam schweigen zu können und zur Barbarei im Umgang mit Kindern im eigenen Land, in der eigenen Familie."

Nicht nur die Erwähnung von Vietnam läßt Ulrike Meinhofs Text unzeitgemäß wirken, auch ihre Position. Als sie 1968 in konkret über den vierfachen Kindermörder Jürgen Bartsch schrieb, monierte sie, das Gericht habe alles versucht, um "den entscheidenden Punkt herauszuhalten, ihn (...) nicht zum öffentlichen Diskussionsgegenstand werden zu lassen": Die Geschichte des Mörders und das Verfahren selbst "offenbarten in unheimlicher Anhäufung im Elend dieser Person das Elend der Gesellschaft, in der er gelebt und gemordet hat. (...) Das Gericht hat alles Menschenmögliche getan, um zu verhindern, daß die Verhältnisse, die an Jürgen Bartschs Entwicklung Pate gestanden haben, zum Prozeßgegenstand wurden."

Dreißig Jahre später inszenieren bundesdeutsche Parlamentarier und Minister das gleiche Stück. Im Landkreis Cloppenburg waren bis Ostermontag über zwei Drittel der gemeldeten Männer zwischen 18 und 30 Jahren - rund 12 000 - zur Speichelabgabe in die örtlichen Polizeistationen geströmt, um das Ihre zur Aufklärung des Mordfalls "Christina" beizutragen: der Polizei das Material zur DNA-Entschlüsselung zu liefern.

Nach dem Prinzip "Wer nicht kommt, macht sich verdächtig" funktionierte, was sich Verfechter repressiver Sicherheitskonzepte schöner nicht ausmalen könnten: Wer nicht bereit war, seinen persönlichen Erbcode bei der Polizei abzuliefern, wird nun beinahe zwangsläufig einem potentiellen Täterkollektiv zugerechnet, Schuldzuweisung inklusive. "Wir gucken schon, ob einer kriminell aussieht. Und wenn abends ein auswärtiges Auto langsam durchs Dorf fährt, dann wird die Nummer aufgeschrieben. Wir hoffen immer noch, daß es keiner von hier war", zitierte die Berliner Zeitung einen jungen Mann nach der freiwilligen Speichelspende. Ein Bürgermeister aus dem Landkreis: "Manchmal kann man sich hier ja gar nicht mehr in die Augen schauen."

Angesichts der Begeisterung über die vermeintliche kriminologische Wunderwaffe blieb der Bundestagsopposition aber nicht die Spucke weg, als Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) am Freitag wahrmachte, was er kurz vor Ostern gegen den Protest des kleinen Koalitionspartners FDP angekündigt hatte: Trotz des Einwands des an sein Ministerium angebundenen Bundesdatenschutzbeauftragten, der Aufbau einer zentralen Gendatei müsse gesetzlich verankert werden, erließ Kanther per Anordnung die Errichtung einer solchen Polizeidatei beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden.

Immer auf der Suche nach geeigneten Methoden, die Durchschlagskraft der eigenen Sicherheitskonzepte unter Beweis zustellen, mochten die Parteien in Bonn der beispielhaften Inszenierung gemeinschaftlicher Verbrecherjagd in Norddeutschland nicht nachstehen. Die Erklärungen der Politiker von PDS bis zur CDU belegen, daß sich letzte Woche keiner mehr die Mühe machte, den Nutzen des DNA-Analyse-Verfahrens zur Überführung von Straftätern gegenüber bürgerlichen Persönlichkeitsrechten abzuwägen. Von der quantitativen Dimension - tausendfach werden seit Freitag menschliche DNA-Sätze beim BKA gespeichert - sprach keiner, von der qualitativen, der Perspektive des "gläsernen Menschen" nur einer, und der arbeitet fleißig daran, daß der "gläserne Mensch" bald Wirklichkeit wird: Bayerns Justizminister Hermann Leeb (CSU), der zwar verhindern will, daß Blut, Haare und Sperma beim BKA aufbewahrt werden, gleichzeitig aber dafür plädiert, den zu erfassenden Täterkreis auszuweiten. Vom Sexualstraftäter - dem ursprünglichen Ausgangspunkt der Diskussion - ist im Bundestag letzte Woche kaum mehr die Rede gewesen; die weitestgehenden Speicherungsvorschläge zielen inzwischen darauf ab, auch die Gencodes von Einbrechern zu speichern.

Nach der Anordnung Kanthers werden nun in der Wiesbadener Datei die Genprofile von Menschen gesammelt, die im Verdacht stehen, "Straftaten von erheblicher Bedeutung" begangen zu haben. Darunter fallen Kapital- und Sexualverbrechen, aber auch Delikte wie Bandendiebstahl. Rechtliche Voraussetzung für die DNA-Analyse ist eine richterliche Anordnung, wie sie der Bundestag mit der Änderung der Strafverfahrensgesetzes 1996 festschrieb. "Gespeichert wird nur, was zur Identifizierung eines Täters zwingend erforderlich ist, keine Erbanlagen, Charaktermerkmale oder ähnliches", versuchte BKA-Präsident Ulrich Kersten FDP-Kritiker zu beschwichtigen, die einen Zusatz im Strafverfahrensgesetz fordern.

Taktisch geschickt hat Kanther die Osterpause genutzt, um sich die Zustimmung der Landesinnenminister für seine Anordnung zu sichern. Innerhalb von drei Monaten muß der Bundesrat der Errichtung der DNA-Datei beim BKA nun die Zustimmung erteilen. Die jedoch gilt als sicher, weil alle SPD- und rot-grün-regierten Länderregierungen mit dem Kanther-Erlaß grundsätzlich einverstanden sind.

Stellvertretend für den großkoalitionären Konsens in Fragen nationaler Sicherheit steht der designierte Nachfolger Gerhard Schröders als Ministerpräsident in Hannover - Gerhard Glogowski, der niedersächsische SPD-Innenminister. Unter Schröder hat er die Castor-Transporte ins Wendland politisch durchgesetzt und sich schon davor bei den Chaos-Tagen die ersten Sporen als rigider Ausleger innerer Sicherheitskonzepte verdient. Was er nun bei der raschen Errichtung der Gendatei im Zusammenspiel mit Kanther und seinen Länderkollegen durchsetzt, erhellt einmal mehr, was von einem möglichen Kanzler Schröder innenpolitisch zu erwarten ist - sowie von einer Sozialdemokratischen Partei, die bei der Verteidigung von Persönlichkeitsrechten gegen Eingriffe des Staates schon kaum mehr umkippen kann, weil sie von einer grundsätzlichen Methodenkritik nichts wissen will. Ebensowenig wie der potentielle Koalitionspartner übrigens: Der rechtspolitische Sprecher der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, Volker Beck, forderte lediglich einen "definitiven Zeitplan für das Gesetz über die Datei", der Datei selbst stimmt auch er zu.

Aufschlußreich indes sind Forderungen der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin. Ausgerechnet einen CSU-Vertreter pickte sich deren Vorsitzender Bernd Brinkmann heraus, um das Interesse von wissenschaftlichem Überbau und technokratischer Basis an einer Ausweitung des Sicherheitsstaats zu verdeutlichen: Die von Bayerns Justizminister Leeb geforderte Vernichtung der Originalproben würde die deutsche Kriminaltechnik, so Brinkmann im Saarländischen Rundfunk, über Jahrzehnte auf den aktuellen Stand einfrieren. Die Reserveproben - bislang ist bei den Landeskriminalämtern nur die Speicherung eines Bruchteil der Erbinformationen erlaubt - sollten konserviert werden, um sie immer wieder auf dem jeweiligen Stand der Technik nachtesten zu können. Er schätzt, daß es "in zehn bis zwanzig Jahren" wahrscheinlich möglich sei, auch äußere Erkennungsmerkmale wie die Farbe von Haar, Haut und Pupille aus den Genen abzulesen. Zehn oder zwanzig Jahre also noch, so auch Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jorzig, bis zur genanalytischen "Möglichkeit, ein Charaktergutachten anzufertigen". Bis dahin dürften - dem parlamentarischen Verlauf nach vergleichbar mit der Aufnahme des DNA-Verfahrens in das Strafverfahrensgesetz durch den Bundestag 1996 - die strafrechtlichen Gesetzesänderungen dem bekannten Muster folgen: Erst schafft der Polizeiapparat die Fakten, der die Politik wenig später den legislativen Segen erteilt. Für immer neue Strafgesetzverschärfungen - wie am Wochenende von Glogowski für die Innenministerkonferenz Anfangt Mai angekündigt - ist bei stabilen parlamentarischen Mehrheiten für die bürgerliche "Sorge um persönliche Sicherheit und Schutz vor kriminellen Angriffen" (PDS-Wahlprogramm) also gesorgt.

An den Verhältnissen, die Kindermörder und Vergewaltiger produziert, ändert das natürlich nichts. Derselbe Dreck, den der Mörder der "kleinen Christina" am Stecken hat, haftet Politik, Medien und einer Bevölkerung an, die sich massenhaft freiwillig registrieren läßt. Oder, wie Meinhof 1968 schrieb: "Die Kriminalität geht weiter."