Die ehemalige afghanische Abgeordnete Malalai Joya im Interview über Politik und Alltag in Afghanistan

»Wir sitzen zwischen zwei Gegnern, dem inneren und äußeren Feind«

Die 30jährige Malalai Joya ist die populärste Politikerin Afghanistans und kämpft für die Rechte der Frauen und gegen die wachsende Macht von Warlords und Taliban. Im Mai 2007 wurde die Abgeordnete wegen ihrer Kritik an der Präsenz von Kriegsverbrechern im Parlament mit dem Entzug ihres Mandats bestraft. Mehrere Mordanschläge hat Malalai Joya seitdem überlebt. Sie hat in ihrer Herkunftsstadt Farah ein Gesundheitszentrum für Frauen und Kinder gegründet. Zurzeit hält sie sich in London auf.

Was denken Sie über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Afghanistan?

Ich denke nicht, dass man von echten Wahlen sprechen kann. Ich bezeichne die Veranstaltung als show case der US-Regierung. Sie brauchen sich nur anzusehen, wer an diesen Wahlen teilnehmen darf, wer kandidieren kann – da findet sich eine ganze Reihe von Warlords, die mit Demokratie nichts zu tun haben. Bei diesen Wahlen kommt es weniger darauf an, wer wählt, als darauf, wer auszählt, denn die Urnen sind in den Händen der Mafia. Wahlen unter derartigen Vorzeichen sind sicherlich wenig zukunftsweisend. Letztlich denke ich, dass das Ergebnis der Wahlen hinter geschlossenen Türen in Washington ermittelt wird.

Demnach haben Sie die Hoffnung auf den Wandel durch Wahlen aufgegeben?

Meine Leute haben keinerlei Hoffnung, dass sich durch diese Wahlen irgendetwas ändern wird. Es sind Warlords und Drogenbarone, die sich um die Macht streiten, und das wissen doch auch die Besatzungstruppen nur zu gut. Selbst Taliban können kandidieren, das ist beschämend! Die Stimme meiner Leute hat in diesem Spiel keinerlei Wert, und die Frauenrechte in Afghanistan werden doch tagtäglich ignoriert.

Dabei werden die USA nicht müde, ihren Kampf auch als Kampf für die Rechte der Frauen darzustellen.

Unglücklicherweise wird diese Lüge immer wieder benutzt, obwohl die Verhältnisse in Afghanistan immer schwieriger werden. Nehmen Sie das Ehegesetz, welches vom Präsidenten Hamid Karzai zunächst durchgewinkt und erst nach internationalen Protesten zurück auf den Prüfstand beordert wurde. Gesetze wie dieses machen es den Frauen in Afghanistan immer schwerer. Sie können kaum ohne Begleitung vor die Tür gehen, und Gesetze wie dieses legalisieren das, was ohnehin im Land stattfindet.

Wollen Sie behaupten, es sei heute schlimmer, als unter der Herrschaft der Taliban?

Ja, denn Gewalt gegen Frauen, die Vergewaltigung von Frauen wird faktisch nicht geahndet. Es sind nicht allein die Taliban, die derartige Verbrechen begehen – die Warlords sind dafür genauso mitverantwortlich. Die 14jährige Bashira wurde von drei Männern vergewaltigt, von denen einer der Sohn eines Parlamentsmitglieds ist. Dieser Sohn wurde nie bestraft, weil die Offiziellen bestochen wurden. Sie haben die Angaben über sein Alter von 22 auf 18 geändert, damit er nicht verurteilt wird. Wie kann man so etwas stoppen? Wenn es schon nicht im Zentrum des Landes funktioniert, wie soll es denn im Norden gehen, wo die Warlords regieren? Es kommt immer wieder dazu, dass sich Frauen in Afghanistan selbst verbrennen, weil die Lage so ausweglos ist. Letztes Jahr waren es 47 Frauen, die sich selbst ansteckten, um von ihren Männern wegzukommen. Das wird in den USA, in England oder Deutschland viel zu wenig wahrgenommen. Gewalt gegen Frauen nimmt in Afghanistan zu.

Sie haben zu Zeiten, als die Taliban in Kabul regierten, im Untergrund Mädchen unterrichtet. Hat sich an der Bildungssituation der Mädchen nicht vieles zum Positiven geändert?

Damals konnte ich mich im Untergrund sicherer bewegen, als das heute der Fall ist. Ich bin immer mit Bodyguards unterwegs, es hat ein halbes Dutzend Mordanschläge auf mich gegeben, aber zurück zu Ihrer Frage. Was bringt es den Mädchen, wenn sie kaum mehr sicher sein können, heil nach dem Unterricht nach Hause zu kommen? Vergewaltigungen von Schulmädchen haben zugenommen – darunter zwölf-, 13- und 14jährige Mädchen wie die schon erwähnte Bashira, wie Anisa oder Shuqufa. Das hat alles nichts mehr mit einem normalen Leben zu tun. Im Januar verschwand in Kabul ein 14jähriges Mädchen – sie wurde gekidnappt und 25 Tage festgehalten. Ihre Mutter war verzweifelt, weil ihr noch nicht einmal jemand zuhörte, um die Straftat aufzuklären. Die Situation für uns Frauen ist deutlich schlechter geworden.

2003 haben Sie in der verfassungsgebenden Versammlung in Kabul das Wort ergriffen. Es hätte der Auftakt zu einer politischen Karriere sein können.

Meine Leute haben mich damals in die verfassungsgebende Versammlung geschickt, und ich habe die Wahrheit gesagt und wurde angefeindet. Seitdem hat sich mein Leben verändert, aber die Ziele von damals sind geblieben. Allerdings werden die Gegner, die Warlords, mächtiger, einflussreicher und bedrohlicher. Ich bin 2005 zu den Wahlen angetreten, habe, so gut ich konnte, Wahlkampf gemacht und bin auch gewählt worden. Allerdings muss man festhalten, dass das Gros der Parlamentssitze an Drogenbarone, Kriegsfürsten und Kriminelle vergeben wurde. Es haben leider nicht allzu viele echte Demokraten den Weg ins Parlament geschafft. Man hat versucht, uns zum Verstummen zu bringen. Man hat mir auch angeboten, mich wieder zuzulassen zum Parlament, wenn ich mich entschuldige, aber das werde ich nicht tun, denn ich habe nur die Dinge beim Namen genannt.

Gibt es in Afghanistan eine Justiz, die diesen Namen verdient?

Mein Anwalt ist zu einem Treffen mit dem Parlamentspräsident gegangen und musste feststellen, dass über meinen Fall debattiert wurde. Allerdings in der Weise, dass der Verantwortliche der Beschwerde-Kommission des Parlaments, ein einschlägig bekannter Warlord, meinem Anwalt sagte, dass es nicht ausreiche, mich vom Parlament auszuschließen, es müsse handfeste Strafen geben. In diesem Klima leben wir in Afghanistan. Ich werde dennoch bald dorthin zurückkehren, denn ich habe eine Verpflichtung gegenüber Mädchen und Frauen wie Bashira, ich muss ihnen beistehen.

Sehen Sie denn demokratische Signale in ­Afghanistan. Wie artikuliert sich die Jugend?

Sie will eine Rolle spielen, aber das ist sehr schwierig, denn jeder falsche Kompromiss führt zu Seilschaften, Verpflichtungen. Zudem kennen diese jungen Menschen nur den Krieg, die demokratische Alternative kennen sie bestenfalls in der Theorie. Das ist auch ein Aspekt in meinem Buch, das ich derzeit in Europa vorstelle. Von den Protesten, den Demonstrationen, die es durchaus gibt, kommt außerhalb von Afghanistan jedoch wenig an.

Wie denken Sie über die US-Politik? Haben Sie noch Hoffnung, dass Warlords wie Dostum vor Gericht kommen und zur Rechenschaft gezogen werden?

Was wir uns als erstes von den USA, Europa und Deutschland wünschen, ist ein Ende des Terrors. Wir reden hier über einen Krieg, der in erster Linie zivile Leben kostet. Dafür sind nicht nur die Taliban, sondern auch die USA zuständig. Einen anderen Aspekt sollten wir auch nicht vergessen: Aus Afghanistan kommen 92 Prozent des weltweit gehandelten Opiums, und dies sorgt für beachtliche finanzielle Mittel der Warlords. Die einzige Alternative für Afghanistan sind die jungen Menschen in Afghanistan selbst. Sie müssen für eine Lösung kämpfen und sich gegen Warlords wie Mullah Mohammed Omar oder Gulbuddin Hekmatyar wenden und deren Herrschaft ein Ende machen.

Auch eine neue Herausforderung für Obama?

Ja, denn es reicht nicht, das Konzept seines Vorgängers weiterlaufen zu lassen und den Kriegsschauplatz nach Pakistan zu erweitern. Mehr ist kaum passiert. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, Frieden mit der Waffe in der Hand irgendwohin zu bringen. Krieg ist keine Basis für den Frieden, und es sind doch nur repressive Maßnahmen, die zum Einsatz kommen. Nehmen Sie das zweite Guantánamo, welches die USA in Bagram errichten. Dort wurde das Militärgefängnis in den vergangenen Monaten weiter ausgebaut.

Gehen die US-Truppen in Afghanistan noch gegen den Drogenanbau und -handel vor? Welchen Eindruck haben Sie?

Ich bin der Meinung, dass Afghanistan unter der Regie der Besatzungsmächte erst zum Drogen­standort ausgebaut wurde. Es ist doch offensichtlich, dass Gouverneure von bestimmten Provinzen einen schwunghaften Handel mit Opium betreiben, gleichzeitig aber auch als oberste Drogen­bekämpfer der Region fungieren. Da geht es schnell um Summen von 500 Millionen US-Dollar. Nehmen Sie den Bruder von Hamid Karzai, er ist ein bekannter Drogenschmuggler, und niemand zieht ihn zur Rechenschaft. In Afghanistan haben sich mafiöse Strukturen durchgesetzt, und darauf muss man die Demokraten aus aller Welt immer wieder hinweisen. Afghanistan ist ein besetztes Land.

Sehen Sie denn eine Alternative zur Besatzung?

Wir sitzen zwischen zwei mächtigen Gegnern, dem inneren und dem äußeren Feind. Als äußeren bezeichne ich die Besatzungsmächte, die einen Krieg führen, unter dem vor allem die Zivilbevölkerung zu leiden hat. Auf der anderen Seite sind die Taliban und die Nordallianz der innere Feind, von dem ich gesprochen habe. Zwischen diesen beiden Stühlen sitzen die Demokraten, die auf internationale Solidarität und Unterstützung angewiesen sind. Doch statt die Demokraten zu unterstützen, werden neue Militäroffensiven vorbereitet, neue Mittel bereitgestellt, und erneut wird man Blut und Geld für den Krieg verschwenden. Hätte man die Demokraten in Afghanistan frühzeitig unterstützt, bräuchte man heute keine ausländischen Truppen in Afghanistan – das ist meine Meinung.

Angeblich fließt viel Geld in den Wiederaufbau .

Das Gros des Geldes, das für soziale Projekte, für Bildung, für die Unterstützung von Waisen ausgegeben wird, landet in den Taschen von Warlords. Auf der anderen Seite gibt es Millionen Menschen, die in Armut leben – die Gegensätze sind extrem. Wir leiden unter der Unsicherheit, denn für die Menschen wird es immer schwerer, sich zu bewegen, Entführungen und Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung. Das bewegt uns Afghanen – wir brauchen Sicherheit.