Religiöser Nebel über Indien

Die hinduistisch-rechtsextreme BJP legt bei den Parlamentswahlen zu und hat gute Chancen, die Regierung zu bilden

Die vorgezogenen Parlamentswahlen in Indien stellen einen verzweifelten Versuch dar, demokratische Normalität in einer Gesellschaft zu simulieren, deren zentrifugale Tendenzen - neben dem generellen Elend in der Bevölkerung - unübersehbar sind. Schon die Hauptprotagonisten bei den Wahlen sprachen für sich. Zum einen handelte es sich dabei um die einst übermächtige säkulare Kongreßpartei, die seit der Unabhängigkeit Indiens von der Kolonialmacht Großbritannien 45 Jahre lang die Regierung gestellt hatte. Die Kongreßpartei hatte sich, um ihre Wahlchancen zu erhöhen, ein ganz besonderes Zugpferd gewählt: Sonia Gandhi, die Witwe des 1991 bei einem Attentat ums Leben gekommenen Regierungschefs Radjiv Gandhi, auch bekannt als die "Witwe der Nation".

Angeblich soll Sonia als Gattin des Premiers eine einzige Rede gehalten haben, und zwar 1986 in den USA. Die Rede war nicht sonderlich ausgefeilt: "Ich werde nur drei Worte sagen: Es lebe Indien." Im diesjährigen Wahlkampf war sie nicht viel gesprächiger. In der Regel schwebte sie mit einem Hubschrauber bei den Wahlkampfveranstaltungen ein, redete zehn Minuten und entschwebte wieder. Im Mittelpunkt ihrer Rhetorik stand der Bezug auf eine mystische, bessere Vergangenheit unter der Nehru-Gandhi-Dynastie, beispielsweise unter ihrer Schwiegermutter Indira. Die allerdings hatte 1975 die Verfassung außer Kraft gesetzt, um ihre Absetzung durch ein Gericht zu vermeiden, und autoritär via Notstandsrecht regiert. Der Rückgriff auf die Vergangenheit hat einen guten Grund: Die gesamte Führungsspitze der Kongreßpartei ist vollständig diskreditiert, weil sie politische Posten in erster Linie in ihrer Funktion zur eigenen Bereicherung begreift. An den vier Wahltagen, die bis zu der Wahl in Kaschmir vom Wochenende stattgefunden haben, hat die Kongreßpartei mitsamt ihren regionalistischen Verbündeten 171 der insgesamt 543 Sitze erobert, der Kongreß selbst hat einen Stimmenanteil von etwa 25 Prozent - eine durchaus beachtliche Verbesserung ihrer Position.

Der Kongreß hat den Gegner, den er verdient: die religiös-rechte Bharatiya-Janata-Partei (BJP). Die hatte Anfang Februar ihr Wahlprogramm unter dem schönen Slogan "Eine Nation, ein Volk, eine Kultur" veröffentlicht, wobei sie unter dieser einen Kultur "Hindutva" versteht, die hinduistische BJP-Ideologie - was von religiösen Minderheiten durchaus als Kampfansage interpretierbar ist. In dem Manifest kündigte die BJP für den Fall ihres Wahlsieges an, Indien als Atommacht zu deklarieren und unter Umständen Atomtests durchzuführen - gegen die "nukleare Apartheid", wie sie sich in Atomsperrvertrag und ähnlichen Abmachungen manifestiert habe. Für die Unruheprovinz Kaschmir, wo moslemische Separatisten für den Anschluß an Pakistan bomben, schlug sie in ihrem Programm die Aufhebung des Sonderstatus der Provinz vor - was dem Versuch gleichkommt, Feuer mit Benzin zu löschen. Als Aushängeschild der BJP firmiert Atal Bihari Vajpayee, ein guter Redner, dessen Aufgabe vorrangig darin besteht, die Schlußfolgerungen, die man aus dem nationalistisch-religiösen Wahlmanifest ziehen könnte, zu vernebeln. Im übrigen besteht die Funktion des Ministerpräsidenten in spe darin, die Regionalparteien, die sich mit der BJP in einer Allianz verbündet haben, bei der Stange zu halten. Die BJP-Allianz hat ordentlich zugelegt, nach den vier Wahltagen kommt sie auf 249 Abgeordnete; zur absoluten Mehrheit fehlen allerdings rund 20 Mandate.

Als drittes bedeutendes Bündnis kandidierte die Vereinigte Front (UF), eine säkulare Mitte-Links-Koalition. Sie hatte nach den letzten Wahlen zweimal den Ministerpräsidenten gestellt, die beide stürzten, nachdem der Kongreß ihnen die parlamentarische Unterstützung entzogen hatte. Das letzte Mal war dies im November geschehen, als Premier Kumar Gujral von der sozialdemokratischen Janata Dal demissionieren mußte (vgl. Jungle World, Nr. 50/97). Die UF ist die große Verliererin der Wahl, von ihren bislang 168 Sitzen bleiben ihr nur knapp hundert. Die starke Personalisierung des Wahlkampfes durch Sonia Gandhi auf der einen und Vajpayee auf der anderen Seite hat ihr sicherlich geschadet. Ansonsten ist sie in der Frage einer Unterstützung einer eventuellen Kongreß-geführten Regierung gespalten. Mit dem Kongreß verbindet sie der Säkularismus.

Auffallend waren an dem Wahlkampf nicht nur die verschiedenen Bombenanschläge, die vor allem als Ausdruck des sich ausbreitenden religiösen Wahns in der politischen Sphäre begriffen werden können und die einige Dutzend Todesopfer forderten. Auffallend ist vor allem die Stärkung der regionalistischen Parteien und das Muster, nach dem sich die Stimmengewinne verteilten: Dort, wo die jeweilige Partei, sei es Kongreß oder BJP, in den Einzelstaaten an der Macht ist, waren in der Regel Stimmenverluste zu verzeichnen, und Gewinne da, wo sie sich in der Opposition befand. Und die Regionalparteien konnten die Zahl ihrer Mandate ebenso regelmäßig nur dann erhöhen, wenn sie sich entweder auf die Seite der BJP oder des Kongresses geschlagen hatten.

Das Wahlergebnis läßt somit keine eindeutige Mehrheit für eine Regierungsbildung erkennen. Es ist wieder die Zeit für den Pferdehandel gekommen, mit dem man sich die Mehrheiten in der politischen Sphäre zusammenkauft - aus Provinzfürsten, Kastenchefs und ähnlichen Demokraten.