Krähen und Intelligenzforschung

Gefiederte Drahtzieher

Krähen benutzen spontan Werkzeuge und stellen sie her. Doch die Rabenvögel unterrichten einander auch über Nahrungsquellen und kooperieren sogar mit anderen Tieren.

Man bot Betty und Abel das Schweineherz, das sie so gern mochten, in einem Glaszylinder an. Dabei war der Hals des Zylinders so lang, dass die bei­den mit dem Schnabel nicht auf den Grund des Zylinders reichten, auf dem die Nahrung lag. Ganz so gemein, wie es auf den ersten Blick schei­nen könnte, waren die Forscher um den aus Argentinien stammenden und in Oxford lehrenden Verhaltensökologen Alex Kacelnik aber nicht. Sie hatten den beiden Krähen zwei Drahtstücke zur Nah­rung im Zylinder ins Labor gelegt, einen geraden Draht und einen, der zu einem Haken gebogen war.

Abel griff sich sofort den Hakendraht und holte mit seiner Hilfe das kleine Schälchen mit dem Fleisch aus dem Glas und verzehrte es allein. Dass ihm nicht nach Teilen der Sinn stand, war für Bet­ty aber nur ein kleines Problem. Sie nahm sich den geraden Draht, untersuchte ihn mit dem Schnabel und den Füßen und bog sich ein Ende zu einem Haken zurecht. Damit holte auch sie ihr Futter. Und weil sie den kreativeren Part in diesem Versuch übernommen hatte, ist sie unter Verhaltens­forschern und Psychologen weltberühmt geworden.
Das Bild, das sie mit dem gekrümmten Haken vor dem Glaszylinder zeigt, ging nach der Erstver­öffentlichung im Jahr 2002 um die Welt und illus­triert immer noch die nicht abreißenden Mel­dungen über das Können der Krähen aus Neu­kaledonien.
Die Egebnisse des Oxforder Versuchs waren der erste auch in Bildsequenzen dokumentierte Beleg für einen spontanen Werkzeuggebrauch im Tierreich außerhalb der Primaten. Was man bisher nur von Affen oder Halbaffen kannte, war jetzt eindeutig auch für Vögel nachgewiesen. Dass Bettys Tun spontan war, ergab sich aus den Bedingungen. Betty und Abel waren mit der Hand aufgezogen worden und hatten vorher nie Kontakt mit metallischen Drähten gehabt. Die Tiere waren allerdings gut gewählt. Dass Rabenvögel gern mit metallischen Gegenständen spielen, war bekannt. Europäische Krähen und Elstern verwenden Dräh­te und metallische Folien auch als Nistmaterial. Die Kaledonia-Krähen (Corvus moneduloides) waren aber noch auf eine andere Weise sozusagen auf den Versuch vorbereitet.
Es stellte sich nämlich heraus, dass sie auch in ihrer natürlichen Umgebung Werkzeuge herstel­len. Diese Krähen kommen nur auf Neukaledonien und den benachbarten Loyality-Inseln in der Südsee vor. Wenn sie in einem Baumstamm unter einer dicken Moosschicht oder in morschem Holz eine Insektenlarve entdecken, fangen sie nicht an, den Stamm zu bearbeiten, bis sie zur Lar­ve vorgedrungen sind. Sie suchen in der Umgebung nach einem geeigneten Ast, brechen ihn ab und entblättern ihn, bis er als Stachel dazu taugt, die Larve aus dem Holz zu stochern. Auf den relativ überschaubaren Inseln Neukaledoniens konn­te man mittlerweile auch zeigen, dass diese Fertigkeiten bei den Krähen über Generationen weitergegeben werden und regelrechte Traditions­linien bilden. Auch das hatte man bisher nur Primaten zugetraut.
Im Labor konnte die Arbeitsgruppe um Kacelnik jetzt zeigen, dass die Krähen nicht nur ein Werkzeug herstellen und benutzen, sondern auch meh­rere Werkzeuge hintereinander. Bei dem Experiment ging es darum, Nahrung aus einem Loch zu fischen, die nur mit einem speziellen Werkzeug erreichbar war. Um an dieses Werkzeug heranzukommen, mussten die Krähen allerdings erst zwei andere benutzen. In Oxford testeten die Wissenschaftler sieben Vögel, von denen einige die Aufgabe beim ersten Mal schafften. Was die Annahme erlaubt, dass die Krähen Probleme, bevor sie sie praktisch-technisch angehen, durchdenken und erst dann zur Tat übergehen, wenn sie den Ablauf im Kopf »begriffen« haben. Dass Tiere tech­nische Probleme ohne vorherige Versuchs- und Irrtums-Phase durchdenken können, kannte man vor allem von Orang-Utans, die sich in Zoos zu Ausbruchsspezialisten entwickelt haben, ohne dass man je gesehen hätte, dass sie sich vorher übend an Tür und Gatter handwerklich betätigt hätten.
Die Ergebnisse der Versuche mit Kaledonia-Krähen sind längst nicht mehr die einzigen wissenschaftlichen Belege, die die Vorstellung einer aufstrebenden Abstammungslinie vom einfachen zum hochentwickelten Säuger erschüttern, wie sie die menschenfixierte Stammesgeschichte erzählt. So konnte kürzlich die Arbeitsgruppe um den Psychologen Helmut Prior von der Frankfurter Goethe-Universität nachweisen, dass sich auch Elstern im Spiegel erkennen können. Was bis­her ein Privileg von Elefanten, Schimpansen, Delfinen und Menschen war, muss nun auch bei den von der menschlichen Abstammungslinie sehr weit entfernten Vögeln verortet werden.

Dass das völlig anders strukturierte Vogelhirn, das keine organisierend integrierende Struktur wie die Großhirnrinde, den Neokortex, aufweist, in der Lage ist, ähnliche kognitive Fähigkeiten hervorzubringen wie das Säugerhirn, kann man auch als eine Widerlegung stammesgeschichtlicher Fortschrittsvorstellungen lesen. Dass Vogelhirne allerdings nicht mal von Menschen erreichbare Gedächtnisfähigkeiten haben, ist schon länger bekannt.
Kiefernhäher (Nucifraga columbiana) zum Beispiel verstecken im Herbst 30 000 Samen an bis zu 6 000 verschiedenen Orten. Es handelt sich um Vorräte, die sie im Winter nicht nur wiederfinden, sondern bei denen sie auch noch wissen, welcher Same wo liegt, um ihn rechtzeitig vor dem Auskeimen aufzuessen. Bemerkenswert ist an diesen Befunden, wenn man einmal die an­thropozentrische Sicht verlassen hat, weniger, dass hier etwas passiert, was man sonst nur Säugetieren zutraut. Tatsächlich sonderbar daran ist, dass Krähen, Elstern und Häher alle zu den Ra­benvögeln zählen, einer Gruppe von Singvögeln, die zwar von vielen Menschen weder als melodische Sänger noch als besonders sympathisch wahrgenommen werden, die aber besonders da, wo Menschen sind oder gerade hinkommen, immer schon da waren.
Der US-amerikanische Biologe George Schaller drückt es so aus: »Wo immer du gehst, zeigen sich früher oder später Krähen, und von allen Krä­hen mag ich den Kolkraben am liebsten. Du bist in Alaska, am Ende der Welt, nirgendwo ein Zeichen von Leben – und auf einmal ist da der Rabe.« Ähnliche Geschichten erzählten auch die ersten britischen Himalaya-Pioniere. Noch in Höhen von 7 000 Metern, wo sonst wirklich nichts mehr gedeiht, seien plötzlich Raben aufgetaucht, so als wollten sie die Bergsteiger begleiten. Dass in solchen Gegenden und Situationen auch andere Empfindungen auftreten können als die von Schaller beschriebene, ist angesichts der tiefschwarzen großen Vögel nur natürlich. Und dass den Raben ihre wegen der schwarzen Farbe vermutete Nähe zu den Toten nicht immer zum Vorteil ausgelegt wurde, kann man voraussetzen.

Die schwarze Farbe aber kann bei den Krähen oder Rabenvögeln tatsächlich als ein Grund für ih­ren Erfolg angesehen werden. Große schwarze Vögel scheinen Menschen selbst in den schlimmsten Notzeiten nur ausnahmsweise und ungern zu essen. Das verhinderte zwar nicht, dass man Krähen und Raben verfolgte und abschoss, es hat aber dazu geführt, dass sie zu keiner Zeit und in keiner Kultur zum Nahrungsmittel geworden sind. Ihrer Ausbreitung in Menschennähe war das zuträglich. Es kann Tieren auch nützen, von Menschen als nicht schön empfunden zu werden. Das zeigt die Ausbreitung der Rabenvögel und ein Blick auf ihre nahen Verwandten.
Krähenvögel sind sehr eng mit den Paradiesvögeln verwandt. Der Ursprung der Krähen liegt wie der der Paradiesvögel auf Neuguinea und den kleinen Inseln in der Umgebung. Während aber Paradiesvögel auf das Gebiet Neuguineas beschränkt blieben, leben Rabenvögel heute fast über­all auf der Welt. Paradiesvögel, die ihren Namen von den Europäern wegen ihres prächtigen Gefieders erhielten, gelten als bedrohte Arten. Das hat natürlich auch mit der Verfolgung der Vögel durch Menschen zu tun.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, der in ihrer Biologie selbst liegt. Paradiesvögel sind auf ihre speziellen Lebensräume in Neuguinea angewiesen. In Städten zum Beispiel könnten sie nicht überleben, das macht sie auch anfällig für die Zerstörung ihrer Umwelt. Im Gegensatz dazu haben die Neukaledonia-Krähen als ursprüngliche Waldbewohner mit der Verstädterung Neukaledoniens weniger Probleme. Sie ziehen in die Städte um und passen selbst ihre Nahrungssuche den Rhythmen der Menschen an. Berühmt geworden sind in diesem Zusammenhang die Krähen von Tokio, die als erste gelernt haben, harte Nüsse vor die Reifen vor Ampeln haltender Autos zu werfen, um sie wieder einzusammeln und zu essen, wenn sie überfahren und geöffnet waren. Eine alte Singvogelregel besagt, dass ein bunter Vogel meistens schlechter singt als ein schlicht gefärbter, die Krähen glänzen aber nicht durch schönen Gesang, sondern durch soziale Kompetenz.
Viele Rabenvögel bilden zwar oft lebenslange Paarbeziehungen aus und sind am Nest territorial. Sie formieren sich aber alle immer wieder zu Trupps oder kleinen Schwärmen, die ihnen auch als Börsen zur Information über Nahrungsangebote und zur Partnersuche dienen. Viele Raben­vögel fliegen meist allein auf Nahrungssuche. Dass sie am nächsten Tag als Trupp auftauchen, nachdem ein einzelner Rabe eine ergiebige Futterquelle entdeckt hat, spricht für eine »Erzählung« vom Ort des Futters in den Trupps.
Diese Form der Kooperation gibt es nicht nur unter Tieren derselben Art. Raben haben in vielen Teilen der USA ein fast symbiotisch zu nennendes Verhältnis zu Kojoten entwickelt. Im Sommer, wenn das Gras hoch steht, sieht man Ra­ben häufig an hohen Stellen in Bäumen am Rand von Lichtungen sitzen. Für die Raben ist es in dem Gelände unmöglich, Insekten oder anderes Getier aufzustöbern. Kojoten können das wesentlich bes­ser, und wenn sie dort unten Tiere aufscheuchen, hilft es auch den Raben. Im Winter kehren sich die Verhältnisse um. Im Schnee kommen Kojoten nur schlecht voran, und vor allem fehlt ihnen die Übersicht. Die Raben werden dann zu ihren Wegweisern zur Nahrung.