Durchs wilde Kurdistan

Die Bundesregierung führt geheime Verhandlungen mit Milizenchefs im Nordirak: Der Abschiebestopp für irakische Kurden soll unterlaufen werden

Erst beim dritten Nachhaken erhielt die bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Amke Dietert-Scheuer die Antwort, nach der sie so lange verlangt hatte. Eduard Lintner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, wand sich sichtlich hinter dem Rednerpult des Bundestags, ehe er vergangene Woche zugab, was bis dato beharrlich dementiert wurde: Die Bundesregierung verhandelt mit der Türkei über ein Durchschiebeabkommen für kurdische Flüchtlinge aus dem Nordirak. Ziel der Verhandlungen: die Landroute über die Türkei als neuen Abschiebeweg gangbar zu machen, um so den seit 1992 geltenden Abschiebestopp für irakische Kurden nach Bagdad zu umgehen. Bislang blieben die Versuche, den letzten bundesweit geltenden Abschiebestopp auszuhöhlen, allerdings ohne Erfolg: "Natürlich haben wir ganz generell nach Wegen gesucht, wie Leute zurückgeführt werden können. Alle diese Bemühungen sind gescheitert, weil sich als Ergebnis herausgestellt hat, daß weder die Türkei noch andere Länder bereit sind, die Abschiebung über ihr Land zu gestatten." Schon der dänischen Regierung war es 1994 nicht gelungen, abgeschobene Flüchtlinge von Südost-Anatolien in den Irak weiterzuschieben. Die dänische Maschine mußte vollbesetzt wieder zurückfliegen.

Was also macht die Bundesregierung, wenn sich ihr Verhandlungspartner nicht kooperativ zeigt, dann, wenn "es im wesentlichen darum geht, den illegalen Zuzug möglichst effizient zu bekämpfen" (Lintner)? Sie sucht sich einen neuen Partner. Ob der dann als Staat international anerkannt ist oder nicht, ist nebensächlich - ein regionaler Partner tut es auch. Seit rund einem Jahr nämlich diskutieren Innenministerium (BMI), Auswärtiges Amt (AA) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) über "Abschiebungen in Regionen". Klaus-Jürgen Hedrich, Parlamentarischer Staatssekretär im BMZ, beschreibt, was gemeint ist: Bei Flüchtlingen einer Volksgruppe, die über mehrere Staaten verteilt ist, müßte man versuchen, "mit zwei oder drei oder sogar mehr Staaten zu einer einheitlichen Regelung zu kommen". Da das jedoch nicht immer klappt - siehe Türkei - "müssen wir, um mit dieser Problematik fertig zu werden, unterschiedliche Möglichkeiten anstreben. Dazu gehören dann gegebenenfalls auch regionale Vereinbarungen. Ob das dann wirklich im einzelnen erreichbar ist, das kann ich Ihnen heute natürlich nicht sagen. Wir werden zumindest diesen Versuch unternehmen."

Gesagt, getan. Am 6. Oktober saßen sich in Bonn nicht Vertreter zweier Regierungen gegenüber - verhandelt wurde nunmehr mit dem ständigen Vertreter der irakischen Kurden in Bonn, mit Dilshad Barzani. Als Bruder des Gründers und Chefs der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), Massut Barzani, verfügt er nicht nur über beste Kontakte in die Region, sondern ist darüber hinaus auch in die dortigen Machtkämpfe verwickelt. Innerhalb der nach dem Zweiten Golfkrieg eingerichteten UN-Schutzzone kontrolliert die KDP derzeit die Grenze zur Türkei. Das von ihr gehaltene Gebiet ist gleichzeitig Aufmarschgebiet der türkischen Armee für ihre Angriffe gegen Stellungen der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die wiederum ist Bündnispartner der mit der KDP um die Vorherrschaft in der Region kämpfenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK) Dschalal Talabanis.

Nach Informationen des Büros Dietert-Scheuer (B'90/Die Grünen) ist es bereits im Mai in der deutschen Botschaft in Ankara zu ersten direkten Sondierungsgesprächen zwischen Vertretern des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) und hochrangigen Funktionären sowohl der PUK Talabanis als auch der KDP Barzanis gekommen.

Zur Senkung der Asylquote schreckt die Bundesregierung auch vor direkten Verhandlungen mit sonst verpönten Kriegsfürsten nicht zurück. Abschottungs-Pragmatismus. Barzani kontrolliert schließlich nicht nur die Grenze, sondern ist nach übereinstimmenden Angaben der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl und der Bündnisgrünen bereit, irakische Kurden selbst ohne offiziell geschlossenes Transit-Abkommen aufzunehmen. Gegenüber dem Herzenswunsch der Beamten aus dem Außenministerium und dem Nürnberger Bundesamt, bei der Zerschlagung von Schlepperbanden behilflich zu sein, habe er sich sehr offen gezeigt, sagte Dietert-Scheuer der Jungle World. Seine wechselnde Bündnispolitik mit Saddam Hussein auf der einen und den türkischen Militärs auf der anderen Seite erfährt durch die Verhandlungen mit der Bundesregierung weitere Aufwertung. Der Deal scheint weit gediehen - das Modell "regionale Abschiebung" könnte funktionieren.

Zusätzliche Brisanz gewinnt das Bonner Treffen durch die Teilnahme von Spitzenvertretern des Bundesamts. Weder Auswärtiges Amt noch Bundesinnenministerium wollten die Zusammenkunft bestätigen, doch verläßliche Quellen belegen die Zusammenkunft von Spitzenvertretern des Bundesamts mit Barzani.

Obwohl das Bundesamt mit Abschiebungen nicht befaßt ist - es stellt allein die Abschiebebescheide aus, die Durchführung selbst obliegt den kommunalen Ausländerbehörden -, eruieren die Nürnberger Beamten nun, wie die Zahl irakischer Flüchtlinge in der BRD gedrückt werden kann - und mischen dabei in außenpolitischen Verhandlungen mit.

Das offensive, darüber hinaus gesetzeswidrige Mitwirken in den Verhandlungen kommt nicht unbedingt überraschend. Es kann auch als logische Fortsetzung der veränderten Anerkennungspraxis des Bundesamtes seit Mitte des Jahres betrachtet werden.

Hintergrund ist die seit 1993 ständig steigende Zahl irakischer Asylbewerber. Wurden 1994 noch 2 066 Asylanträge gestellt, waren es 1996 bereits 10 842 und allein in den ersten neuen Monaten dieses Jahres knapp 11 000 Iraker, darunter etwa drei Viertel aus Irakisch-Kurdistan, die in der BRD Asyl suchten. Der Irak ist damit erstmals in die Spitzenposition der Herkunftsländer von Asylantragsstellern gerutscht. Selbst die Türkei und die Bundesrepublik Jugoslawien wurden überholt.

In Bonn läuteten daraufhin die Alarmglocken. Mehr noch als über die steigende Zahl irakischer Flüchtlinge ist die Bundesregierung beunruhigt über die hohen Anerkennungsquoten. Mit über 80 Prozent kann sich keine andere Flüchtlingsgruppe so gute Chancen auf einen erfolgreichen Asylantrag ausrechnen.

Die Einreise irakischer Flüchtlinge zu stoppen hat sich vor allem das Innenministerium auf die Fahnen geschrieben. Ausführendes Organ: Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bündnisgrünen Ende Oktober behauptete das Ministerium von Innenminister Manfred Kanther (CDU) zwar, daß es im Bundesamt keine einheitliche Richtlinie gebe, wie Anträge irakischer Asylbewerber zu behandeln seien. So wird mehrfach betont, daß "die Einzelentscheider im Einzelfall weisungsungebunden" seien, gleichzeitig aber eingeräumt, daß "in den letzten Wochen im Rahmen von Informationsveranstaltungen neue Erkenntnisse und die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum Irak unterrichtet wurden. Änderungen in der Entscheidungspraxis beruhen auf einer neuen Entwicklung der allgemeinen Informations- und Erkenntnislage".

Keine Weisungen also, aber neue Erkenntnisse. Was die Standortpolitiker um den Asyl-Hardliner Kanther umtreibt, ist die Angst vor einem angeblich "massenhaften Zustrom" irakischer Asylbewerber - die noch dazu anerkannt werden. "Deutschland ist kein Einwanderungsland": Wenn nun selbst der zusammengekürzte Artikel 16 Grundgesetz nicht mehr ausreicht, irakischen Flüchtlingen den Zugang in die BRD zu verwehren, muß eben eine neue Beurteilung der politischen Situation im Nordirak her.

Die wiederum liefert der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten. Vom Auswärtigen Amt mit der politisch genehmen Lageeinschätzung gefüttert, steht ihm das Recht zu, gegen jede Entscheidung nicht nur des Bundesamtes, sondern auch der Verwaltungsgerichte Klage zu erheben. Noch vor einigen Jahren saß er mit den Nürnberger Entscheidern unter einem Dach - jetzt beschleunigt er aus dem fränkischen Zirnsdorf per Anfechtungsklagen den Kurswandel der Behörde in Sachen Irak-Politik. Vom Innenministerium berufen und jederzeit abrufbar, setzt er die Weisungen des Kanther-Ministeriums um. Mit Erfolg: Die Anerkennungsquote ist in den letzten Monaten bereits auf 70 Prozent gesunken, Tendenz fallend.

Drei Argumentationslinien liegen der neuen Politik gegen irakische Kurden zugrunde. Abgerückt wird von der bisherigen Rechtssprechung, wonach allein das Stellen des Asylantrags in der BRD genügte, um eine politische Verfolgung durch das Regime Saddam Husseins zu begründen. In einer der Jungle World vorliegenden Anfechtungsklage kickt der Bundesbeauftragte Klaus Blumentritt die geltende Begründung kurzerhand beiseite: "Allein wegen eines längeren Auslandsaufenthalts oder Asylantragstellung" hätten Rückkehrer "nicht mit Verfolgung seitens der irakischen Zentralregierung zu rechnen".

Punkt zwei: Da der Nordirak seit Einrichtung der UN-Schutzzone 1991 unter kurdischer Verwaltung stehe und irakischen Truppen der Zutritt in die Region verwehrt sei, folgern deutsche Regierung und Gerichte unisono, daß dort nicht die irakische Regierung, sondern allenfalls kurdische Organisation politisch verfolgen könnten. Einen Anspruch auf Asyl rechtfertigt diese Verfolgung jedoch nicht, weil - und da werden in der juristischen Argumentation aus den umworbenen Verhandlungspartnern wieder die kleinen Banden-Führer - in der BRD als politischer Flüchtling nur anerkannt wird, wer staatlich Verfolgung ausgesetzt ist.

Drittens münzt die Bundesregierung nunmehr selbst die direkten militärischen Angriffe der irakischen Armee in der autonomen Zone in den Beweis dafür um, daß der Irak keine Hoheitsgewalt über das Gebiet besitze. Folglich - die Argumentation ist bekannt - kann er dort auch nicht verfolgen.

Der letzte Stein auf dem Weg zur reibungslosen Abschiebung in den Irak liegt in Ankara. Auch wenn die Verhandlungen zwischen BRD und Türkei ins Stocken geraten sind, gehen die Bündnisgrünen und Pro Asyl unter Berufung auf interne Quellen aus dem Bundesamt davon aus, daß der Vertrag bald unter Dach und Fach ist. Dafür spricht auch, daß sich Ankara bei der Erteilung von Visa für freiwillig heimkehrende Flüchtlinge bislang durchaus kooperativ gezeigt hat. Das Transit-Abkommen würde die von der Bundesregierung so heiß ersehnten Landroute aus dem Südosten Anatoliens in den Irak endlich frei machen - der Aushändigung der abgeschobenen Flüchtlinge vom Bundesgrenzschutz an die Truppen Barzanis stünde nichts mehr im Wege.