Kulturindustrie-These als Dancefloorversion

Die Kulturproduktion gehört endlich in den Wirtschaftsteil der Medien.

Als die Berliner Zeitung vor kurzem ihr Outfit änderte, stellte sie den Kultur- vor den Wirtschaftsteil. Für eine Stadt wie Berlin sei Kultur ein entscheidender Standortfaktor - angesichts endloser Baustellen und der groben einheimischen Lebensart flüchteten sonst die Investoren. Schon längst ist Kultur nicht mehr ein Platz der Muße oder Ort feinsinniger Geister, sondern selbst eine gigantische Industrie. In Großbritannien beispielsweise übersteigen die Umsätze der Musikbranche die der Schwerindustrie bei weitem. Der Medienmogul Ted Turner spendete den Vereinten Nationen kürzlich quasi als Taschengeld eine Milliarde Mark - und demonstrierte damit eine Macht, die bis vor wenigen Jahrzehnten höchstens ein Krupp oder die US-Steel Corporation gehabt hatte.

Aber auch auf der Alltagsebene hat sich das Bild rasant geändert. Galt noch vor zwei Jahrzehnten die feine Unterscheidung zwischen Arbeit und Vergnügen, zwischen ernster Kultur und Unterhaltung, so sind die Übergange mittlerweile fließend. "Die Produkte verkaufen sich heute nur noch, wenn sie mit Symbolen der Energie, Dynamik, Lebensfreude verbunden sind", sagt ein Manager aus der Textilbranche. Der moderne Konsument will nicht nur einen Gebrauchsgegenstand, sondern auch ein sogenanntes Lebensgefühl erwerben.

Der tertiäre Sektor, der Dienstleistungsbereich, rückt bei der Wertschöpfung an die erste Stelle. Hier werden Attribute verlangt, die nicht mehr der traditionellen Fabrikdisziplin unterliegen: Kreativität und soziale Kompetenz. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat detailliert beschrieben, wie die Befreiung der Individuen aus den Klauen der "Disziplinargesellschaft" (Foucault), der alten Fabrikgesellschaft, funktionierte - und in eine neue, noch engere Kontrolle mündete. In diesem neuen Gesellschaftstyp funktionieren die alten Regeln des Systems nicht mehr. An die Stelle der traditionellen Fabrik tritt das global vernetzte Unternehmen. Der Wohlfahrtsstaat löst sich auf und wird zur Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Die alte Disziplinen, die ehemals den Institutionen, den Schulen, Universitäten oder der Industrie unterlagen, verlieren an Bedeutung. Die alten Zwänge, Konventionen und moralischen Imperative lösen sich auf, jeder wird zu seinem eigenen Unternehmer. Im gleichen Atemzug werden bisher gewohnte Sicherheiten über Bord geworfen. So arbeiten in der Bundesrepublik noch 60 Prozent der Lohnabhängigen unter sozialrechtlich organisierten Bedingungen, im zukunftsweisenden Großbritannien sind es nur noch 40 Prozent. Und mit den neuen Formen der Selbständigkeit, den schlanken Hierarchien und der Flexibilität wurde zuerst in den selbstverwalteten Betrieben der Alternativbewegung experimentiert - zur gleichen Zeit, als die Idee der Selbstverwirklichung und der Begriff der Alternativkultur die verzweifelte Suche nach Klassenkämpfen vertrieb. Entscheidend ist, sich ständig selbst zu optimieren, zum eigenen Dompteur zu werden. Die vermeintliche Liberalität der Postmoderne produziert ihr genaues Gegenteil: Die völlige Unterwerfung unter das Kalkül der Nützlichkeit zieht sich bis in die Kapillaren des Alltagslebens.

Ob man auf Sado-Maso steht oder sich lieber mit Survival-Tours im Kaukasus die Zeit vertreibt, ist einerlei und höchstens für die Trendscouts der Freizeitindustrie von Bedeutung. Fit for fun, das Diktat der Effizienz, gilt nicht nur für die Produktion, sondern auch auf der Freizeitebene. Wer sich jedoch nicht als produktiv oder zumindest als ergiebiger Konsument erweist, ist überflüssig und wird im besten Falle noch als Konkursmasse mitverwaltet. Damit hat sich auch ein anderes Mißverständnis erledigt: die Kultur als Ort der Rebellion. Die Erkenntnis ist nicht neu. Die fabrikmäßig organisierte Reproduktion als Ergänzung zum organisierten Alltagsleben wurde bereits in den vierziger Jahren von Horkheimer und Adorno als "Kulturindustrie" bezeichnet. Sie galt ihnen als Teil einer kapitalistischen Totalität, der es gelang, selbst das Bedürfnis, ihren Zwängen zu entkommen, den gleichen Verwertungsmechanismen zu unterwerfen. Im Dreivierteltakt der Musik und in den Texten der Schlager wurde die freiwillige Unterwerfung unter das Diktat der Disziplin nochmals zelebriert.

Die Jugend entwickelte sich seit den fünfziger Jahren zum Protagonisten einer Bewegung, die dieser Aufteilung widersprach. Sie wollte ihre Bedürfnisse im Hier und Jetzt befriedigen - und Musik und Drogen schienen ihnen dafür die geeigneten Methoden. Der Protest gegen die rigide Trennung zwischen der Arbeit und dem Reich der Sinne wurde eine Erfolgsgeschichte - allerdings nur, um einige Jahrzehnte später die These der "Kulturindustrie" scheinbar erneut zu bestätigen. Aus den einstigen Protagonisten der Rebellion sind mittlerweile respektable mittelständische Unternehmer geworden - die Rolling Stones verzeichnen beispielsweise einen Jahresumsatz von über 100 Millionen Dollar.

Und statt der sexuellen Revolution, die den Zwang zur permanenten Bedürfnisunterdrückung beenden sollte, gibt es heute den Beate-Uhse-Katalog und das Orlowski-Imperium. Was früher als frech und provozierend galt, als Anstoß für moralische und ästhetische Empörung, wird heute als schrill und hip bezeichnet - und im schlimmsten Fall gilt es als bieder. Die Sex Pistols brachten auf den Punkt, daß selbst die häßlichste Form des Protests nur auf eine besonders fiese Marketing-Idee zurückzuführen sei - alles ein großer "Rock'n'Roll Swindle".

Folgt man diesen Überlegungen, so ergibt sich jedoch ein anderes Problem. Wenn die (Sub-)Kultur nur eine subtile Verlängerung des Marktes ist, gibt es keine Möglichkeit, seinen Gesetzen zu entkommen. In diesem Sinne ist es nur konsequent, wenn aktuelle kulturelle Phänomene auf systemkritischen Firlefanz verzichten und sich - Beispiel Techno - gleich als Marketingprodukt definieren. Kultur ist kein abgetrennter Bereich des Lebens - konsequenterweise muß man ihn auch statt im Feuilleton im Wirtschaftsteil besprechen. Die Kulturindustrie steht im Zentrum der neuen Gesellschaftsformation - ihre Schlüsselbranchen sind Musik und Medien, ihre sozialen und moralischen Normen Identifikation und Selbstinszenierung.

Für Deleuze hat sich damit ein neuer Machttypus etabliert; Selbstkontrolle statt äußerer Disziplin. Doch jede neue Form der Macht mag zunächst effizienter erscheinen, sie provoziert aber auch ihr Gegenteil. Die Zahl derjenigen, die den neuen Anforderungen und dem mörderischen Tempo der permanenten Leistungssteigerung bis in die intimsten Bereiche des Lebens nicht mehr folgen können, steigen rasant. Diese Verlierer hält sich der freizügige kulturindustrielle Kapitalismus mit einem wachsenden Repressionsapparat vom Leibe. Zero tolerance - kein Pardon, heißt die Parole. Nur, vorhersehen oder gar planen läßt sich diese Entwicklung weder für Werbeagenturen, Polizeistrategen noch für die Freunde der Subversion - die "Fluchtlinien" sind für Deleuze so individuell, wie die Verhältnisse sich jeder umfassenden Erklärung entziehen und nur noch in Teilbereichen und temporär zu verstehen sind. Wo allerdings keine allgemeinen Aussagen mehr möglich sind, verlieren sich auch die Diskussion in Spekulation und Beliebigkeit.

Seitdem zelebrieren alle möglichen Kenner und Szenespezialisten das Ritual, das kulturelle Feld nach seinen Potentialen abzusuchen - schließlich kann jeder HipHop hörende Oberschüler später als Wirtschaftsredakteur Karriere machen - oder zum akademischen Lumpenproletariat gehören.

Wer diese Fragen weder den fatalen Verhältnissen noch der puren Spekulation oder gar dem Feuilleton der Berliner Zeitung überlassen will, kann am Freitag, dem 10. Oktober in Berlin einen Vortrag von Roger Behrens zum Thema hören. Ort: Kulturhaus Mitte, Rosenthaler Str. 51