Auf sanften Pfoten

Die zweite Gründerzeit

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Noch vor wenigen Jahren galt die Gen- und Reprotechnik als Schmuddelthema, über das in der Bundesrepublik kaum ein Politiker zu laut reden wollte. Mittlerweile hat sich eine Wende vollzogen. Bundeskanzler Helmut Kohl brüstet sich in der Haushaltsdebatte des Bundestags: "Ich spreche die Novelle der Gentechnik an. Meine Damen und Herren, was hat es für eine Aufregung darüber gegeben. Wie haben Sie im ganzen Land gegen das Gentechnikgesetz gehetzt! Es ist durchgesetzt worden. Sie können der neuesten Entwicklung entnehmen, daß wir in deutschen Betrieben in relativ kurzer Zeit die Rückkehr der Gentechniklabors in großer Zahl, in größerer Zahl, als wir erwartet haben, zu verzeichnen haben."

Im jüngst verabschiedeten Leitantrag des Vorstandes zum Parteitag der von Kohl so geschmähten SPD heißt das Ziel "Biotechnologie und Gentechnologie verantwortlich entwickeln". Zur Begründung heißt es dort: "Die Bio- und Gentechnologie ist eine Basisinnovation mit vielfältigen neuen Produkt- und Beschäftigungschancen. Sie bringt einen Innovationsschub in der Medizin für die Herstellung neuer, wirksamerer Medikamente. Sie bringt Chancen im landwirtschaftlichen Bereich. Sie bringt zudem einen Innovationsschub zur Optimierung von Rohstoffen und Ausgangsstoffen in der industriellen Produktion und kann dazu beitragen, Schadstoffe durch unbedenkliche Produkte zu ersetzen. Wir brauchen eine Informationsoffensive zu Fragen der Bio- und Gentechnologie, zu deren Möglichkeiten und Chancen und zu den Grenzen des Verantwortbaren dieser Technik. Ein Land wie die Bundesrepublik muß die verantwortbaren Potentiale, die in diesem Bereich liegen, systematisch entwickeln und ausbauen." Noch deutlicher wird Gerhard Schröder, unter dessen Regie der Leitantrag entstanden ist: "Wir werden damit Schluß machen, daß naturwissenschaftliche und technische Innovationen zunächst auf ihre Risiken abgeklopft werden, ehe man sich ihren Chancen zuwendet", schreibt der voraussichtliche Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten in seinem jüngsten Strategiepapier.

Die Argumente sind bekannt, sie wurden Dutzende Male von den Lobbyisten der Gen-Industrie vorgetragen. Überraschend ist allein, mit welcher Geschwindigkeit sich die offizielle Politik die Werbesprüche zu eigen, wie schnell sie sie zu ihren eigenen gemacht hat. Es schweigen auch die Kirchen, die bis vor kurzem gegen den "Eingriff in die Schöpfung" wetterten; die Akzeptanz in der Bevölkerung wächst in explosiver Weise an. Die Aktivisten auf den Äckern stehen, so scheint es, allein auf weiter Flur.

Woher kommt die Wende? Hat sich die Qualität der Gentechnik verändert? Ist sie jetzt gut geworden?

Mitnichten. Der neue Boom ist ein Beispiel dafür, wie eine staatlich gewünschte Tendenzwende in der Gesellschaft durchgesetzt werden kann. Das beinhaltet hochprovisionierte Institute, die dem Wissenschaftszweig eine eigene Ethik auf den Leib schneidern und nicht nur dessen Akzeptanz in der Bevölkerung untersuchen, sondern auch konkrete Strategien entwerfen, um diese zu erhöhen. Angesichts immer weiter steigender Arbeitslosenzahlen sind die Versprechungen der Gentechnologie um so erwünschter, je phantastischer sie klingen.

Das von Kohl so gelobte Gentechnik-Gesetz, die Bioethik-Konvention und die Europäische Patentierungsrichtlinie für gentechnisch veränderte Organismen schaffen Rahmenbedingungen, von denen die Konzernstrategen noch vor wenigen Jahren nicht zu träumen gewagt hätten. Dem Kapitalinteresse eröffnet sich mit einem Mal ein vollkommen neues Feld, es herrscht Gründerzeit-Stimmung. Und möglicherweise wird diese zweite Gründerzeit unsere Gesellschaft in ähnlich hohem Maße verändern wie die erste: die industrielle Revolution.