M. Souami, Auslandschef des Rassemblement pour la Culture et la Democratie (RCD)

Wer mordet in Algerien?

<none>

Die Situation in Algerien hat durch die Massaker der letzten Wochen in den europäischen Medien neue Beachtung gefunden. Wer mordet in Algerien Ihrer Ansicht nach: die Islamisten oder, wie manche behaupten, das Regime selbst?

Es sind eindeutig die Fundamentalisten, die systematisch morden, auch wenn es Übergriffe von seiten der bewaffneten Organe des Regimes gibt und Teile des Regimes ein offenkundiges Interesse daran haben, daß das Morden weitergeht.

Die Islamisten sahen zunächst ihre legale Machtübernahme durch die Wahlen 1991/92 gescheitert, weil das Regime die Wahlen abgebrochen hat. Dann versuchten sie es auf dem bewaffneten Wege, aber ihre zahllosen Angriffe auf die normale Bevölkerung - auf die Frauen, auf die Konsumenten von Tabak und Alkohol ... - haben dafür gesorgt, daß der Großteil der Bevölkerung ihnen den Rücken gekehrt hat. Nunmehr versuchen sie, auf dem Wege der totalen Einschüchterung - über Massaker an der Zivilbevölkerung - sich die algerische Gesellschaft zu unterwerfen ...

Sie gehen also davon aus, daß jene Mehrheit, die 1991 für den FIS ihre Stimme abgegeben hat - bei einer Wahlbeteiligung von nur 50 Prozent -, heute nicht mehr hinter dem islamistischen Gesellschaftsprojekt steht?

Zum Glück, denn wenn dies so wäre, dann würde in der aktuellen Situation in diesem Land bald kein Stein mehr auf dem anderen liegen. Es handelt sich gegenwärtig weniger um einen "Bürgerkrieg", also einen bewaffneten Konflikt zwischen zwei gesellschaftlichen Lagern, sondern um einen "Krieg gegen die Bürger". Bezeichend für die Abkehr der Bevölkerung ist die massive Beteiligung an der ersten Präsidentschaftswahl Ende 1995, als die Fundamentalisten jeden, der seine Stimme abgeben würde, mit dem Tode bedrohten. Ein klares Zeichen sind zudem die jüngsten Parlamentswahlen, auch wenn die Ergebnisse im Land selbst massiv vom Regime manipuliert wurden - zu Lasten der demokratischen Opposition, des "dritten Lagers" zwischen Militärs und Islamisten. Aber unter den Algeriern im Ausland, wo die Manipulation weit schwieriger ist, waren die Stimmanteile für die Demokraten weit höher. Die Algerier in Frankreich besetzen vier Sitze im algerischen Parlament, davon erhielt der RCD allein zwei. Und was noch wichtiger ist: In den "heißen" Armenvierteln von Algier, wo der FIS 1991 Erdrutschsiege einfuhr, ist heute der RCD die stärkste Partei. Bedeutende Teile der frustrierten und unzufriedenen Jugend haben gewissermaßen die Seite gewechselt.

Im Januar 1995 wurde die "Plattform von Rom" im Kloster San Egidio von mehreren Parteien, darunter die verbotene Islamische Heilsfront (FIS), ausgehandelt. Diese sieht eine "friedliche Losung" unter Einschluß der Fundamentalisten vor. Was motivierte die nicht-islamistischen Unterzeichner dazu, sich hier mit dem FIS an einen Tisch zu setzen?

Zunächst einmal: Der "Vertrag von Rom" war ein großer politischer Sieg für die Fundamentalisten. Nehmen Sie nur die Fernsehbilder: Die Kameras zeigten in den Mauern eines christlichen Klosters bärtige Islamisten neben der Teilnehmerin Louisa Hannan von der trotzkistischen "Arbeiterpartei" PT, eine modern gekleidete Frau - das sieht alles schwer nach Toleranz aus. Sodann ist der FIS durch die "Plattform von Rom" offiziell als Träger einer "politischen Lösung" anerkannt worden.

Die Teilnahme der ehemaligen Einheitspartei FLN erklärt sich unschwer daraus, daß Teile von ihr seit langem "islamischen Lösungen" zuneigen - man denke an das vom FLN-Regime 1984 verabschiedete Familiengesetz, das rein fundamentalistisch geprägt ist. Die Motivation der Chefs der FFS (Front des Forces Socialistes, eine Partei mit starken Zügen einer berberischen Regionalpartei; B. S.) um Hocine Ait Ahmed und der PT-Trotzkisten bestand wohl in einem taktischen Kalkül, daß man zuerst das aktuell bestehende Regime stürzen müsse, mit den Islamisten würde man danach schon fertigwerden. Ich garantiere Ihnen, daß in einem solchen Szenario niemand von diesen Leuten irgendeinen politisch relevanten Platz bekommen wird.

Also derselbe Fehler wie jener von Teilen der iranischen Linken, die meinten, man könne mit Khomeini zusammen das Schah-Regime stürzen, den alten Mann werde man dann schon zügeln können?

Ja, aber der oft angestellte Vergleich mit dem Iran hinkt. Im Iran gab es Anfang 1979 einen Kompromiß zwischen der Armee des Schah - nachdem dieser selbst ins Exil gegangen war - und den Islamisten, der zu einer Machtteilung zwischen Armee und Klerus führte, die bis heute Bestand hat. Aber im Iran, unter dem schiitischen Islam, gibt es einen organisierten Klerus, der an der Spitze einer Hierarchie einen zentralen Chef aufweist, vergleichbar mit dem Papst.

Der sunnitische Islam, wie er in Algerien existiert, kennt hingegen keinen organisierten Klerus als selbständige soziale Schicht. Jeder Muslim, der den Koran zu kennen behauptet, kann zum Prediger werden. Auch wenn es zu einem Kompromiß zwischen dem FIS als strukturierter Partei und den Militärs kommen sollte, können zahllose selbsternannte "religiöse Führer", die damit nicht zufrieden sind, aufstehen und den Kampf gegen die Zivilbevölkerung weiterführen.

Das deutet darauf hin, daß es sehr schwer sein wird, dem ein Ende zu setzen. Was ist Ihrer Ansicht nach zu tun?

Es gibt kein Patentrezept, ich kann Ihnen nicht sagen, was man tun muß, damit das Morden aufhört. Aber ich kann Ihnen sagen, was man nicht tun darf, ohne Gefahr zu laufen, den Brand weiter anzuheizen: Man darf nicht - wie das gegenwärtige Regime es tut - versuchen, den Terrorismus zu bekämpfen und zugleich den Fundamentalismus auf der Suche nach einem "Kompromiß" zu umwerben, ihn zu ermutigen. Der Islamismus ist gewissermaßen die ideologische Matrize des Terrorismus, die Handlungsmotivation, die junge Männer zum bewaffneten Fundamentalismus treibt.