Der Werwolf sucht sein Rudel

Neonazi Kay Diesner verteidigt während des Prozesses seine rechtsterroristische Position

Er kämpft gegen den "rassistischen, faschistischen und imperialistischen Staat BRD", gegen Profitgier und Umweltzerstörung. Seine Vorbilder sind die IRA und die RAF - die erste und die zweite Generation, wie er präzisiert. Er haßt Bosnier und "sogenannte Rußlanddeutsche" und spricht von Massenvernichtung, vom "Holocaust, den der BRD-Staat am deutschen Volk betreibt". Er meint die Castor-Transporte, die Gentechnik, die Überdüngung, den Müll, vor allem aber, daß "die kulturelle Identität der weißen Rasse ausgelöscht wird".

Kay Diesner scheint ruhig, unaufgeregt, doch gerade dadurch wirken seine Erklärungen brutal, zwischendurch auch etwas naiv, in ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit aber eindeutig: Der "germanisch-heidnische Kämpfer" aus dem Hause des Berliner Neonazis Arnulf-Winfried Priem gibt sich sozialistisch und radikal nationalistisch. Er reproduziert eine diffuse Mischung ideologischer Versatzstücke, die in ihrer Gesamtheit ein nationalsozialistisches Weltbild hervorbringen. Diesners Kampf gilt dem "deutschfeindlichen BRD-Staat". An ihm und "seinen Bullen" hatte er sich rächen wollen. Und an den Zecken, der Antifa.

Nun sitzt er hier auf der Anklagebank. Den Kopf in der rechten Hand aufgestützt, die Lippen gelangweilt nach vorne gepreßt, blickt der 25jährige teilnahmslos auf den grauen Fußboden im Lübecker Landgericht, als Staatsanwalt Günter Möller die Anklageschrift verließt: Mord an einem Polizisten, versuchter Mord in drei weiteren Fällen. Eines seiner Opfer sitzt mit im Saal 163, wo seit dem 8. August gegen Kay Diesner verhandelt wird: Der Buchhändler Klaus Baltruschat, den der Neonazi am 19. Februar im Haus der PDS-Geschäftsstelle Berlin Marzahn niedergeschossen hat. Er beteiligt sich als Nebenkläger am Verfahren. Dem 63jährigen mußte nach den Schüssen aus dem "Halbautomat", wie Diesner seine Waffe nennt, der linke Unterarm amputiert werden, an der rechten Hand fehlt ihm ein Finger.

Baltruschat folgt jedem Wort des Neonazis. Auf ihn will Diesner an jenem Morgen alles "Böse" übertragen haben. Schließlich sei die PDS "extrem deutschfeindlich". Er verachtet sie wie jede Partei, die einen Eid auf das Grundgesetz geschworen hat. "Das sind alles keine Deutschen mehr, sondern BRDler." Außerdem halte die PDS "die Leute von der wahren Alternative ab".

Diesner, der sich sonst wenig Mühe gibt, den Geläuterten zu spielen, versucht, den Vorwurf des versuchten Mordes zu widerlegen. Er habe beschlossen, Baltruschat anzuschießen, weil die PDS die Antifa unterstütze, die Jugendliche der Jungen Nationaldemokraten auf dem Weg zu einer Demonstration zusammengeschlagen habe. Diesner: "Ich wollte ihn nicht töten. Der sollte darüber berichten. Wenn ich ihn töten wollte, hätte ich ihn mit dem Messer bearbeitet."

Auch den "Bullen", auf den er vier Tage später vor seiner Verhaftung auf einem Autobahn-Parkplatz in Schleswig-Holstein schoß, habe er nicht ermorden wollen, sagt Diesner und beruft sich auf Notwehr. Schließlich habe der Beamte zuerst gezogen. Staatsanwalt Günter Möller geht vom Gegenteil aus. Doch der Neonazi wirft dem Strafverfolger, dem "Folterknecht", vor, er habe eine "Lügenanklageschrift" gebastelt. Und dann, ganz sachlich: "Es tut mir nicht leid, daß ich mich gewehrt habe. Es stand fünfzig zu fünfzig." Die Mutter des erschossenen Polizeibeamten Stefan Grage hat wenig Verständnis für Diesners Mann-gegen-Mann-Philosophien. Regelmäßig bricht die Frau während den Ausführungen des Angeklagten in Tränen aus.

Der Neonazi macht auf Einzelkämpfer, doch teilweise wirken seine Statements wie auswendig gelernt. Andere rechtsextreme Organisationen will er nicht so richtig ernst nehmen. Er spricht von den "Jungen Nationaldemokröten" und den "bürgerlichen Deutschen" von der NPD. Bei der mittlerweile verbotenen Nationalen Alternative (NA), "den Nationalen Arschlöchern", sei er nur gewesen, als er "noch doof und nicht ausgereift war". Und auffällig häufig betont Diesner, daß er von Waffen keine Ahnung habe, weiß aber sofort, mit welchem Gewehr einer der Polizeibeamten sich gegen ihn zu verteidigen versucht hat. Schon 1990 genoß der Ostberliner in der NA eine zweijährige intensive ideologische und militärische Schulung.

Doch solche und ähnliche Angaben des Nazi-Aussteiger Ingo Hasselbach, nach denen er fest organisiert sei, bezeichnet Diesner als Lügen von "Hasenkot". Er sei ein unabhängiger Kämpfer. So unabhängig, daß er sich gar auf der "Revolutionären 1. Mai-Demonstration 1994" in Kreuzberg aufgehalten hat. Warum? "Ich teile gewisse Denkanstöße mit diesen Leuten."

Und in der Tat ist Diesners Bezugnahme auf RAF und auch Autonome nicht zufällig. Zwar war er möglicherweise an diesem 1. Mai einfach im Rahmen von Anti-Antifa-Aktivitäten in Kreuzberg unterwegs, aber die ideologischen Versatzstücke, die Diesner teils eintönig herunterleiernd, teils kindlich trotzig vor Gericht zum Ausdruck bringt, sind mit dem Weltbild so mancher Linker durchaus kompatibel. So erinnert das dumpfe Verständnis Diesners von Umweltzerstörung an jene ...ko-Fraktionen aus der linken Bewegung, die den Begriff der Natureingebundenheit affirmieren, technologische Entwicklungen per se als bekämpfenswerten Eingriff betrachten und folglich esoterisch-reaktionären anstelle von materialistisch-dialektischen Ansätzen das Wort reden. Oder, wie Diesner einfacher formuliert: "Die Götter zeigen sich in der Natur."

Vor allem aber seine Feindschaft "gegen Profitgier und Geld", die nach seinem Verständnis die Geschicke der Menschheit bestimmen, dürfte der Neonazi mit zahlreichen Linken in dieser Form teilen. Schließlich ist auch dort noch immer jener dumpfe Antikapitalismus salonfähig, der nicht die Gesetze einer warenproduzierenden Gesellschaft, sondern den konkreten Kapitalisten für alles Schlechte der Welt zur Verantwortung ziehen will - ein Verständnis, das unumwunden antisemitischen Stereotypen und entsprechenden Weltverschwörungstheorien Vorschub leistet. Gerade hier treffen sich häufig nationalistische Bewegungen aus dem linken mit denen des rechtsradikalen Spektrums. Und nicht zufällig setzt man gerade in organisierten militanten rechtsextremistischen Kreisen immer wieder auf die gemeinsame Gegnerschaft zum kapitalistischen Staat.

Diesner bringt diese neonazistischen Ansätze allerdings nur fragmentarisch zum Ausdruck. Seine Aussagen wirken häufig wie gelernte Satzbausteine. Dennoch besteht er darauf: "Ich bin ein Einzelkämpfer." Doch bei der PDS will man dieser Version keinen Glauben schenken. "Wir müssen davon ausgehen, daß Diesner im Rahmen des Konzeptes des führerlosen Widerstandes agiert hat," sagt Parteisprecher Udo Wolf.

Nach dieser Strategie, die der US-amerikanische Ku-Klux-Klan-Anführer und Angehörige der "Arischen Nation" Louis Beam 1992 zum weltweiten Export in die militante Neonaziszene gegeben hat, "operieren alle Individuen und Gruppen unabhängig voneinander und fragen nie bei einem zentralen Hauptquartier" nach Anweisungen. Beam spricht von "Ein-Personen-Zellen". Eine modifizierte Variante dieses Entwurfs wurde in Anlehnung an das von NSDAP-Propagandaminister Joseph Goebbels entworfene "Werwolf-Konzept" im deutschen Neonazi-Untergrund der neunziger Jahre diskutiert. Einen solchen Zusammenhang räumt auch Bernd Wagner, ehemaliger Leiter der Abteilung Staatsschutz der fünf neuen Länder, ein: "Kay Diesner ist der Prototyp eines Werwolfs."

Ob der Neonazi tatsächlich auf einen organisierten Hintergrund bauen kann, wird wohl auch der Prozeß nicht aufklären. Parteisprecher Wolf wirft den Berliner Behörden vor, sie hätten "nicht zielgerichtet im rechtsterroristischen Millieu" ermittelt. Schließlich lebten mehrere führende Neonazis in unmittelbarer Nähe von Diesners damaligem Wohnort, die nicht vernommen worden seien. Zudem werde der Neonazi-Terror verharmlost, wenn Diesner als "geistig minderbemittelt" dargestellt wird. Der PDS lägen Informationen vor, nach denen Diesner intern als "fähiger Soldat" eingeschätzt worden sei.

Auch der Beschuldigte selbst will das Bild des "verwirrten Rechtsradikalen", wie er es bei ersten Vernehmungen abgegeben hat, nicht weiter aufrechterhalten. Aussagen, nach denen ihm Göttern ins Ohr geflüstert hätten, "tu es", seien falsch gewesen. "Wegen der Repression, der Schläge und Tritte, habe ich auf ÝbescheuertÜ gemacht. Ich hörte keine Stimmen von Göttern, die mir befahlen."