Strategien der Geschichtsschreibung

Geschichte als Gegendarstellung

Die Strategie, einer hegemonialen Geschichtsschreibung eine vom Anspruch auf Wahrheit abgelöste Sicht der Opfer entgegenzustellen, ist eine zweifelhafte Angelegenheit. Denn sie kann auf die ­Opfer zurückfallen.

»Clint Eastwood hat über den Zweiten Weltkrieg im Pazifik zwei Filme gedreht«, sagt Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland / Schwarze Deutsche (ISD), »aber in beiden Filmen kommen kaum schwarze US-Soldaten vor, obwohl im Pazifik-Krieg viele von ihnen gekämpft haben«. Della dient das Beispiel im Gespräch über die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«, um zu zeigen, wie die »weiße Mehrheitsgesellschaft« ihre Geschichte schreibe. In der Tat stellt Eastwoods »Flags of Our Fathers« die Schlacht um die Insel Iwojima aus der Perspektive US-amerikanischer Soldaten dar, um dann das Geschehen in »Letters from Iwo Jima« aus Sicht der japanischen Truppen zu zeigen, und obwohl das irgendwie historisch ausgewogen sein soll, kommt eines dabei kaum vor: schwarze GIs.
Tahir Della will damit aber auch noch etwas anderes sagen, nämlich, was für eine Ausstellung er sich gewünscht hätte. Eine Hommage hätte er erwartet, wie sie Spike Lee als Reaktion auf die beiden Filme Eastwoods drehte. Um Eastwoods unvollständiger Geschichte eine andere Geschichte entgegenzustellen, drehte Lee den Film »The Miracle at St. Anna«. Ein Film, in dem eine Division ausschließlich afroamerikanischer Soldaten in Italien gegen die Nazis kämpft, und der den schwarzen Gefallenen und den überlebenden schwarzen Soldaten, die sich über Eastwoods Filme empörten, ein Denkmal setzen soll.
Recherchiert man aber zu diesem Film Spike Lees, der Della als Beispiel für eine Hommage dient, stolpert man über einen Konflikt, der zu dem um die Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« eine vage, aber bezeichnende Analogie bietet. Denn in Spike Lees schwarzer Gegendarstellung zu Eastwoods Filmen wird auch die Geschichte des Massakers in St. Anna di Stazzema erzählt, bei dem deutsche SS-Truppen 560 italienische Zivilisten ermordeten. Doch hier ist es dann Lee, der sich offenbar nicht darum schert, was die Nachkommen der Opfer sagen. Denn sein Film erzählt nicht, was die Überlebenden des Massakers berichteten, sondern eine Version, die sich offenbar um historische Belege nicht kümmert. Eine Version, die indirekt die italienischen antifaschistischen Partisanen für das Massaker der Nazis verantwortlich macht. Den empörten Nachkommen der Opfer hielt Lee schlicht entgegen, das sei nun mal seine Version der Geschichte, er habe sich für nichts zu entschuldigen. Und reagierte damit ziemlich genau so, wie Clint Eastwood Spike Lees Vorwürfen begegnete.

Vielleicht ist die Geste dessen, der meint, sich für seine Ignoranz nicht entschuldigen zu müssen, zu verlockend, um sie nicht einfach zu kopieren und umzudrehen, wie es die schwarze Popkultur oft als subversive Methode feiert. Und die Geschichte so einseitig zu schreiben, wie es die weiße Mehrheitsgesellschaft schließlich auch tut. »Wenn ein Ausgleich erreicht ist«, sagt Tahir Della von der ISD, dann könne man die Dinge »auch darstellen, wie sie waren«, etwa die Kollaboration von Menschen in der Dritten Welt mit dem NS-Regime. »Aber ein Ausgleich ist noch nicht erreicht«, sagt Della und meint deshalb, eine Würdigung des Beitrags der so genannten People of Colour im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus habe das Recht, all das auszusparen, was »dem positiven Bild der People of Colour nicht zuträglich ist«.
In der Pressemitteilung zur Ausstellung behauptet die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland zudem, in der Debatte werde versucht, »eine polemische und allzu simple generalisierende Verbindung zwischen Muslimen und nationalsozialistischen Verbrechen zu konstruieren«, was weder auf diese Debatte und erst recht nicht auf die Ausstellung zutrifft, in der neben der Tafel zur arabischen Kollaboration bewusst eine Tafel zum arabischen Widerstand hängt. Aber weil Tahir Della bei der weißen Mehrheitsgesellschaft ein rassistisches Stereotyp des arabischen Judenhassers ausmacht, ist für ihn schon die Erwähnung des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini, eine »Generalisierung«, weil sie das Stereotyp zu bestätigen drohe. Fakten zählen da nicht viel. »Man muss doch fragen, was für Bilder bleiben bei den Leuten hängen, was prägen sie sich ein«, sagt Della.
Auch der Begriff der »Dritten Welt«, der eben nicht in »einer unguten rassentheoretischen Tradition steht«, wie die Pressemitteilung des ISD den Ausstellungsmachern vorwirft, sondern vielmehr dem antikolonialen Widerstand entstammt, ist für Della nicht akzeptabel, denn seiner Meinung nach müsse man sich fragen, was »Dritte Welt« heute für die Mehrheitsgesellschaft bedeute. Und was davon dann hängenbleibe. Der »dritte Platz« für die »People of Colour«, das bleibe hängen, befürchtet Della. Und daher zählt für ihn nicht die Begriffsherkunft, sondern nur, was selbst gewählt sei, wie sich »die Leute selbst bezeichnen«, und das sei »People of Colour«.

Darauf, was der Begriff bedeutet, kommt es aber anscheinend nicht an, sondern vielmehr auf den »Sprechort«, auf das »Selbstdefinitionsrecht«, dem zufolge nur »People of Colour« definieren können, was nicht rassistisch ist. »Weiße können vielleicht sagen, was rassistisch ist, aber nicht, was nicht rassistisch ist«, sagt Tahir Della. Selbstbestimmt soll aber nicht allein die Sprachregelung oder die Rassismusdefinition sein, sondern eben auch die eigene Geschichte. Man will sich nicht unbedingt vorstellen, wie eine »selbstbestimmte Geschichte« Deutschlands aussehen würde. Man kann ein harmloseres Beispiel wählen und sich Spike Lees Film und die Proteste dagegen ansehen, um zu sehen, was »selbstbestimmte Geschichte« dann für diejenigen Menschen bedeuten kann, die selbst als Opfer von genau derselben Geschichte betroffen sind und diese in der »selbstbestimmten« Geschichtsschreibung der anderen dann entstellt finden. Das, was für die einen Hommage und Subversion der hegemonialen Geschichtsschreibung ist, ist für die Nachkommen anderer Beteiligter dann der Hohn auf ihre Opfer, und hypothetisch könnte man dann mit subversiven Umschreibungen der Geschichte ewig Ping-Pong spielen, denn ein »Ausgleich« wird sich so nicht erreichen lassen, während gleichzeitig das Leid der Betroffenen immer weiter relativiert wird.
Wo Geschichte im Sinne postmoderner Ideen als diskursives Schlachtfeld angesehen wird, auf dem allein um Deutungsmacht und Hegemonie gerungen wird und auf dem der Anspruch auf Objektivität als bloßes Machtwerkzeug der anderen gilt, gäbe es auch nichts mehr, auf das sich etwa ein Spike Lee berufen könnte, um die Ausblendung schwarzer Soldaten zu kritisieren. Gerade weil Geschichte nämlich nicht einfach in Form objektiver Fakten in der Gegend herumliegt, ist nichts fataler, als wenn jene, die an der Geschichtsschreibung der Menschheit mitstricken, sich vom Anspruch auf historische Objektivität verabschieden. Denn dann droht die Verhöhnung der Opfer, seien es die Opfer des Massakers in St. Anna di Stazzema, die vielen Opfer der Nazi-Kollaborateure, die die Kritiker der Ausstellung »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg« nicht neben ihren Helden erwähnt sehen wollten, oder aber eben die, die die Geschichtsschreibung in der Tat oft genug unsichtbar gemacht hat: die Opfer von Kolonialismus und Rassismus.