Über das Stockholm-Programm der Europäischen Union

Überwacht im Stadion

Das Stockholm-Programm der EU, das im Dezember verabschiedet werden soll, dient als Grundlage für die europäische Innen- und Sicherheitspolitik der kommenden fünf Jahre. Wesentliche Punkte der neuen europäischen »Sicherheitsarchitektur« sind der Ausbau polizeilicher, militärischer und geheimdienstlicher Zusammenarbeit sowie neue Maßnahmen im Bereich des Datenaustauschs und der Internet-Überwachung.

Anfang Dezember treffen sich die europäischen Innen- und Justizminister in Brüssel, um das Stockholm-Programm zu verabschieden. Der neue Fünfjahresplan soll einen »Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Dienste der Bürger« definieren, wie es in einer Mitteilung der EU-Kommission an das Europa-Parlament und den Europa-Rat heißt. Mehrjahresprogramme sind Pläne der EU zur Ausgestaltung zukünftiger gemeinsamer Politik. Sie werden in so genannten Aktionsplänen ausformuliert, die die Grundlage für konkrete Richtlinien bilden. Bereits realisierte Maßnahmen der vorigen beiden Fünfjahrespläne (Tampere 1999 und Den Haag 2004) sind etwa die Vorratsdatenspeicherung, die »Harmonisierung« der Anti-Terror-Gesetzgebung, die Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken bei Anträgen auf ein EU-Visum, die Einführung von biometrischen Ausweispapieren und gemeinsame Polizeieinsätze im Ausland.
Die Vorlage für das Stockholm-Programm wurde von der so genannten Future Group erarbeitet, einer informellen Arbeitsgruppe, die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 vom damaligen EU-Justizkommissar Franco Frattini und vom deutschen Innenminister Wolfgang Schäub­le gegründet worden war und in der sich die Mitglieder der jeweils gegenwärtigen sowie zukünf­tigen Ratspräsidentschaften der EU koordinieren. Die Future Group ist ein informelles Gremium, das keiner EU-Institution rechenschaftspflichtig ist, »die Mitglieder haben alle in ihrer persönlichen Eigenschaft teilgenommen«, erklärt das Bundesinnenministerium (BMI). Das habe dazu geführt, »dass offener diskutiert werden konnte als in den formellen Ratssitzungen«. Der Bericht dieser »hochrangigen Gruppe«, die über die Zukunft der europäischen Innenpolitik berät, bereitete die Ausgestaltung des neuen Mehrjahresprogramms vor.
Im Falle des Stockholm-Programms könnte sich die Ausarbeitung eines »Aktionsplans« bis zur endgültigen Ratifizierung des Vertrags von Lissabon 2010 unter spanischem oder belgischem EU-Vorsitz verzögern. In diesem Zeitraum will sich die EU noch schnell mit den USA über den Zugriff der US-Behörden auf die Daten der finanziellen Transaktionen des belgischen Finanzdienstleisters Swift (Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication) einigen. Die gegenwärtige schwedische Präsidentschaft will noch im Dezember ein vorläufiges Abkommen aushandeln. Wie der Umgang mit den Swift-Daten ist auch die verdachtsunabhängige Erfassung von Flugpassagierdaten (PNR) nach US-amerikanischem Vorbild in den 27 Mitgliedsstaaten umstritten. Beide Maßnahmen sollen der Terrorismusbekämpfung dienen. PNR-Daten würden dann in den USA 13 Jahre gespeichert. Im Falle von Swift hat die US-Delegation zugestanden, für einen Zugriff immerhin auch europäische Polizeibehörden mit Bankdaten zu versorgen. Die EU hatte zuvor öffentlich gemacht, dass sie an einem eigenen System mit dem Namen »Terrorist Finance Tracking Program« (TFTP) arbeitet, um Transaktionsdaten selbst auszuwerten.

Unter Datenschützern regt sich Kritik am Stockholm-Programm. Vorige Woche forderten die Datenschutzbeauftragten der Bundesländer auf ihrer Jahrestagung einen »Neustart im Datenschutz«. Befürchtet wird, dass der EU-Plan zur Einführung zentraler Datenbanken führt, die etwa Ein- und Ausreisen oder Strafregistereinträge verzeichnen, heißt es in einem Bericht an den Bundestag. »Die Gefahr heißt gläserner Unionsbürger«, kommentiert der Berliner Datenschutzbeauftragte Alexander Dix. Sein europäischer Kollege Peter Hustinx warnt vor einer »Transformation zur Überwachungsgesellschaft«.
Die Datenschützer fordern ein »ausgewogenes Verhältnis von Sicherheit und Freiheit« und sind damit nicht weit entfernt von der Argumentation der europäischen Innenminister. In einem Dokument des deutschen Innenministeriums zum Stockholm-Programm wird etwa eine »Balance zwischen Mobilität, Sicherheit und Bürgerrechten« eingefordert. So müsse das Stockholm-Programm »zunehmende Aufgaben im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit bewältigen«. Als deutsches Hauptanliegen gilt auch die »Umsetzung der externen Dimension der EU-Innenpolitik«. Die EU solle eine noch engere Verbindung und stärkere gegenseitige Nutzung von Fachwissen in den Bereichen Außenpolitik, Militär, Sicherheit, Polizei, Bevölkerungsschutz und Entwicklungshilfe gewährleisten. Dieses »Fachwissen« wird unter anderem in der Sicherheitsforschung produziert, deren zivil-militärisches Pooling im auslaufenden Haager Programm beschlossen wurde. Das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) sitzt zusammen mit Militärs und der Sicherheitsindustrie (Siemens, Diehl und EADS) sowie der Fraunhofer-Gesellschaft im deutschen Konsortium des europäischen Sicherheitsforschungsprogramms ESRP.
Das BKA forscht selbst und profitiert von Ergebnissen aller anderen Arbeitsgruppen. Das ESRP entwickelt so genannte Data-Mining-Software zur computergestützten Suche nach »Risiken«. Die Software, deren Algorithmen geheim gehalten werden, kann Personendatenbanken, Telefonmitschnitte und andere Datensätze regelmäßig auf Cluster untersuchen. Die Anbieter behaupten, die Software auch an deutsche Verfolgungsbehörden verkauft zu haben. Per Plug-in kann die Software auch zur Auswertung biometrischer Videodaten genutzt werden, um etwa »verdächtiges Verhalten« frühzeitig zu erkennen.
Auch die Bereiche Aufklärung (durch Satelliten, Geoinformationssysteme, Telekommunikationsüberwachung, Entschlüsselung), Forensik, Dokumentensicherheit und Biometrie dürften starkes Begehren beim BKA auslösen. Militär und Polizeibehörden mehrerer EU-Staaten experimentieren bereits mit fliegenden Kameras, die Demonstrationen und Fußballstadien »diskreter« überwachen sollen. Satellitenaufklärung soll beispielsweise zur Erkennung kleiner Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer eingesetzt werden. Auch das Aufspüren von Depots für Barrikaden wie beim G8-Gipfel in Heiligendamm könnte damit, ohne Tornado-Überflüge, besser organisiert werden.

Die innenpolitische Staatswerdung der EU, die mit dem Lissabon-Vertrag ein wichtiges Hindernis überwindet, sieht die Weiterentwicklung der europäischen Polizeibehörden vor. Neben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex oder der 2006 ins Leben gerufenen europäischen Gendarmerie-Truppe für Auslandseinsätze steht vor allem die Aufwertung der europäischen Polizeibehörde Europol im Mittelpunkt des Stockholm-Programms. Im Europol-Ratsbeschluss für 2010 wurde der Mandatsbereich der europäischen Polizeibehörde auf »alle Formen schwerer grenzüberschreitender Kriminalität« erweitert.
Deutschland finanziert rund 20 Prozent des Etats von Europol. Stolz berichtet das BMI, »im Informationsaustausch mit Europol liegt Deutschland vorn«. Das BKA, die Landeskriminalämter und die Geheimdienste würden die »höchsten Zulieferungen und Abfragen verbuchen«, freut sich das Ministerium. Schäuble will das polizeiliche Ausspähen von Computern (Governmental Hacking) in ganz Europa und grenzüberschreitend einführen, zuständig wäre hierfür Europol. Seinem parlamentarischen Staatssekretär Peter Altmaier reicht das noch nicht. Er wünscht sich eine Kooperation verschiedener EU-Agenturen und die »Entwicklung möglicher Synergien zwischen innerer und äußerer Sicherheit«.
Vergangene Woche legte nun die schwedische Ratspräsidentschaft ihren lange erwarteten Entwurf zum Stockholm-Programm vor. Darin finden sich einige der Forderungen wieder, die zuvor von der deutschen Regierung aufgestellt und in einem Anfang Oktober überarbeiteten Dokument niedergelegt wurden. So schlägt Schweden einen Datenaustausch über »gewalttätige Extremisten« vor, womit keineswegs nur islamistische Terroristen gemeint sind. Die Bundesregierung hatte in ihrer Wunschliste erneut ihren langgehegten Plan vorgetragen, einen »Datenverbund« über »reisende Gewalttäter« zu etablieren, um etwa Gipfelproteste besser kontrollieren zu können. Ein Vorschlag in dieser Hinsicht hatte bereits 2007 nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm den Bundesrat passiert. Sollte sich diese Datenbank nicht durchsetzen lassen, wird eine Ausschreibungskategorie im Schengener Informationssystem angeregt. Die Bundesregierung befürwortet zudem eine »europäische Lösung« zur Durchsetzung von Internetsperren und schlägt »mit Blick auf das soeben beschlossene Zugangserschwerungsgesetz in Deutschland« eine Evaluierung ähnlicher Maßnahmen anderer Länder vor. Verantwortlich für die Datei zu den »reisenden Gewalttätern« wie auch für die europäischen Internetsperren wäre erneut die Behörde Europol, die sich nach dem Willen Schwedens zur »Drehscheibe« des Informationsaustauschs entwickeln soll. Um zukünftig abweichendes Verhalten besser voraussehen und bekämpfen zu können, soll die EU ein Beobachtungszentrum zur Verbrechensprävention aufbauen, dessen Sekretariat bei Europol liegen soll. Die Behörde soll umfangreiche Daten erheben und mittels der Auswertung durch Data-Mining-Programme Prognosen über zukünftige Straftaten erstellen.