»Liquid Democracy« und Kontrollgesellschaft

Der Staat als Computer

Statt auf reflexive Vernunft setzt die »Liquid Democracy« auf technische Rationalität. Sie verwirklicht darum nicht die Demo­kra­tie, sondern die Kontrollgesellschaft.

Euphorische Verherrlichungen der Informationstechnologie gehören zur üblichen Ideologie des Fortschritts, der einzig in der als Kapitalismus stillgestellten Welt noch denkbar scheint. Spätestens mit dem Web 2.0 soll dieser Fortschritt auch wieder politische Horizonte eröffnen: Twitter, Blogs, Wikis etc. versprechen neue Formen der Basisdemokratie; von »Liquid Democracy« ist die Rede, und Netzpiraten finden die virtuellen Räume der Macht in flachen Hierarchien geordnet, die angeblich ohne Identität und Repräsentation auskommen. Nun sind jedoch die meisten Beiträge in den verschiedenen Plattformen digitaler Partizipation so sinnlos und überflüssig, dass sie ohnehin keinen Anspruch auf Reflexion erheben können; und dass sich gleichwohl in den trüben Gewässern der »Liquid Democracy« alle Varianten von Dummheit und Ressentiment tummeln, bestätigt mitnichten, dass es sich hierbei um einen Schritt in Richtung emanzipatorische Allianztechnik handelt.
Hohn ist, dass Demokratie auf eine billige Parole von Freiheit als Wahl- oder Meinungsfreiheit reduziert wird. Demokratische Freiheit hat mit konsumistischen Wahloptionen und Meinungsrechthaberei nichts zu tun; vielmehr zielte sie, humanistisch ernst genommen, auf Erkenntnis – und zwar als radikale Kritik, dass Demokratie den Selbstwiderspruch impliziert, sich auf »Volk« und »Herrschaft« immer schon eingelassen zu haben. Die wahrhaft freie demokratische Gesellschaft wäre eben eine jenseits von Volk und Herrschaft. Was die Web-2.0-Politpiraten indes verteidigen, ist nichts weiter als die krude Verlängerung von »Volk« und »Herrschaft« nach Maßgabe einer in der Tat fortgeschrittenen informationstechnologischen Rationalität. Subsumiert beziehungsweise schlichtweg verschleiert wird darin nicht nur der Staat als objektive Instanz des real existierenden Gewaltmonopols, sondern die wirkliche Gesellschaft in ihrer kapitalistischen Ordnung überhaupt.
Mag es auch im ersten Moment ganz lustig erscheinen, wenn sich »politisch« gebärdende Menschen sich als »Piraten« bezeichnen, so sind nichtsdestotrotz solche Formen vermeintlich neuer digitaler Politikmodelle eigentlich nur Konsequenzen dessen, was ohnehin passiert, und insofern einfach die postfordistische Neuauflage des Mythos der Maschine, der die Moderne seit ihren Anfängen begleitet.

Einem berühmten Gerücht zufolge soll ein führender Manager von IBM noch wenige Jahre vor der bahnbrechenden Entwicklung des PC selbstsicher prognostiziert haben, dass es nicht mehr als sechs Großrechner geben werde, um weltweit sämtlichen informationstechnologischen Bedarf abzudecken. Diese Vision orientierte sich an der Idee des Computers als intelligenter Zentralmaschine, die nur in der Bündelung der Rechenleistung ihre Kapazitäten voll zu entfalten vermag, und folgte damit dem fordistischen Kalkül ökonomischer Effizienz: Mit der Instrumentalisierung der Vernunft, sollte die kalkulatorische Logik der Produktion auf die gesamte Gesellschaft und ihre politische Organisation übertragen werden – und zwar durchaus als offensive Realisierung der Demokratie; geplant war die Um- und Durchsetzung des Vernunftstaats als Verwaltungsapparat. Gerade diese derart technologisch verwaltete Welt sollte indes die freie Entfaltung des Individuums gewährleisten: der Mensch des Maschinenzeitalters als, wie Lewis Mumford es nannte, »objektive Persönlichkeit«.
Solche Individualität war nur möglich als Konformität mit der Massengesellschaft, als Anpassung an den Apparat; die Standardisierung der Warenproduktion wurde zum allgemeinen Prinzip sozialer und politischer Organisation des Lebens. Standardisiert wurde auch das kollektive politische Bewusstsein, es wurde die Politik des demokratischen Individuums auf die bloße Meinung verkürzt. Gerade die Überantwortung rationaler Entscheidungen an die Maschine sollte die politischen Freiheiten des Menschen schützen und garantieren. Dem Individuum wurde eine konsumistische Wahlfreiheit – zwischen Produkten, zwischen Parteien – überlassen; für den Ernstfall allerdings waren die Maschinen zuständig, die mögliche menschliche Fehler ausschließen sollten. Vollends sollte dies mit dem Informationszeitalter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwirklicht werden – die Utopie der technologischen Rationalität war fortan, die menschliche Dummheit durch künstliche Intelligenz abzulösen.
Die spektakulären Inszenierungen solcher Gesellschaftsformen finden sich im Science-Fiction-Film, insbesondere in den B-Produktionen: In mal positiven, mal negativen Zukunftsvisionen kommt »der Staat« im herkömmlichen Sinne hier zumeist nur als barbarische Ruine oder feudal-monarchisches Relikt vor, etwa wenn weise alte Männer in antiker Kleidung sich zum Senatsrat zusammenfinden. Auch hier ist die eigentliche politische Entscheidung den Rechenmaschinen überlassen, wie es in Filmen von »Forbidden Planet« über »Logan’s Run« bis »Zardoz« und »Star Trek« vorgeführt wird.

Der Staatscomputer mutierte schließlich zum Computerstaat, womit sich Teile der Machtkritik in die Technikkritik verschoben. Gerade unter dem Vorzeichen der sprunghaften Entwicklung kybernetischer Maschinen im Zuge der so genannten mikroelektronischen Revolution der späten siebziger und postmodernen achtziger Jahre wurde Herrschaft nicht mehr nur als soziales, sondern vielmehr als technisches Verhältnis gedeutet – als dispositionale Anordnung von Überwachung und Kontrolle. Gleichzeitig wurde jedoch die Identifikation von Überwachen und Kontrolle mit Herrschaft konterkariert durch die Idee der Möglichkeit technologischer Freiheit, die sich mit der sukzessiven Einführung des Personal Computer etablierte. War zunächst der PC ein persönliches Werkzeug beziehungsweise die technische Verlängerung dessen, was im Zeitalter des Individualismus noch an Persönlichkeit übrig war, vollzog sich in den neunziger Jahren die Transformation der Persönlichkeit in den Computer selbst. (Auch hier kann auf Sience-Fiction-Filme verwiesen werden, die diese Entwicklung begleitet haben, allen voran freilich »Matrix«.)
Angesichts der technischen Möglichkeiten, die digitale Vernetzung auch politisch zu nutzen, verwundert es nicht, dass der Staat und die an ihm haftende politische Ideologie mehr und mehr überflüssig zu werden scheinen. Präsent ist der Staat nur negativ, als Zensurinstanz und Sittenwächter. Was sich dagegen als Kritik formuliert, geriert sich als neue Version der Aufklärung, nämlich einer Mündigkeit, die sich vollständig aus der informationstechnologischen Rationalität des Web 2.0 und seiner Applikationen begründen will. Die davon abgeleitete und dem zugleich untergeschobene Idee der »Liquid Democracy« ist selbst nichts weiter als ein technisches Verfahren, open source, das mit open society verwechselt wird.
Im Prinzip zeigt sich hier das, was Gilles Deleuze vor 20 Jahren im Anschluss an Michel Foucault die Kontrollgesellschaft nannte: »Was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt.« Die Hacker von einst operierten noch an den Barrieren, durchbrachen Sperren, fanden Lücken im digitalen System des Ein- und Ausschlusses. Nun kehren sie als Piraten wieder, deren Freibeuterei einzig und allein darin besteht, sich in einem imaginären Szenario permanent dieser universellen Modulation zu unterwerfen. Sie propagieren den freien Tausch gebrauchsloser Informationen als Politik und affirmieren damit eine Gesellschaft, die sie zugleich in der Technik aufgelöst wissen wollen. Solche politische Partizipation in ihren digitalen Formen verteidigt mit dem Postulat der »Liquid Democracy« nicht mehr als die freiwillige Liquidation des Subjekts.